Arbula

Interviewportrait
zuerst erschienen im November 2012 in der NZZ am Sonntag

Es ist nicht einfach, den zukünftigen Publikumsliebling namens Arbula ausfindig zu machen. Das Stammesoberhaupt der Surma leb in einem Dorf nahe der Siedlung Kibish, zweieinhalb Tage im Jeep von der äthiopischen Hauptstadt Addis Ababa entfernt. Anders als die im Südosten des Omo-Tales beheimateten Hamer leben die Surma noch weitgehend vom Tagestourismus ausgespart. Bislang haben weltweit nur drei Fotographen das Leben dieses Stammes dokumentiert. Die zweihundert Touristen, die in den Sommermonaten die Siedlung ansteuern, bleiben selten länger als zwanzig Minuten, um die Gesichtsbemalung der Surmakinder zu knipsen. Die Surma leben bis auf ein wahlweise lilafarbenes oder tannengrünes Umhängetuch unbekleidet. Schuhe gibt es nicht. Fußball wird nackt gespielt. Verheirateten Frauen wird im Alter von zwanzig Jahren ein waagerechter Schnitt zwischen Unterlippe und Kinn angebracht. Die Öffnung wird dann über ein Jahr mit Tontellern ausgeweitet. Die Größe des Tontellers symbolisiert den Umfang der Rinderherde. 

Spanische Touristen machten nach ihrer Durchreise holländische Fernsehproduktionsfirma eyeworks auf das Potential der Surma aufmerksam. Eyeworks ist mit einem internationalen Netz von Produktionsfirmen auf sogenanntes Reality-TV spezialisiert; Erfolgstitel zeigen die höllische erste Woche in der Ausbildung junger Köche, oder versprechen „Verwöhnte Zicken für zwei Wochen im Busch“. Vor einiger Zeit - die Surma selbst besitzen keinen Zeitbegriff, Arbula sagt von sich, er sei vor 65 Jahren geboren; schriftliche Aufzeichnungen existieren nicht - kamen Leute von der Produktionsfirma und machten Arbula ein Angebot: Er, seine Frau, ein Freund seiner Wahl und dessen Frau dürfen drei Wochen nach Europa, Spanien: alles wird bezahlt. Dazu bekommt jeder noch 15 000 Birr. Im Gegenzug lebt eine spanische Familie auf Kosten der Surma für drei Wochen dort. Zusätzliche Birr waren nicht zu bezahlen, dazu ludt die Firma eyeworks ein. Dort, in Spanien, wie hier in Kibish würde alles gefilmt werden. Dieser Teil des Deals blieb bis heute abstrakt, weil die Einwohner von Kibish weder über Fernsehgeräte, noch über Computer verfügen. Es gibt von dort aus auch keinen verläßlichen Zugang zum staatseigenen Mobilfunknetz. Eine Kirche befindet sich erst im Aufbau - für äthiopische Verhältnisse eine rare Ausnahme. Der Priester der orthodoxen Kirche, die vorerst in einem blauen Zelt am Rand der 25 Meter breiten Hauptstraße untergebracht ist, sitzt den Nachmittag über im Café zwei Lehmhäuser weiter und begrüßt seine Gemeinde aus vorwiegend Oromo, die hier in Kibish ihre Kiosks betreiben. Während der Priester dort gezuckerten Tee trinkt, sprechen die Surma im Brauhaus nebenan dem tagesfrischen Tej zu. Entweder aus Blättern und Hefeteig, oder aus Honig gegärt. Dazu versammelt man sich in einem abgedunkelten Raum und redet sich laut von der Seele. Die Umsitzenden müssen nicht nur, sie sollen dabei nicht zuhören. Eine sehr effektive Gruppentherapie avant la lettre. Die Surma für das christlichen Gedankengut zu gewinnen, fällt schwer, so der Priester: Arbula habe sich nach seinem ersten Gottesdienst beschwert. Den Surma war es zu ernüchternd. Monoton ist ihr Leben, das jeden Morgen von neuem beginnt, sowieso. In Spanien sieht man Arbula, die Frauen und den mitgereisten Stammesoberen Tamaru dann auch vorwiegend in provokanten Situationen und auf der Suche nach dem nächsten Thrill - auf dem Golfplatz etwa, beim Stierkampf oder beim Herrenschneider. Wie mir Arbulas Frau erzählte, gefiel es den Spaniern in Kibish nicht halb so gut: Die erste Woche kauerten sie in der Hütte und weinten. Sie haben nichts gegessen, nur Wasser aus den Flaschen getrunken.

Arbula, hatten Sie zuvor schon einmal ihr Dorf verlassen?

Nein. Seit es das Dorf gibt, gefällt es mir hier sehr gut. Ich gehe gern auf der Straße spazieren. Ich spreche gerne mit anderen. Manchmal sehe ich jemanden, den ich noch nicht kenne, oder schon lange nicht mehr gesehen habe.

Wie sah es aus, als Sie in Amsterdam aus dem Flugzeug kamen?

Mir gefiel es schon im Flugzeug sehr gut. Ich saß am Fenster. Ich sah die kleinen Dörfer. Ich sprach zu mir selbst: Wie können da Menschen leben? Es war alles so klein! Und ich habe sehr viel Wasser gesehen. In Europa sind dann alle in den Fahrstuhl gegangen, also bin ich hinterher.

(Die Sprache der Surma verwendet häufig Lautmalereien; hier ahmt Arbula Geräusche einer Turbine nach:)

Ein schreckliches Geräusch in meinem Kopf!

Wie gefiel Ihnen die Stadt?

Das Wetter war umgeschlagen, als wir Amsterdam erreicht hatten. Dort herrschte Regenzeit und es war sehr kalt. In der Nacht musste ich mich in eine Decke wickeln, darunter war ich im Schlafsack - nur meine Augen schauten in die Kälte hinaus. Erst in Spanien gefiel es mir besser. Da war es warm.

Und sonst?

Ich besuchte die Schule für Stierkämpfer. Die besaßen eine große Menge Rinder. Der Stier gefiel mir sehr gut. Ich fragte das Oberhaupt der Schule, ob es möglich sei, daß er mir einen seiner Stiere nach Äthiopien schickt. Die waren so schön groß und die Kühe geben viel Milch.

Ist die Milch gut?

Ja, sehr.

Und das Fleisch?

Ach, da gibt es überall Fleisch! Und vor allem: eine Menge verschiedener Fleischarten. Man weiß nie, welche Art Fleisch man bekommt. Einmal war ich im Supermarkt und sehe Elefantenfleisch! Das hat mich sehr wütend gemacht. Ich bin noch immer wütend. Menschen, die Elefantenfleisch essen - solche Menschen mag ich nicht.

(Das Fleisch der Rinder wird von den Surma roh verzehrt. Beilagen spielen eine tertiäre Rolle. Alkohol scheint wichtig. Das wurde von der Produktionsgesellschaft klar erkannt und somit erhielten Arbulas Leute während der Dreharbeiten in Spanien bereits zum Frühstück Bier in Literflaschen. Seitdem geht ihm das Wort Cerveza über die Lippen.)

Wie gefiel Ihnen der Anzug, den Sie beim Schneider bekamen - Sie tragen ihn nicht?

Fand ich alles sehr gut. Auch das T-Shirt und die Hosen.

Tragen Sie die ab und an?

Manchmal. Die Leute sagen, ich sei ein Freund der Ferenji, denen von der hellen Haut. Früher war ich nur Oberhaupt. Jetzt gelte ich als reich. 

Hat die Reise durch Spanien Ihre Macht im Stamm verstärkt?

Davor habe ich viel Donga gefochten, jetzt bin dafür zu alt. Mein Bruder ist gestorben. Ich war in Europa, die Leute nennen mich Oberhaupt. Ich bin das Oberhaupt.

Wie haben die Spanier Sie begrüßt?

Ich mochte die Kinder sehr. Sie waren überall und riefen unsere Namen: Arbula! Tamaru! Den ganzen Tag. Die Menschen dort hatten noch nie zuvor schwarze Menschen zu Gesicht bekommen. Sie schauten uns an, wie wir es von den Touristen kennen. In Madrid haben sie wirklich eine ganze Menge. Viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Ich bin überall hingegangen, auch in einen Nachtclub. Dort habe ich getanzt. Ich habe die Sängerin auf der Bühne um das Mikrophon gebeten und dann ein Lied vorgetragen, mit dem ich von mir sang, Arbula, von den Surma in Äthiopien. Das war alles gut, aber dann kam ich an den Ort, an dem sehr schlimme Dinge geschahen. Die mich wütend machten. Ich bin noch immer sehr wütend.

Schlimme Dinge welcher Art?

Wir waren in einem Lokal, wo Bier getrunken wurde. Allen gefiel es gut, aber dann gingen wir in einen anderen Raum, dort sah ich die schlimmen Dinge: Da war eine Frau mit großem Hinterteil, sie hatte keine Kleidung an. Eine der mageren Frauen war auch dort - ebenfalls ohne Kleidung. Zwischen den beiden lag ein Mann. Ich kam aus Äthiopien - noch nie zuvor hatte ich etwas derart Schlimmes gesehen. Das gibt es dort nicht!

Sie meinen Prostitution?

Ja. Das lehnen wir ab.

Prostituierte verkaufen ihren Körper, um an Geld zu kommen.

In Madrid sind viele arm. Die Menschen dort standen auf der Veranda und fragten mich nach Geld und Essen. Einmal nahm ich eine Münze und gab sie zwei Menschen, die nichts hatten. Sie sollten das Geld teilen. Ich sah, daß es nicht nur in Äthiopien bettelnde Menschen gibt, sondern viele auch in Spanien. Jetzt sage ich: Ich bin nicht mehr arm. Ich besitze viele Rinder. In Europa habe ich Menschen gesehen, die waren sehr arm.

Sie waren auch länger in Marbella - wie gefiel es Ihnen am Meer?

Ich war dort das erste Mal am Strand. Die Leute dort benehmen sich wie die Verrückten. Alle betrunken, sie liegen im Sand herum. Sie schlafen nicht, sie warten darauf, daß ihre Haut dunkler wird. In der Hitze, ohne Schatten! Die Frauen ziehen alles aus. Am Strand entdeckte ich eine Frau, die war dünn und groß. Das mag ich, also mochte ich sie. Ich sprach sie an. Ich hatte mir beim Motorbootfahren die Hand verletzt, also verabredeten wir uns für einen anderen Ort für eine Massage. Sie fasste meinen Körper an. Ich sah sie an, sie war eine Schönheit für mich. Die Massage tat mir gut, die Frau gefiel mir immer besser - ich wußte einfach nicht, was ich mit ihr machen sollte. Wir tranken dann Bier aus großen Gläsern. Irgendwann hatte ich genug vom Trinken und Tanzen, dann ging ich alleine weg.

Wie verlief die Unterhaltung?

Am Anfang sprach ich nur mit mir selbst. Ich konnte nur verstehen, was sie mir mit den Augen sagte. 

Hat Ihnen die spanische Küche geschmeckt?

Die Fischgerichte waren sehr gut! Meine Leute haben gegessen wie die Löwen. Und die Fahrt mit dem Boot gefiel mir sehr gut. Zuerst hatten sie uns das Bananenboot gebracht, es kippte andauernd um.

Können Sie schwimmen?

Nein. Aber ich hatte die Weste an. Das Wasser ist voller Salz, man kann es nicht schlucken - nicht gut.

Wissen Sie, weshalb alles gefilmt wurde, was Sie in Spanien erlebt haben?

Keine Ahnung. Es gab eine Übersetzerin und es gab einen Anführer der Spanier, der uns genau erklären ließ, was wir im einzelnen tun sollten. Aber wir haben den Film nie gesehen. 

Haben Sie Lust, noch einmal zu verreisen?

Wenn wir eingeladen werden, kommen wir gern.

Haben Sie etwas von den spanischen Gebräuchen in die Surmakultur übernehmen können?

Die Spanier haben hier viel von uns gelernt. Sie blieben einen Monat bei uns, sie schliefen in der Hütte, ohne Bett, wie wir auf dem Boden mit dem Kuhfell. Sie haben gelernt, ein Beet anzulegen, wie das Wasser vom Fluß zu den Hütten gebracht wird. Sie brauchten keine Toilette, wir zeigten ihnen den Busch. Sie zogen sich genau so an wie wir. Also wenn die Leute freundlich sind, habe ich nichts gegen Besucher in Kibish.

Im Gegensatz zu den besuchten Europäern hat Arbula den Lebensraum seiner Leute dank seiner Erfahrung mit Bedacht gewählt. Hinter einer Wegbiegung findet sich im Busch nach dem Ortsende ein erstaunlich reißender Fluß voller neugierig knabbernder Fische, der den Einwohnern als Wasserquelle, Fischgrund und Badestelle dient. Traditionell leben die Surma nicht seßhaft. Sind die Weidegründe erschöpft, zieht der Stamm weiter. Seit die Surmasiedlung vor ungefähr vier Jahren um die Kioske, das Café und eine Schule erweitert wurde, findet sich kein Anlaß mehr, um die Wohnsitze des Stammes zu verlegen. Dazu kommen anhaltende Konflikte mit den Mursi, die ebenfalls auf dem Gebiet westlich des Omo-Tales siedeln. Das einmalige Potential der Surmakultur wurde nun auch von der äthiopischen Regierung erkannt. Die Planungen laufen auf ein Reservat hinaus, in dessen Grenzen die Surma gegen ein Eintrittsgeld besichtigt und besucht werden können. Von dem Fernsehhonorar beabsichtigt der Stamm weitere Kalaschnikows anzuschaffen. Der Sudan liegt lediglich 130 Kilometer entfernt. In dieser Richtung, 45 Kilometer von Kibish flußabwärts gesehen, bewirtschaften die Surma ihre Goldmine. Dort wächst auch der Baum, dessen Äste zur Herstellung der Donga-Stäbe geeignet sind. Wie Goethe das über Bethlehem schrieb, erscheint die Welt der Surma für den verweilenden Besucher: „so klein, und doch so groß“.

Wenn Arbula stirbt, wird sein ältester Sohn zum Oberhaupt der Surma werden. Arbula werden sie in sitzender Position begraben. Wie die Tradition es vorschreibt: an der Stelle, wo er aufgehört haben wird, zu atmen. Vermutlich nahe des Brauhauses. Oder im Küchengarten hinter der Hütte seiner zweiten Frau.