Im Schatten einer Sonne aus Eisen

Erzählung
zuerst erschienen 2001 in Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

I. Die Buchstabenfee

Du steigst in die Maschine, findest deinen Platz, sie hebt ab und du denkst: Endlich Russland. Da wolltest du immer schon hin. Warst ja eigentlich schon überall, nur Bhutan fehlt dir, der Südpol und Afrika, natürlich; Australien. Aber Russland – war es dir dort gleich zu kalt, oder war Russland dir zu groß, so wie du Berlin einfach zu groß findest. Oder hattest du nicht immer befürchtet, Russland sei Deutschland einfach zu ähnlich? Das wird es gewesen sein. Zu wenig anders, zu nahe dran.

Die Stewardess zieht den Vorhang zur Businessclass vor deinem Gesicht zu, dein Nachbar macht dazu einen Witz. Darauf sie: Eigentlich hängen wir sonst noch Poster auf, aber dazu haben wir heute keine Zeit. Und du denkst: Du heißt Deutschland und willst meine Mutter sein? Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich hasse. Wie sehr ich dich bemitleide.

Jetzt ist München weg, du siehst nur noch Wolken. Dann liest du eben in deinem Buch. In Moskau willst du landen. Eine Nacht im Hotel, zu Abend essen mit einem Freund, um nächsten Tags dann weiterzufliegen nach Magnitogorsk. Du findest, schon allein der Name dieser Stadt verspricht dir Großes? Du hast gelesen, dort, am Fuße des Uralgebirges gebe es einen dunklen Berg, den Magnitnaja, der bestünde aus Eisenerz so rein, dass dieser ganze Berg ein einziger Magnet sei? Dass die Holzfäller früher, als es dort noch Bäume gab im Umland, nach der Schicht ihre Äxte gegen den Berg warfen und die blieben dort kleben, bis zum nächsten Tag? Diesen Berg willst du unbedingt sehen. Und die Maschinenstadt drumherum, die auf Stalins Wunsch hin bis 1929 aus dem Erzboden gestampft werden musste und wurde. Das größte metallurgische Kombinat ganz Russlands; 60.000 arbeiten dort heute noch in den Hallen, entworfen von Ingenieuren aus Pittsburgh und dem Deutschen Ernst May.

Eingeflogene Ingenieure, ein Magnetberg, Hochöfen, Walzwerke, Pressen – du stellst es dir gigantisch vor. So ein bißchen Tarkowski und ganz viel Star Wars? Du wirst überrascht werden, Herzchen, soviel sei dir verraten.

Das Flugzeug schneidet eine Kurve abwärts durch die Wolken und so siehst du Russland zum ersten Mal: Birkenwälder so groß wie Berlin, Straßen breiter als Deutschland und ein glitzernder Fluss. Bunte Holzhäuser zwischen Wald und Ufer. Im Sommer muss es dort schön sein mit den Kindern. Im Flughafengebäude entdeckst du an der Wand ein Bild im Rahmen, es sind die Zahlen von eins bis zwölf. Einfach zwölf Zahlen, das gefällt dir auch gut. Du kriegst einen hübschen Stempel in deinen Pass zu den anderen.

Dein Fahrer versteht kein Wort von dem was du sagst, und dir geht es genauso. Ihr lacht viel während der Fahrt. Du siehst dir die Autos an, jeder zweite LKW ein Betonmischer. Alle eingebacken in Schneematsch wie graue Schnitzel;,dahinter glühen die Rücklichter. Die Sonne geht gerade unter und der Himmel über Moskau verflüssigt sich in Opernfarben. Du zündest dir eine Zigarette an, dein Fahrer raucht nicht. Du fühlst dich gut. Niemand überholt, die Fahrzeuge gleiten im Verbund dahin. Auf dich wirkt es, als stündet ihr alle still in einem Block und die Straße würde unter euch durchgezogen. Links und rechts von euch fahren sie jetzt die Plattenbauten heran. Und da kommt in blau und gelb IKEA. Die Schriftzüge sagen dir nichts. Du kannst die Werbung nicht mehr lesen. Dafür hat es jetzt gerade mal drei Stunden gebraucht.

Im Zentrum entdeckst du ein Riesengebäude, das aussieht wie der Kölner Dom. Nur viermal so groß ist es, und polarblau angestrahlt. Du fragst: Is this the Kreml? Dein Fahrer biegt ab und sagt: Hotel.

Mit dem Telefon in deinem Zimmer rufst du deinen Freund an. Alexander fragt: Where are you staying? Du schaust auf den Schlüssel, sagst: Ukraina. Er: Oh. Good. You can study erotic economics there. The hotel is occupied by prostitutes. Auf dem Telefonhörer fällt dir ein Schild auf: Dial 111 to block unwanted calls. Zum Essen trefft ihr euch um acht.

Das Zimmer sollst du nachts mit einer Sperrkette abschließen. Nie sollst du das Zimmer nicht mit einer Sperrkette verschließen, wenn du drin bist. Im TV siehst du Werbung für Pop-Up-Bücher, Liebestabletten, Deoroller, für Kinderspielplätze und Instantkaffee. Es gibt Kochsendungen. Neben dem Fernseher steht ein leerer Familienkühlschrank mit Gefrierfach, ausgesteckt. Hast du schon einmal ein so schönes Badezimmer gesehen? Nein? Schade. Die Handtücher sind weiß. Dein Vater hat immer, gestern erst wieder, gesagt, in Russland gäbe es kein Klopapier. Nimm Klopapier mit. Pack dir auf jeden Fall eine Rolle Klopapier ein. Dabei gibt es hier überall Klopapier. Auf jedem Klo übrigens, wie du es gewohnt bist. Wie es sich gehört.

Als du das Restaurant betrittst, sitzt Alexander schon mit zwei Freunden am Tisch. Sie geben dir einen Teller mit saurem Gemüse und fettem Fisch, der wie eine Mischung aus Hering und Aal schmeckt. The russian way of drinking. In eure Mitte stellt der Kellner ein umzäuntes Brett, so lang wie dein Unterarm. Es heißt auch Elle. Acht Gläser Wodka stehen darauf, jeweils zu 50 Gramm. Ihr nehmt euch die erste Runde. Kaltes Wasser, das dich wärmt. Alexander sucht ein Gericht für dich aus, etwas Typisches. Davor eine Suppe – sheep or borschtsch?

Unter Mehlsauce, die wie der Wodka schmeckt, schabst du etwas frei, das aussieht, wie das Stück eines Schweinegesichts. Das Gesichtsfleisch ist sehr zart. Daneben liegen Graupen, die nach Espresso riechen. Vor der zweiten Elle stellt dir Alexander deinen dünnen Tischnachbar vor. Er sei der wichtigste Literaturkritiker des Landes. Ja aber, fängt der seine Klage an, von seiner Wichtigkeit könne er leider schlecht leben. Deshalb mache er in seiner Freizeit für einen großen deutschen Verlag Redaktionsarbeiten. Sein Trost dabei sei, dass Burda im Russischen Scheißetrinken bedeute.

Dir ist schwindlig. Das sei normal und komme vom Wodka, meint Alexander. Der enthalte hier zu 68 Prozent Alkohol, das seist du nicht gewohnt. Er schenkt dir mit alkoholfreiem Brotbier nach. Du entschuldigst dich kurz, verläufst dich aber im Vorraum und landest nicht in den Toiletten, sondern einen Stock höher, in einem anderen Restaurant. Weiße Wände. Eine Front verspiegelt. Auf Ledermöbeln sitzen Männer in Anzügen und trinken italienischen Champagner. Eine Blonde im String geht vor ihnen langsam auf und ab. Sie trägt einen Umhang aus rotem Leder mit weißem Pelzbesatz, dreht sich knapp vor den Spiegeln um in den Raum.

An eurem Tisch unten hat inzwischen ein Akkordeonspieler Platz genommen und spielt für dich deutsche Lieder. Alexander singt mit. Dir wird es unangenehm. Du trinkst den Wodka, den man dir hinstreckt. When you enter Magnitogorsk, sagt Alexander in einer Liedpause, you will discover your germanness. Darauf trinkt ihr, du weißt nicht warum. Russia will make you experience your germanness. Den nächsten Wodka kriegst du nicht mehr vom Tisch. Sie holen dir ein Taxi, erklären wohin. Der Literaturkritiker gibt dir noch einen Satz mit auf den Weg: Rush bin gay! bedeute Fahr zur Hölle. Dann geht es nach Hause. Deine Freunde bleiben noch.

Nach so etwas schläfst du natürlich gut. Das wiederkehrende Klopfen an deine Zimmertür, das klingelnde Telefon die ganze Nacht durch – du hörst es nicht, nichts und niemand kann dich wecken.

Frühstück wird im Spiegelsaal serviert. Du streunst um das lange Büffet, aber auf den Platten liegt nur, was du noch aus dem Restaurant von gestern Abend erinnerst. Ganz hinten entdeckst du endlich Cornflakes, die sind dir doch sowieso das Liebste. Schade nur, dass die Milch, die du dir gerade darüber gießt, nach Schafswolle schmeckt. Isst du eben nichts.

Der Spiegelsaal führt in den Säulensaal, der in den großen Bankettsaal führt. Du stehst im Toilettensaal. Stalin sagt: Bald schon wird der Mensch wie eine Maschine sein. Macht mir darum größere Toiletten. Noch größere! Und der Koch legt gleich noch einmal zweihundert Eier mehr ins kochende Wasser.

Draußen ist es kalt und leer. Stalin meinte es überhaupt gut mir den Menschen. Die Straßen hat er so breit gemacht, dass du dich wie eine Laus fühlst. Die Autos klein wie Fliegenschisse, die Häuserzeilen sind Bordsteine. Du fühlst dich als Erdenbewohner. Jetzt sehnst du dich nach jemandem, der genau so klein ist wie du. Du denkst daran, wie viele Kinder du machen könntest. Du willst diese Erde bevölkern. Du willst leben. Einfach, ab jetzt.

Eine halbe Stunde gehst du die Straße hoch und schaffst gerade einmal sechs Häuser. Dein Telefon hat sich in ein anderes Netz eingeloggt. Nach sechs Häusern! So groß ist Moskau, jetzt weißt du Bescheid.

Ein Schaufenster, ein Plakat darin, darauf in schwarz auf silber: Treasurer – The Expensive Taste. Das hört sich gut an, da gehst du rein. Treasurer sind Zigaretten. Eine Aluminiumbox mit zwanzig Stück, Platinfilter, kosten 450 Rubel. Da greifst du zu. Vielleicht brauchst du die ja noch mal.

In einem Café ohne Namen stellst du dir die letzten Fragen, neuester Stand:

Was passiert eigentlich genau, wenn man LSD nimmt?

Wie fühlst du dich, wenn du sagst, du seist betrunken?

Was geschieht mit dir, wenn du dir Heroin spritzt?

Was spürst du, wenn du Nikotin inhalierst?

Wie lange dauert dein Orgasmus?

Nach einem Schluck Mineralwasser legt sich der Wodkageschmack von gestern wieder über deine Zunge. Du wirst nie wieder Alkohol trinken.

Deinem Fahrer willst du sagen, dass du sein Land schön findest, aber er versteht dich nicht. Du zeigst ihm deine betenden Hände, haust dir aufs Herz. Jetzt hat er etwas verstanden und wiegt sachte seinen Kopf. Zum Abschied schenkst du ihm zwanzig Dollar. Dort wo ich hinfahre, so denkst du, gibt es bestimmt nicht einmal Geld. Du hast Sand in den Augen, der bitter schmeckt. Jetzt kaufst du eben schnell etwas. Die Zeitschrift mit der Nacktkatze vorne drauf. Es geht dir sofort besser.

Dass dein Flugzeug eingeschneit auf einem Rollfeld in Sibirien steht, konntest du wirklich nicht ahnen. Auch nicht, dass es morgen noch dort bleiben wird. Du hättest zwei Tage länger im Ukraina wohnen können. Macht nichts, wartest du eben hier. Halbtot geht, halbschwanger nicht, aber halbwach: Du wartest, stehst, sitzt, legst das Buch weg, Augen zu. Dir fällt ein, wie wichtig Botho Strauß das Dämmern findet. Sein Dämmern. Ein Gesicht wird scharf, dann unscharf, so nah kommt es dir. Weiße Punkte fliegen auf dich zu. Ganz hinten denkst du: Ich werde ohnmächtig. Du starrst an die Decke, da hängt kein Ventilator, aber die Hubschrauber hörst du trotzdem und du denkst: Magnitogorsk. Und dann sagst du es laut.

Ihr seit 70 und ihr kennt euch vom Warten. Das Flugzeug besteigt ihr durch eine Luke unter der Heckflosse. Du warst noch nie in einem so engen Rohr. Einen freien Sitz findest du auch nicht, bleibst du eben stehen. Das stört hier niemanden. Die Stewardess gibt dir ein Bonbon. Kurz nach dem Start frieren die Kabinenfenster von innen mit Eisblumen zu. Manche bekommen eine Wolldecke. Dann verschwinden die Stewardessen, du kannst dir nicht vorstellen, wohin. Dir fällt ein Geräusch auf. Rechts draußen siehst du gelbe Schatten. Du hattest eigentlich nie Probleme mit dem Fliegen. Es wird unangenehm. Denn jetzt platzen die Fenster. Der Tod faucht herein zu euch und packt zu, wo er dich zu fassen kriegt. Er zieht dich raus. Dort ist es kälter. Du findest, der Fensterrahmen ist zu schmal für deine Schultern? Da hast du recht, deshalb trennt er dir auch beide Arme ab. Als Köpper stürzt du durch die Wolken. Du siehst Russland von oben. Ganz Russland. Du willst Russland umarmen, aber das geht nicht? Dann kommt Russland dir eben entgegen. Und zwar jetzt.

Du bist ganz blass. Du wirst durchsichtig. Du bist weg.

An eurer Absturzstelle werden sie außer euren Leichen noch ein paar Dinge finden. Du erinnerst dich an die zwei mit der Terrassentür? Eingecheckt als Bulky Luggage in Moskau. Die Tür wurde geröntgt. Und jetzt liegt sie da in tausend Splittern. Und Kartons mit Reiskochern, Koffer voller Zeug. Nur deine Tasche hat es in der Luft zerrissen. Hier liegen deine drei Hosen, sechs T-Shirts, vier Pullover, deine Kosmetik, dein Geld. Das Telefon hast du bei dir behalten. Dort liegt ein Buch. Das gehört auch noch dir und darauf steht: RELAX.

II. Der Berg

Du bist nicht abgestürzt. Du hast Shamin kennengelernt. Shamin, der dich an Björn Delf-Hein erinnert, mit seinen offnen Augen und dem Schmollen darunter. 49 Jahre alt, Musikproduzent. Er hat dir einen Sitzplatz im Flugzeug besorgt, dir das Schokoladentäfelchen aus seinem Bordmenü geschenkt. Er spricht Englisch, redet nicht zuviel, sitzt still neben dir und löst eins dieser japanischen Kreuzworträtsel. Er kann sich nicht vorstellen, was du in Magnitogorsk willst. Shamin: Magnitogorsk is a very interesting city. Very grey. Du verstehst ihn zuerst falsch, fragst, wie er das genau meint. Er: Alles dort habest du dir in grau vorzustellen. Himmel, Erde, Licht. Er reise dort nur hin, um ein paar Plakate zu kleben für ein Konzert von Irina Allegrova, den größten Popstar der Ukraine. Er schreibt dir eine Freikarte auf ein Stück Serviette und legt ein Fotokärtchen von ihr dazu. Ein Pornostar, der sich seinen Pornofingernagel an die Lippen legt.

Der Pilot lässt eure Maschine aus drei, vier Metern senkrecht auf die Piste fallen, wie man es beim Militär lernt. Danach wandert ihr über verschneite Rollfelder einer Tür im Zaun entgegen. Das Terminal ist dunkel, darüber siehst du eine Menge Sterne. Der Wind riecht nach Lötzinn. Shamins Freunde nehmen dich mit in die Stadt.

Die Straße ist glasig überfroren. Das Auto fährt nie schneller als 30. Du darfst rauchen. Draußen ist nichts. Seit sich dein Telefon bei Uraltel eingeloggt hat, bekommst du jede Viertelstunde eine Porno-SMS. Nachts auch, die fluten deinen Speicher. Mit Löschen bist du gut beschäftigt.

Dann eine Gedenksäule, Plattenbauten, ein Bowlingcenter. Dein Hotel. Valentino. Die Billardspieler stehen mit dem Rücken zu dir. Dein Zimmer findest du im ersten Stock. Hier hast du es endlich: das Toilettenpapier, vor dem dich dein Vater immer gewarnt hat. Pflasterfarben, unruhig gemustert, aus alten Umzugskartons gemacht. Ist doch gar nicht so schlimm. Du hast richtig abartigen Hunger.

Du hast also geglaubt, hier gäbe es leckere Dinge? Petersburger Schlittenfahrt – das hat ein Freund in Hamburg immer zu Silvester gemacht: Pellkartoffel mit Sauerrahm und einem Suppenlöffel Kaviar obenauf. Gibt es hier aber nicht. Nimmst du eben die Suppe. Sie ist klar wie Wasser. Da unten liegen zwei Hälften eines hartgekochten Eies. Obendrauf schwimmt Petersilie auf einer dicken Schicht Livio. Schmeckt doch nicht schlecht. Mit den Hälften des Eies stimmt etwas nicht. Du siehst keinen Dotter. Das Eigelb ist weiß. Der Übergang vom Eiweiß zum anderen ist durch einen blaugrauen Kreis markiert.

Schau mal: Dein Hotel ist ein Bordell, oder wie willst du das sonst nennen? Im Speisesaal leuchten die Servietten im Schwarzlicht. Der Wirt möchte jetzt, dass du eben mal in die Bar reinschaust. Du willst lieber Fernsehen. Allein. Dann kommt die Bar eben zu dir. Du verstehst ihren Namen nicht, hast dir gerade in der Nase gebohrt. Du sagst: Please, leave me alone. I’m married and just want to drill in my nose. Das versteht sie als Aufforderung. Mit ihrer Zunge. Du schließt dich in dein Zimmer ein. Die Bar willst du nie wieder sehen. Alles, was du willst ist ein Kuss und ein Keks, ins Ohr geflüstert bekommen. Aber das gibt es hier nicht. Nicht einmal für Geld.

Du wachst auf, schaust raus, siehst alles bei Licht. Ja was hast du denn gedacht? Klar wohnst du in einem Industriegebiet. Los, zieh dich an und besieh dir den Rest. Das Irre ist, das Industriegebiet hört nirgends mehr auf! Straßen und Bürgersteige sind mit Eis überzogen. In deinen Desert Boots fährst du bergab. Unten, hinter dem Fluss Ural siehst du es dann zum ersten Mal: das Werk. Die Schlote qualmen in den Fassadenfarben der Stadt. Hellgrau, Pfirsich, Ocker. Nachts leuchtet der Himmel jede Stunde in schönstem Rot auf. Wie ein Tuch wird das Rot durch die Nacht hochgezogen und verdunkelt sich von der Erde her langsam ins Schwarze. Stahlanstich in den Hochöfen. Der Fluss dampft auf.

Bereits 1929, im Jahr seiner Inbetriebnahme, übertraf das Werk die in es gesetzten Erwartungen und lieferte Rekordmengen Stahl. Zur Belohnung schickte Stalin einen Zug los von Moskau nach Magnitogorsk, beladen mit drei Tonnen Äpfeln. Da gab es natürlich kein Halten mehr. Im Zweiten Weltkrieg kam der Stahl für jedes dritte Projektil, für jeden zweiten Panzer aus Magnitogorsk. Heute lebt das Werk vom Blech. Für Coladosen und die Halterungen elektronischer Bauteile. Leider lässt dich das Werk nicht herein. Du kannst es umrunden, das dauert zu Fuß nur fünf Stunden. Mit der Straßenbahn eineinhalb. Der Zaun ist mannshoch und aus Beton, aber silbern angemalt, damit es wenigstens so aussieht wie Stahl. Obendrauf: Die schlimmsten Mannzerteiler der Welt. Meterhohe Sägeblätter bis zum Horizont. Wo Material übrig war, mit Natodraht umwickelt. Den Berg kannst du von hier aus nirgends erkennen. Du willst zurück.

Das Ehrenmal. In einem Stück, nahtlos, in Bronze gegossen. Davor die Gasflamme im Granitstern, fauchend im Wind. Die Moto-Cross-Strecke, das verlassene Stadion. Auf einem Turm ist die Zeit um halb acht stehengeblieben, vom anderen ist sie ganz verschwunden, die Zeiger haben sich davongemacht. Der Aquapark mit seiner gelben Spiralrutsche. Auf drei Metern endet sie im Nichts über dem Kies, anstatt wie früher im Ural. Du kannst dir den Sommer hier vorstellen. An manchen Fassaden hast du Klimaanlagen gesehen, es wird also heiß.

Der Stiefelmarkt, der Autoteilemarkt. Dazwischen der Prospekt, der Schaschlikstand. Kein Fuchs, kein Nerz, nicht einmal Hamster. Gefärbter Hase, chinesisches Kunstgewebe – daraus sind Mützen und Mäntel. Filzstiefel, Angelhaken, Deodorants. Die Palette des Angebots erschöpft sich im Allernotwendigsten: essen, nicht frieren, nicht stinken. Auf dem Markt darfst du nicht fotografieren. Davor warnt dich kein Schild, das findest du selbst heraus. Die Polizisten befragen dich auf russisch, blättern deinen Pass durch und diskutieren die Stempel anderer Länder. Nach drei viertel Stunden darfst du wieder gehen. Warum du den Markt nicht fotografieren sollst, hast du nicht verstehen können. Dein Pass ist ganz warm und weich. Du ekelst dich, steckst ihn schnell weg.

Du erntest verlegene Blicke. Oder ist es Neugier? Du bist so dressed-down wie noch nie – im Rahmen deiner Möglichkeiten. Deine Schuhe durchweicht, deine Hosen starren vor Dreck. Aber so wie die anderen wirst du niemals aussehen. Du müsstest dich verkleiden. Willst du das? Dann beschreibe mir den Look von Magnitogorsk! Unterscheidet er sich in einen für Männer und einen für Frauen? Oder haben sie, grob gesprochen, alle dasselbe an? Lenken dich die Mützen ab? Trüben die Rohre aus Fell dein Urteilsvermögen, oder hängt’s tiefer, in den Gesichtern? Ist es nicht so, dass für dich hier ab einem gewissen Alter Männer und Frauen sich ähneln? Du denkst an Platon. Du bist eine verlogene Sau. Das spüren die Menschen. Du beobachtest sie, meinst es nicht gut. Du schämst dich. Für dich auch noch dazu. Für deine Existenz, deinen Background.

Dann bleib doch hier! Tue Buße, lass dich nieder. Relax. Nein, damit änderst du nichts. Das alles hier ist stärker. Das Wetter, die Häuser, das Essen. Du kennst es anders, das ist dein einziges Problem.

Du liegst auf dem Bett und denkst an Cortazárs Rayuela. Lieben, Leben in Zimmern wie diesem. Jazzplatten, Mate, Zigaretten und so. Aber, da bist du dir sicher, selbst die größte, die innigste Liebe aller Zeiten, der Welt, kriegt Magnitogorsk an zwei bis drei Nachmittagen klein. Unter seiner Sonne aus Eisen. Mit Blick auf den Berg und die Schlote davor.

Du erinnerst das Experiment. Ein Plastiklöffel wird statisch aufgeladen und über das Häufchen einer Mischung aus Pfeffer und Salz bewegt. Der Pfeffer wird vom magnetischen Löffel angezogen und der Mischung entzogen. Übrig bleibt allein das kristalline Salz. So ähnlich hattest du dir die Auswirkung des Berges vorgestellt.

In Stahl und im Eis stehen die Moleküle still. Du findest dich eingezwängt vom Netz der weiten Straßen. Du fühlst dich, als müsstest du von gestern an dein restliches Leben auf deinem alten Schulhof verbringen. Du kennst alles auswendig. Nichts sagt dir mehr etwas. Viel zu wenige Menschen beim Warten auf die Straßenbahnen. In den Straßenbahnen hinter zugehauchten Scheiben. Vor den Buden. Paare auf den Bürgersteigen. Jeder mit seiner eigenen Flasche. Die Strasse zu weit, keine Schaufenster. Das Sortiment in den Läden ist einfältig und ohne viel Schild hinter Haustüren versteckt. Mit Alkohol wird offen gehandelt. Du erinnerst dich an eine Bäckerei, dort gab es nur Dauerwurst und Instantkaffee. Ein Taxi hatte dich dorthin gefahren. Du hattest ein Café gesucht.

Müdigkeit. Ständig diese Müdigkeit. Du fühlst dich im wahren Sinn alle. Etwas schlürft alles aus dir heraus. Wie einem Fernsehbild, dem der Helligkeitsregler alles Licht entzieht. Du willst nur noch schlafen. Du schläfst hier die ganze Zeit, aber du willst endlich wieder anders schlafen. Wie früher.

Du sehnst dich nach einem Gesprächspartner, einem Gegenüber. Etwas zu hören, das du verstehst und darauf laut zu antworten. Du überlegst dir einen Gegenüber aus dem Bettzeug aufzurichten. Deinen Teddy hast du zuhause gelassen aus Angst, sie könnten ihn dir hier wegnehmen. Also gehst du in den Kindersupermarkt am Oktoberprospekt. Dort gibt es Alf in vielen Größen. Aus braunem Flokati mit Hartschaumgesicht, Teletubbies aus neon beflocktem Kunststoff, die Schlümpfe. Knallblattpistolen, Monopoly, Badefisch.

Du stellst dir die letzten Fragen, allerneuester Stand:

Macht es glücklich, andauernd besoffen zu sein?

Hältst du es aus, zu sechst in drei Zimmern, Plattenbau, Fernwärme?

Bist du bereit, Stunden deines Tages damit zu verbringen, dir das Lebensnotwendige zu beschaffen?

Bist du bereit Magnitogorsk, diese Stadt, dein Leben lang nie mehr zu verlassen?

Dein Zahnfleisch blutet. Du schmeckst das süße Eisen, benutzt zuviel Zahnseide; hast Angst, das sich etwas festsetzt aus dem Wasser, aus der Luft.

Es gibt keine Ansichtskarten auf keinem der zwei Postämter. Du kaufst den letzten Stadtplan von allen, das Schema. Dann suchst du die Märkte ab nach einem Geschenk für deine Frau. Dir schwebt etwas ganz weißes vor, etwas saftgrünes, weich, flauschig, kaum zu spüren, kaum da. Du entdeckst eine Schüssel voller schwarzer Plättchen. Du hältst zwei nebeneinander, aber nichts passiert. Es sind nur Filzscheiben; Du hast keine Ahnung, wozu die gebraucht werden. Du kaufst ihr dann einen Dolch, etwas anderes gibt es nicht. Du findest ihn in einem Ausläufer der Märkte, bei den Händlern ohne Stand. Am Boden liegt er, ohne etwas darunter: Die Schneide lang wie zwei Handflächen breit und sehr schmal. Die Klinge geschraubt in einen Griff aus bunt gestreiftem Glas, das Heft aus Messing, grob gepunzt. Die Klinge steckt in einer Scheide aus rotbraunem Kunstleder, mit Kupferdrahtstücken vernäht, im Zickzackstich.

Nacht gehst du noch kurz raus. Die Jungs trainieren Schleuderwenden auf dem Parkplatz deines Hotels. Das hat Vater auch immer gemacht, Samstag vor Weihnachten, wenn Schnee lag. In eurem Porsche auf dem Wendehammer vor eurem Haus. Vater war in den Achtzigern zwei bis dreimal in Toljiati gewesen und hat den Russen geholfen, den Lada Niva zu bauen. Großvater war Major im Russlandfeldzug. Er behauptet, einer seiner Piloten hiess Beuys. Großvater stammt aus Haltern und nennt Beuys „Der Jupp“.

Zwei Frühstücksmarken auf deinem Schreibtisch. Zweimal noch hinunter in die Bar, morgens um acht, wenn es sechs Uhr morgens ist in Moskau und vier in München und Berlin. Drüben am anderen Ufer des Ural verläuft die Grenze zwischen Asien und Europa. Unter der Brücke dort: Flusslandschaften aus einem Gedicht von Helmut Heissenbüttel. Aber hier zerreisst keine Möwe deinen Frühtraum mit ihrem Schrei, es gibt hier auf den ersten Blick überhaupt keine Vögel. Im Rohr um eine Kiesinsel entdeckst du zwei graue. Krähen? Zusammen mit dem Spatz hier drüben, macht das gerade einmal drei. Und dir fällt das Wort Piepmatz ein, Vögelchen, Vöglein. Sogar Vögeln gefällt dir gerade. Du fühlst dich ausgesetzt, alleingelassen. Abisoliert.

Du findest eine Blutspur. Sie führt vom Bowlingcenter über den Spielplatz in die nächste Siedlung. Die Spur verfolgst du nicht. Dort ist im Hinterhof ein Gemälde über die Rückwand eines Schuppens gemalt. Jesus, an ein Kreuz aus zwei Injektionsspritzen genagelt.

Es ist Samstagmorgen, kurz vor zehn. Vor Stalins aufgebocktem Siegeszug, dem Denkmal für das Apfelgeschenk siehst du einen, der es hinter sich hat. Er steht, schwankt – zu betrunken auch nur einen Schritt zu machen kämpft er damit, nicht in sich selbst zusammenzufallen. Du wechselst schnell die Straßenseite, als es ihm hochkommt. Seine Mundwinkel reissen dabei ein, mit solcher Gewalt fährt der Schwall aus ihm heraus.

Das Hotel hat sich gefüllt. Ausgerechnet jetzt, kurz vor deiner Abreise! Eine Eishockeymannschaft aus Moskau besetzt den ganzen Nachmittag lang die Sessel der Lobby. Die Spieler sind harte Jungs. Geht einer von ihnen zum Klo, nimmt er vorher seine Vorderzähne heraus und legt sie in seinen Bierkrug, damit ihm den niemand austrinkt. Und trotzdem: Woher nehmen die Spieler der Mannschaft, die den Namen der Landeshauptstadt führt und sich Spartak nennt, den Mut, anzutreten gegen das Team mit dem martialischsten Namen von allen: Metallurg Magnitogorsk.

Letztes Jahr wurde ihnen der Stürmer erschossen. Seither sollen sie noch besser sein. S heißt Sieg. Und Moloko heißt Milch.

In der Auslage einer Bude siehst eine 1,5-Literflasche Bier. Heinecken. Sie ist geformt und bedruckt wie eine Magnum Champagner. Mit einem Champagnerkorken verschlossen. Für einen besonderen Abend. 1500 Gramm Bier.

Das Kino wird nächstes Frühjahr fertig sein. Der Schnee bleibt liegen von November bis Mai. Die alte Linguistenlüge, die Eskimos hätten 1000 Worte für Schnee. Als ob sich der Wortschatz durch Erfahrung bereichere…. Du frierst seit du hier bist. Auf 1000 verschiedene, immer neue Arten. Aber du bist begriffsstutzig geblieben. Alles was du denken kannst, ist: Ich friere.

Du öffnest die Schachtel, drückst dir drei  0,001 in die Hand. Schluckst sie runter, du weißt nicht, was drin ist. Der Beipackzettel auf russisch. Du spielst Pharmaroulette.

Irgendwann ist auch diese Nacht zu Ende und du lässt dich viel zu früh zum Flughafen fahren. Ein Schneesturm, nichts kann dich stoppen. Du hast kein Heimweh, du bist auf der Flucht. Und landest in Moskau, hebst ab nach München, alles geht glatt.

So viele Autos! So viele Lichter! Da kommt ein Finger!

Dich erwarten Gesichter. Na, was ist denn mit dir los, Mutter? Du weinst ja. Gefällt er dir nicht mehr, dein Albtraum? Ist doch besser als nichts.