Die Stilfrage

Autobiographischer Essay
zuerst erschienen 2006 in der NZZ am Sonntag

Die Frage nach dem Stil hat sich mir erst vergleichsweise spät gestellt. Ich stammte ja aus einem sehr kleinen Dorf, nicht einmal zweitausend Einwohner, zwei Kirchen, davon die katholische nur schwach besucht. Kleidung spielt in der pietistischen Sphäre keine Rolle, Eitelkeit verbietet sich, der Mensch soll aber dem Schöpfer auch keine Schande bereiten, gewaschen sein, die Kleidung reinlich, das Haar heruntergekämmt. Unter solchen Menschen lebte meine Familie in dem Ansehen von Fremdlingen, wir waren „Hereingeschmeckte“, wie man es dort nennt. Der Hereingeschmeckte sticht sofort heraus, man erkennt ihn nicht bloß daran, daß er das Falsche anhat, sondern auch mit welchem Gesichtsausdruck er das tut; ob er zu schwitzen beginnt, während der Einheimische noch friert. 

Zu meiner Konfirmation, da war ich knapp 14, ging ich in graublauen Hosen, einem hellen Hemd mit schmaler weißer Krawatte und einem Jackett aus Seersucker-Stoff. Irgendwer aus der Verwandschaft war darin konfirmiert worden, die lebten in einer größeren Stadt unter mondänen Leuten und hatten den Seersucker an uns weitergereicht. Das machen ja nicht nur die Schwaben so, daß sie ihren Kindern für die einmaligen Anlässe nichts neues anschaffen, sondern etwas Gebrauchtes besorgen. Man nennt das dann Auftragen lassen. Die Pietisten des Ortes wiederum, für sie bedeutete die Konfirmation ihrer Kinder ein wichtiges Fest. Alle erschienen im dunkelblauen Cordsamtanzug mit weißem Hemd und dunkler Fliege. Ich trug den Seersucker auf. 

Nun ließe sich ganz leicht ein Stil-Trauma konstruieren: der Außenseiter im falschen Kostüm und so fort. Auch daß der Stoff des Seersuckers mit seinen blauen und weißen Streifen wie eine graphische Darstellung des Cordmaterials der anderen Anzüge war, fiel mir damals noch nicht auf. Wie bereits gesagt, hatte sich mir die Stilfrage erst vergleichweise spät gestellt; bei meiner Konfirmation kam ich mir dem Anlaß entsprechend gekleidet vor. Früh wünschte ich mir, älter zu sein. Mit grauen Haaren, so stellte ich es mir vor, sähe ich besser aus. Das Jackett machte einen guten Anfang zu meiner Alterung, von dem Sonntag an wollte ich es noch oft tragen.

Genau das aber ging ebendort nicht. Pietisten sind zwar friedfertig, doch gab es in dem Ort auch sechs Hochhäuser eines Württembergischen Siedlungsprogrammes. Die Jungs, die auf den Höfen dort und um die Bushaltestelle herumlungerten, die Gashebel ihrer Mofas aufdrehten oder Vaters Auto aus der Garage rollen ließen, fanden mich mit dem Jackett falsch angezogen. Es gefiel ihnen nicht. Homosexualität war nicht eben der Vorwurf, den sie mir machen mußten, innerhalb dieser Altersgruppe ist es aber einer, der sitzt. Ein Junge weiß dann, daß er bestraft werden wird. Mein Verprügeltwerden auf dem sogenannten Dreckberg hinter dem Häuschen der Bushaltestelle, unter anderem war das eine Schanze für die Fahrradfahrer, im Winter ein Abhang für Schlitten und Ski, konnte ich nur wenige Male ertragen, daraufhin änderte ich meinen Stil.

Die Geldgeschenke, die ich zu meiner Konfirmation erhalten hatte, waren in einer Stereoanlage umgesetzt worden. Die Schallplatten kaufte ich in dem Nachbarort bei „Elektro-Dittus“, nachts nahm ich vieles aus dem Radio auf. The Cure und Joy Division waren die Bands, deren Musik mir etwas bedeutete. Die Liedtexte ersetzten mir das alterstypische Schreiben eines Tagebuches, alles war hier bereits formuliert und da. Heute kann ich sagen, daß es das Aussehen des Sängers Robert Smith auf den Fotos war, angesichts dessen sich mir zum ersten Mal die Stilfrage stellte. Das dunkle Haar zerrauft, Gesichtshaut hell, mit Lippenstift verschmiert, die Augen umrandet, Kleidung unauffällig, die dunklen Farben, alles recht weit: Dieser Mann wurde mein Vorbild, mein Stilgott heißt ja bis heute noch Robert Smith.

Auch hier ließe sich noch vieles fälschen: Die Frage, wonach sich die Jungen der früheren Zeiten stilisiert hatten, läßt vor dem Auftauchen von Popstars und Filmschauspielern nur wenig Schluß zu, außer, daß sie sich womöglich an den eigenen Vätern orientiert hatten, an einem König, berühmten Dichtern, man weiß das nicht so genau, kann sich aber gut vorstellen, daß die früheren Jungs von ihren Vätern schräge Blicke einstecken mußten, wenn sie zu auffällig gekleidet erschienen, man konnte da noch nicht aus der Art schlagen. Mein Vater allerdings sah nicht im entferntesten aus wie Robert Smith, er war immer der allerunauffälligste geblieben, ein Jackett-Träger, schwarze Socken, die braunen Schuhe am Tag. Auch konnte ich sehr wohl zwischen den Gefühlen der Zuneigung für den Sänger Robert Smith oder denjenigen, die ich für meinen Vater empfand, unterscheiden. Auch wußte ich wohl, wer ich war. Nur wie ich aussehen sollte, das war mir zu dieser Zeit schleierhaft, denn mir stand alles frei zur Wahl gestellt.

Mein Haar war von seinem Wuchs her glatt, die Qualität so schlecht, daß einmal eine Friseurin das Lehrmädchen holen ließ, um ihr mein Haar als den Problemfall aus dem Buch vorzuführen. Damit meine Frisur der von Robert Smith ähnlich werden konnte, mußte ich aufhören, es zu waschen, dafür mit Kernseife behandeln: Die Strähnen wurden, einzeln gefasst, über das trockene Seifenstück gezogen, wie man es mit Geschenkbändeln macht, in die man Locken bringen will. Meine Haarfarbe wirkte unter dem Belag des Seifenabriebes stumpf geworden. Sein Ton war in das Gräuliche verblasst, doch kein älterer Mann würde eine solche Frisur haben wollen: Nach allen Richtungen von dem Kopfboden abstehend - dabei gab es das sogar damals schon in einer Zeitschrift zu lesen: die Frisur von Robert Smith sähe einer explodierten Matratze ähnlich.

Mit dem Rauchen anfangen, die erste Freundin, Ferien in ganz Europa mit dem Interrail-Ticket, mein Skateboard, dann Führerschein, das Ende der Schulzeit. Bei jedem dieser Einschnitte meines Lebens sehe ich an mir eine Frisur, ich höre ein Lied und seltsamerweise war es die ganze Zeit über die eine Blue-Jeans, die eine Sorte von Levis, in entsprechend vielen Ausgaben, erst waren sie blau, dann ausgebleicht, irgendwann mit Löchern über den Knien. Udo Jürgens hat die Jeans mit dem Smoking gekreuzt. Heute erscheint mir das als der beste, weil gleichzeitig verfeinerte und rustikale Stil für einen Mann. Nur eben nicht für mich. An jedem Tag ziehe ich dasselbe an: Helles Hemd, selten welche mit Mustern, im Herbst mit dunklem Pullunder, ein blaues, sehr weiches Cordjackett. Ich habe es vor fünf Jahren gekauft, für die Ewigkeit, wie es zuhause in dem Dorf heißt, an den Ellbogen ist der Stoff hell geworden, aber noch brauche ich die Flicken nicht, die aus einem Wildleder sein werden. Man könnte sagen, daß sich die Stilfrage für mich erledigt hat. Ich lebe auf eine solche Art, daß sie sich schlicht nicht mehr stellt - was auch heißen kann, daß ich meinen Stil gefunden habe. Die Suche danach hat von dem Tag meiner Konfirmation und dem Auftauchen Robert Smiths an gerechnet knappe zwanzig Jahre gedauert. Zu keinem Tag war es aber so, daß ich in das Tagebuch, das ich noch immer nicht führe, hätte schreiben müssen: Und wieder nichts!

Nie war es eine hektische Suche. Die Wandlung war stetig, hier fehlt: Natur. Es läge nahe, von einer Entpuppung zu schreiben. Weil alles, was ich dabei zurückließ - so wie man sich auf dem Weg von dem Badezimmer zu dem Bett gehend entkleidet - nicht Ballast war, sondern Epoche. Vieles habe ich zu Recht vergessen. In meiner Fotoschachtel jedenfalls habe ich ein Polaroid gefunden, darauf ist mein Haar hellblau gefärbt, ein anderes zeigt mich mit Hornbrille und angeklebtem Chinesenbart, noch eines, da stehe ich stoppelig rasiert in der Halle des Straßbourger Bahnhofes, es scheint eine Wintersonne und ich kneife das rechte Auge zu.