Julia

Buchempfehlung
zuerst erschienen 2000 im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels

Schon allein, daß er Fragment geblieben ist macht diesen Liebesroman besonders. Wer will es schon wissen, wie eine Liebesgeschichte ausgeht? Berührend ist vor allem der Anfang, das Bezaubernde, Beschreibung einer schwerelosen Zeit bevor der sogenannte Alltag Einzug hält, mit allzu häufig viel zu vielem Gepäck. „Julia, oder die Gemälde“ ist vor allem die Geschichte eines solchen Anfangens, dieses Bezauberns – wie es danach weitergehen sollte, weiß nun keiner mehr. Arno Schmidt verstarb inmitten der Niederschrift – das heißt: noch nicht einmal bis an die Mitte der Geschichte schaffte er es mehr; das Typoskript endet auf der Hälfte der einhundertsten Seite mit dem Satz „Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens)Notwendigkeit?“. Am nächsten Morgen erleidet Schmidt einen Hirnschlag, wenige Tage später stirbt er. Ein Schriftstellerleben war – buchstäblich – in Arbeit zu Tode gebracht.

Das Herz des Lesers wird von diesem Roman auf zweierlei Weisen angerührt. Zum einen ist es die Liebesgeschichte, die darin erzählt wird: Der Schriftsteller Leonard Jhering, mitte 60, herzkrank und „klapp’rig“ verbringt Ferientage in einer niedersächsischen Pension. Bei einer Schloßführung entdeckt er auf dem Gemälde eines niederländischen Barockkünstlers die Darstellung einer etwa zehnjährigen Prinzessin. Und wie er das gemalte Mädchen betrachtet, muß er verwirrt feststellen, daß es lebendig wird. Julia gähnt – eine Abwandlung der Liebe auf den ersten Blick – von nun an spürt der alte Jhering manchmal eine kleine Hand in seiner Hand. Das Mädchen Julia begleitet ihn, er kann sie sehen. Julia versteht, was er zu ihr sagt, sie unterhalten sich, berühren sich: zwischen der meist Unsichtbaren und dem Schwindenden entsteht ein liebevolles Gespinst.

Bekanntlich plante Arno Schmidt, daß Leonard Jhering am Ende des Romanes in das Gemälde eintreten sollte, um dort, an der Seite seiner Julia, die Zeit zu überdauern. Doch auch ohne den Abschluß ist es diese Wunschvorstellung des Schriftstellers Schmidt, die „Julia“ zu einer bewegenden, an manchen Stellen atemschnürenden Lektüre macht. Von Anfang an nämlich wird es spürbar, daß hier einer bei schwindenden Kräften schreibt. Mit der Niederschrift begann er im Frühjahr 1979, der Text bricht ab nach dem Arbeiten des 30. Mai. Es war ein sehr kranker Autor, der sich hier ein letztes Mal ans Werk gemacht hatte. Und nicht allein das Motiv des Schwindens und Geisterhaften, des Verschwimmens von Wirklichkeit und Bildwelt, gibt zu verstehen, daß der herannahende Übergang für Schmidt längst zu fühlen war. So ergeht es Jhering: „plötzlich überfallen ihn ganz kurze scharfe Schwindelstöße – er hält sich an der nächsten Schulter und schreit dazu etwas in einer ihm unbekannten Sprache (3-5 sec lang)“ und so flüstert er mit Julia: „Ach, Du Mädchenfrau, daß ich endlich Deinen Atem holen kann!: was ich gedarbt hab‘!“ - Er flüstert wohlgemerkt mit einem Gespenst.

Diese Geschichte, die „Julia“ ebenfalls erzählt, ist kaum weniger berührend als die schiere Handlung des Romanes. Es ist die zarte, auch ängstlich vorgebrachte Begrüßung des Todes, eine schüchterne Umarmung der großen Müdigkeit – oder wie es Julia beim ersten Abschied tapfer ruft: „Wir seh’n uns dann gleich wieder, gelt?! -: Ich sitz‘ so lang und flecht mir meine Thränen durch die Finger! - Tschü-üs!!!“

Dieses Wiedersehen in Ewigkeit nach einem Übergang, das Eintreten in das Gemälde, auf welches die Handlung zusteuert, ist, obwohl nicht mehr ausgeführt, die Sehnsucht, von der „Julia“ getragen wird. Es ist die Sehnsucht des beschriebenen Schriftstellers Jhering, es war auch die Sehnsucht seines Erfinders Schmidt – wie wahrscheinlich von jedem, der schreibt. Liebe und Literatur stellen Ansprüche auf Engültigkeit: Wer schreibt will bleiben. Wer liebt, der will für alle Zeit so sein.

Ernst Jünger hat den Tod als „Zeitmauer“ beschrieben. In einer seiner letzten Tagebuchaufzeichnungen stellt er fest „bin nicht mehr ganz da. Die Träume sind nicht sehr präzise – eher Bewegung in großen Gesellschaften.“ Einem solchen Traum entspricht „Julia“. Es ist keine konzentrierte Liebesgeschichte, es ist ein milchig verschüttetes Panorama, das von Pensionsgästen, Teenagern, Schiffskapitänen und anderen Büchernarren bevölkert wird. Da es sich um einen Dialogroman handelt, erscheinen Jherings Momente mit Julia als Absencen, in denen er aus dem Kreis seiner Mitmenschen abtaucht, um sich – hinter der Zeitmauer, in der Dauer des Gemalten – mit den dortigen Wesen anzufreunden; er ist dann nicht mehr ganz da – aber ganz fort eben auch noch nicht.

Arno Schmidts Anspruch war es „die Nessel Wirklichkeit“ mit Händen greifen zu wollen. Seine schönste Definition für das menschliche Dasein lautet, wir seien wie „Schlafwandler auf einem 10=Meter=Sprungturm“. „Julia, oder die Gemälde“ ist auch von daher ein besonderer Roman Arno Schmidts, da seine Poetologie hier an Grenzen stößt. An die Grenze vielmehr, die Arbeit begann er bereits mit der Zeitmauer im Blick. Speziell für diesen Autor, der sich – durch Krieg und Gefangenschaft um die Jugendjahre gebracht – immer als „zu spät“ erkannt hatte, muß dieser Anblick fürchterlich gewesen sein. Doch verabreicht der nahe Tod auch milde Stimmung und so enthält „Julia“ zwar die für Schmidt charakteristischen Elemente von Drastik und Absurdität – aber die bisweilen grellen und häufig derben Schilderungen und Aussprüche wirken eher wie Beschwörungen, es ist, als bete er seine Geister herbei, um Stärkung zu erhalten, für das, was da auf ihn zukommt. 

So mag es zu erklären sein, daß „Julia“ unter den Schmidt-Lesern als eher schwaches Buch angesehen ist. Es ist ausgesprochen persönlich, schwach aber ist es keineswegs. Wer darin keine Fortführung der Spätwerke „Schule der Atheisten“ und „Abend mit Goldrand“ finden will, der kann, auch wenn ihm Arno Schmidt bislang vielleicht auch unzugänglich erschienen war, eine ergreifende Liebesgeschichte entdecken – und Jherings Flirt mit dem Engel weist lediglich auf diese hin: Ein Schriftsteller spürt sich gelockt zu dem Übertritt – fort aus dem Leben, ewig im Werk.