The Better Days Project

Erzählung
zuerst erschienen 2000 in Die Literarische Welt

Und als Barbara später am Neujahrstag immer noch nicht einschlafen kann, fühlt sie sich leer und schlecht. Sie macht sich einen Tee mit Zimtgeschmack, der nach nichts als nasser Pappe schmeckt und setzt sich auf die Lederliege im Wohnzimmer. Auf dem Glastisch vor ihr liegt ein Bildband, das Weihnachtsgeschenk von Kurt. 

„The Mullet, Hairstyle of the Gods“ heißt dieses Buch, in dem Barbara herumblättert, während sie eine Nummer in ein Telefon tippt. Sie blättert in den Seiten mit einer Hand, ist bald schon verwirrt, denn das Buch besteht aus Fotos von Männern, die Frisuren tragen wie der Tennisspieler Iwan Lendl, also raspelkurz über den Ohren, oben auf dem Kopf auch, aber vom Nacken an sehr lang; fransige Strähnen ringeln sich über ihren Schultern. Es sind alles Schnappschüsse. Warum schenkt Kurt ihr so ein Buch?

Barbara zündet sich noch eine Silk Cut an und redet auf den Anrufbeantworter ihres Vaters. Der steht in einem leergeräumten Haus - das kann Barbara natürlich nicht sehen. Sie sieht auch nicht die Maurer und Gipser und Installateure, die Wände verkleiden und Strippen ziehen schon seit Wochen und sogar heute, am Neujahrstag, denn die Renovierungsarbeiten sind etwas im Verzug und ein Assistent von Barbaras Vater setzt die Baufirma unter Druck. Der Anrufbantworter am anderen Ende von Barbaras Leitung steht im Eingangsbereich auf einem Eimer, unter einer Leiter, die mit leichter Plastikfolie behängt ist. Ganz leise unter den schabenden Kellen der Gipser und dem Rauschen ist Barbaras Stimme gerade noch zu vernehmen.

Hallo, hallo - bist Du da? Geh doch mal ran, ich bins Barbara. Erstmal guten Rutsch und diesen ganzen Blšdsinn, na ja, wahrscheinlich ist es bei Dir auch lange gegangen - O, ich habe übrigens deinen Anruf gekriegt. Es war so laut auf dem Band, das ganze Geschrei. Wie wars in der Paris Bar? Ich hatte gestern plötzlich so Panik, weil ich dann doch ausgegangen bin. Kurt hat mich eingeladen, ich dachte, sonst verpasse ich was. Das war dann in einer Bar - „The Better Days Project“. Du weißt schon: sieht genauso aus, wie alle anderen. Aber irgendwie anders. Eigentlich genau wie ein Prada-Laden. Aber nicht so grün und mit Teppich, sondern Betonfußboden, und die Wände sind rot. So ein spiegelndes, dunkles Rot. Überall gibt es da Kästen in der Wand, die sind aus weißem Plexiglas und dahinter wechselt das Licht seine Farbe. Zuerst Blau und dann Rosa und dann Orange und so weiter. In den Kästen sitzen auch Menschen, also die Gäste dort. So Kästen eben, in denen bei Prada die Unterwäsche hängt und von hinten angestrahlt wird; daä man gleich sieht, wie fein die Stoffe sind. Aber als ich das gestern Kurt gesagt habe, da hat er mir gleich erzählt, daß sie sich in der Agentur alle so gelacht haben, weil Du in einem Interview gesagt hast, daß Gott Prada trägt. Oder Gucci, ich weiß es nicht mehr richtig. Ist ja auch egal, aber er hat das trotzdem Heft dabei gehabt und mir gezeigt -  irgendeins aus Österreich, und da stand es dann auch tatsächlich da. Ich weiß ja, da§ Du solche Sachen sagen mußt, aber es nervt mich, daß mich alle immer dafür verantwortlich machen können, was Du tust und sagst. Nur wegen des Namens. Nerven stimmt ja auch nicht - ich war richtig erschrocken. Ich war erschrocken, weil Du so dünn geworden bist. Weil Du mich auf den Fotos total an Josef Beuys erinnert hast. Und das war ja nicht schlimm, aber mir ist eben plötzlich eingefallen, wie Du wirklich aussiehst. Und das ich dich besser kenne. Ich glaube gar nicht mehr an die Fotos. Auch nicht an die von Alice Springs, auf denen wir beide draufsind. Mit diesen blöden weißen Pullis. Weißt Du, wie oft ich verwechselt werde? Gestern hat mir jemand ein Buch hingehalten. Ich habe es dann trotzdem unterschrieben, obwohl es nicht von mir war. Ich bin so müde. Das hat schon vor Monaten angefangen. Das mit der Müdigkeit, meine ich. Immer denke ich, es ist nicht richtig wie ich lebe. Natürlich habe ich gestern dann ganz viel getrunken, es war ja Sylvester, das ist ja ein Anlaß. Aber neulich habe ich mir gedacht, daß ich keine Freunde habe. Ich kenne soviele Menschen, aber ich habe keine Freunde. Das ist nicht schlimm, denn den anderen geht es ja genauso. Immer ist irgendwo ein Essen. Da freue ich mich dann, gehe hin und jemand hat gekocht - kaum sind wir zusammen betrinken wir uns ganz schlimm und dann brüllen alle durcheinander - irgendwie können wir gar nicht anders miteinander reden als besoffen und laut. Das klingt jetzt scheiße: wir haben uns nichts zu sagen. Das klingt sogar superscheiße, aber es stimmt halt. Freunde habe ich dann, wenn ich verlassen werde oder abgetrieben habe. Dann ruft jemand an oder kommt vorbei und wir reden. Richtig reden, meine ich. Aber mir kann es doch  nicht immer schlecht gehen, nur daß jemand mit mir redet, nur daß jemand mein Freund ist und das auch zeigt. Mann, Mann, Mann - ich bin wirklich nicht so schlecht drauf, wie Du jetzt denkst. Bist Du vielleicht doch da und gehst nur nicht ran, weil ich so nerve? Nein, wahrscheinlich schläfst Du noch. Ist auch Okay. O Gott und gestern haben alle diese ironischen Brillen aufgehabt, die mit den orangefarbenen Wölbgläsern und da hat Stella gesagt, daran wäre ich auch Schuld, denn Du hättest damit angefangen, mit diesen Brillen. Ich meine, das gibt es doch überhaupt nicht! Ich war da aber schon zu fertig, um noch mit ihr zu streiten. Es, mmmhhh - zur Zeit nehmen alle dieses Ya-Ba. Das sind so Tabletten aber kein Ecstasy, viel älter. Angeblich haben die Nazis die auch schon genommen, um länger wachzubleiben im Krieg. Die sind jetzt wieder da. Man kann sie kaufen. Sind schwierig zu bekommen, aber das ist ja gerade der Reiz, sagt Kurt. Wie originell. So war also mein Sylvester im Better Days Project: Um mich herum stehen lauter Psychopathen, Orangenbrillen, die ich auch noch kenne, die meine Freunde sind, und alle nehmen Nazi-Pillen und reden und reden und sagen immer wieder: „Uh baby, it feels like the music sounds better with you“ - wie in diesem Hit, weißt Du, und zwar genauso, mit der gleichen Melodie. Als Zitat quasi. Und lachen darüber, immer wieder, bis es hell wird. Dann fahren alle weg, in Gruppen. Die Gruppen entstehen dadurch, daß in ein Taxi immer nur vier Freunde dürfen. Die Taxis fahren die Freunde nach Hause. Irgendwohin, in eine andere furchtbar schön eingerichtete, riesige Altbauwohnung, die genauso aussieht wie meine oder deine. Ich könnte dort überall leben, es ist alles so egal. Überall Habitat und Prada und Celestial Seasonings. Gucci ist ja weg, Gottseidank. Und an diesen Morgen werden immer Photos gemacht, für die ich mich schäme, wenn ich sie von der Entwicklung abhole. Niemand ist nackt oder so. Aber die Gesichter - das hat man aber wieder vergessen, wenn man wieder vor den Taxis steht, um noch zu irgendeinem Freund nach Hause zu fahren. Weiterfeiern. Und heute morgen sind Stella und ich beim Einsteigen plötzlich übriggeblieben. Wir waren eine Zweiergruppe, die übrig war. Und alles was ich dann wollte, war wie dieses Lied, daß Du mir immer vorgesungen hast, als ich acht war oder sechs und wir den ganzen Sommer in Juan le Pins auf der Terrasse saßen. Immer waren Leute da zu Besuch, und ich habe Pfirsichlimonade bekommen. Da hast Du mir oft dieses Lied vorgesungen. Weißt Du noch? 

La marguerite a fermé sa corolle

L’ombre a fermé les yeux du jour

Belle, me tiendras-tu parole?

La marguerite a fermé sa corolle 

Ouvre ton coeur mon amour

Ouvre ton coeur, jeune ange, ma flamme

Comme une fleur s’ouvre au soleil

Ich habe geheult heute morgen, als mir das eingefallen ist. Das war aber erst im Taxi. es war hell, hinten auf der Rückbank lag Stella und hat mich die ganze Fahrt über angeschrien. Die war so am Ende, daß sie schon nicht mehr richtig sitzen konnte. Sie hat mich angeschrien, daß ich immer so schlecht drauf sei, daß ich immer so ein Gesicht machen würde. Aber das Leben sei doch schön! Das hat sie immer und immer wieder gesagt, aber ich habe sie kaum verstehen können, weil ich vorne saß und heulte, und weil sie nur noch gelallt hat wie ein altes Tier. Das Leben sei toll, es gebe doch Blumen und so weiter. Und die ganze Zeit habe ich gedacht, warum das Taxi so langsam fährt. Fahrräder haben uns überholt von links und rechts. Das war alles so, so - Gott, ich bin so dermaßen wasted. Ich mache jetzt besser Schluß. Ruf mich an. Bitte.