Magnum

Erzählung
2004

Gestern haben sie Higgins beerdigt. Vielleicht war es auch schon vorgestern. Ich weiß es nicht genau, es stand in einem Brief. Jonathan Quayle Higgins the IIIrd starb in seinen Achtzigern – zwanzig Jahre waren zwischen uns, jetzt weiß ich Bescheid. Das Begräbnis fand nicht auf der Insel statt; nicht auf dieser jedenfalls, sondern drüben, in England. Man sagt nicht: auf England, sondern: in England. Man sagt nicht: in Hawaii.

Durch die Fensterfront sehe ich auf den Rasen, der zur hinteren Grundstücksgrenze hin ansteigt. Er ist sehr grün. Er ist für jeden, der noch nie auf Hawaii war, unvorstellbar grün. Es gibt Cadmiumgelb und Preußischblau. Hawaiigrün gibt es nicht. Nicht einmal in den Malkästen für Schüler und Sonntagsmaler, die in den Supermärkten bei den Zeitschriften liegen, sind Farbtöpfchen mit Hawaiigrün enthalten. Ich habe nachgeschaut. Ich habe das, wie es in der Detektivsprache heißt: herausgefunden.

Die Grundstücksgrenze ist nicht von Menschenhand gemacht (oder sagt man: gezogen?). Mehrere sehr alter Bäume stehen nebeneinander aufgereiht und als reichten sie sich tatsächlich die Hände, ragen ihre waagerecht aus den Stämmen herausgewachsenen Äste ineinander, sind oft umeinander weitergewachsen. Die weiten Lücken dieses Flechtwerks füllt überall der Farn. Ich mag den Anblick der Grundstücksgrenze. Seit vielen Jahren schaue ich gerne dort hin: der hawaiigrüne Rasen zuerst und dann der andersgrüne Farn, der in den dunklen Rahmen lebt, die gebildet werden von den Stämmen und Ästen, beides in etwa gleich schlank (oder nennt man es bei Bäumen rank?). Und das Holz dieser Bäume ist so, daß ich es gerne anfasse. Abends, wenn das Haupthaus einen langen Schatten wirft und den hinteren Rasen soweit abgekühlt hat, daß ich barfuß darüber gehen will, zieht mich das Holz der Grundstücksgrenzbäume an. Es glänzt dann schon vor Nachtfeuchte, die Küste ist nah. Vom eingesaugten Wasser ist die dunkle Farbe des Holzes nicht mehr vom Schwarz zu unterscheiden. Trotzdem fühlt sich die Rinde knusprig an und warm. Und der Farn raschelt.

Vor Wochen stand ich einmal gerade dort, etwas links, von der Mitte aus gesehen, vielleicht hatte ich meine Augen geschlossen gehabt, wahrscheinlich aber nur auf jenes unendliche Unscharf eingestellt, dabei das Holz gefasst, nicht umklammert, sondern bloß angefasst, und wie es in den Detektivgeschichten heißt: da hörte ich ein Geräusch. Jemand kam barfuß über den Rasen auf mich zu. Die Hunde hatten keinen Laut gegeben, es konnte also nur jemand sein, der ihnen vertraut war – aber Higgins war zu einem Veteranentreffen nach Indien gefahren; Mister Masters informierte uns Wochen im Voraus über einen geplanten Aufenthalt in seinem Haus; wer also, wer?

Die Frau war in einiger Entfernung stehengeblieben. Sie war, wie es in den Detektivgeschichten heißt, wunderschön. Ihre Kleid war aus Seide, es spiegelte die Sterne. Das Haar trug sie zurückgekämmt, sie schien vom Halbmond gekrönt.

Ganz an mich herangekommen war sie dann mit Schritten, die von ihr wirklich so gesetzt worden waren, wie es in den Detektivgeschichten vom Gang schöner Frauen heißt: einen Fuß vor den anderen. Und sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, so daß – Detektivgeschichtensprache – kein Blatt Papier mehr gelangen konnte zwischen uns und mich so lange angeatmet und mir in die Augen sehen wollen, ununterbrochen, daß ich davon, von ihrem Schauen, betäubt wurde, meine Augen vor ihr verschließen wollte, nicht mehr stehen wollte, das Holz nicht mehr fassen wollte, sondern hinsinken, zwischen die Farnwedel, zusammen mit ihr.

Vor vier oder drei Jahren war ich zusammen mit TC hinausgeflogen nach der Insel Nihoa, nah am Wendekreis des Krebses. Wir waren dort, wie es in der Detektivsprache heißt: im Zuge der Ermittlungen gelandet, entdeckten aber, kaum dem am Strand gelandeten Hubschrauber entsprungen, einen so gewaltigen Koabaum, daß unser eigentliches Vorhaben davon weggewischt wurde (oder heißt es bei derart großen Dingen wie den Koabäumen: verdrängt?). Jener Baum war jüngstens fünfhundert Jahre alt, der Ursprung seiner vielen Stämme durchmaß etwa drei Meter. In seinem Schatten wucherten die auf allen Inseln der hawaiianischen Kette üblichen Erdbeeren (die allerdings blaß, beinahe weiß reifen), durchsetzt von den Stauden der Ohelo, deren Rispen voll hingen mit Beeren dicht an dicht. Selbst für jemanden wie mich, der schon sehr lange, oder für TC, der schon immer auf Hawaii lebt, ist es noch etwas besonderes, einen Koa zu sehen. Nicht, weil sie so selten zu finden sind. Sie sind sogar ausgesprochen häufig, den Kastanienbäumen in Europa vergleichbar. Aber aus dem Koaholz machten sich die Ureinwohner ihre Einbäume und Surfbretter. Und zwar, wie es in den Inselgeschichten heißt, streckte sich der Kahuna, ein Priester, unter einem entdeckten Koa aus und schlief ein. Träumte er von einer nackten Gestalt, so war dieser Baum ungeeignet, sein Holz faul. Hatte er aber einen bekleideten Menschen gesehen, fällte seine Gemeinde diesen Koa am kommenden Tag und die Schiffbauerarbeit fing an. In einer Detektivgeschichte wäre es nun so, daß wir uns um den Baum herumgehend über die Surfbrettherstellung der Ureinwohner Hawaiis unterhalten hätten. Und TC, als zwar nicht geborener aber gebürtiger Hawaiianer hätte in etwa Folgendes zu mir zu sagen gehabt:

„Wußtest du, Thomas, daß die Surfboards aus Koaholz viel länger waren als die heutigen? Nein? Sie waren teilweise fünf Meter lang, länger also, als eines der heute üblichen Windsurfbretter. Du meinst, ein solches aus Koaholz und nicht aus Kohlefaser oder Kunstharz gemachtes Board könnte den Wellen hier nicht standhalten? Dann schau, wie langfaserig das Holz dieses Baumes doch ist! Die Einbäume, die die Ureinwohner Hawaiis, die geborenen Hawaiianer daraus fertigten waren schmal, gerade Schulterbreit, dafür aber dreißig Meter lang und bis zu drei Meter tief.“

Um eine Detektivgeschichte weiterzuerzählen, hätte ich darauf in etwa Folgendes zu sagen gehabt:

„Ja, und diese Sträucher hier rings um den Baum: sind das die Ohelosträucher? Diese wässrig roten, tomatenfarbenen Beeren sind also die Ohelobeeren? Sie sind heilig, nicht? Sie schmecken wie Heidelbeeren, so habe ich gehört. Sie sehen Heidelbeern gleich. Aber heidelbeerfarben sind sie nicht, sondern tomatenfarben. Was mich nicht verwundert, denn die Erdbeeren auf Hawaii sind nicht Erdbeerfarben, sondern elfenbeinfarben, nahezu weiß.“

Und TC hätte mich, den Detektiv, zu unterbrechen gehabt, ungefähr so:

„So vieles ist anders hier auf den Inseln als anderswo und so vieles eben auch nicht. Du erwähntest die Ohelo – sie sind uns heilig, da hattest du recht. Auch was du über die Farben der Früchte vorgebracht hattest: genau so. Doch wie es schon in den biblischen Geschichten heißt, wandelt niemand ungestraft unter Palmen. Und deshalb iß die Ohelo nicht. Nicht jetzt jedenfalls.“

„Wann dann?“

„So will es der Brauch, daß du vor dem Verzehr einige Zweige abnimmst vom Strauch und sie in den Kilauea wirfst. Die Lavagrube gehört Pele, der Inselgöttin. Auf ewig gehören alle Ohelo ihr, die Kahuna haben sie ihr geweiht. Mit deiner Gabe sollst du Pele mit deinem Vorhaben versöhnlich stimmen, denn ansonsten…“

„Ja?“

Und zu dieser Zeit der Detektivgeschichte würde sich alles verengen auf nur noch uns beide, mich und TC und eine Ahnung vom Baum, dem Herumhüpfen und –flattern der Jiwis in seinen Wipfeln, während TC sagte:

„Sonst schleudert sie feuerrote Lava nach dir.“

Und daraufhin hätten wir, wie es in der Detektivsprache heißt: lange und beide geschwiegen wie zwei Steine, die voneinader das Nicken gelernt haben.

Aber es war damals alles ganz anders gekommen, der Tag war unerträglich heiß gewesen und wir hatten uns in den Schatten des Koa gelegt, uns mit den Erdbeeren und den Ohelo erfrischt, mit Bier aus der Hubschrauberkühltruhe auf Pele angestoßen. Darüber war uns der eigentliche Fall, im Zuge dessen Ermittlungen wir auf dieser Insel gelandet waren, zwar nicht entglitten, aber er war, wie es im Jägerlatein bezeichnet wird, ins Hintertreffen geraten oder sagen wir einfach: Wir hatten ihn verdrängt. Auch heute bringe ich den Sachverhalt nicht mehr recht zusammen, es ging wohl um den Streit zweier Touristen, ein Franzose hatte am Strand einen Marokkaner erschossen, weil der ihm den Schatten genommen hatte oder das Licht; detektivisches Kleingeld, wie es so schön heißt unter den Autobusfahrern Hawaiis.

Dies also war die kurze Vorgeschichte zum langen Ringen mit der Frau. Wir wanden uns liegend durch das Farngebüsch zwischen den ranken Stämmen der Grundstücksgrenzbäume. Über uns wurde es Tag und Nacht und darauf wieder Tag. Aus der Ferne, vom Haupthaus her hörte ich manchmal das Klingeln des Telefons. Ich dachte damals, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis Higgins zurückkehren würde, um mich aus den Umarmungen der Nackten zu befreien. Und das Auto war wieder einmal in der Werkstatt und es würde wieder einmal Tausende kosten und zu dieser Minute beschloß ich, es dort nie wieder abzuholen. Seine Farbe hatte mir nie gefallen, dies unentscheidene zwischen tomaten- und lavafarbene Rot. Und ich schwor der Inselgöttin, mir ein autofarbenes Auto zu kaufen und dazu noch sollte dies dann ein autoförmiges Auto sein. Und ich versprach es Pele, wie man es aus Detektivgeschichten kennt: hoch und heilig.

Und genau wie in einer Detektivgeschichte war ich im selben Augenblick frei.