Currywurst

Essay
zuerst erschienen 2002 in GQ

Mein Schreiben und die Currywurst haben ein Stück gemeinsamer Geschichte. Damals erschien meine erste Kolumne immer Freitag in der BZ, der „größten Zeitung Berlins“. Ich schrieb dort über Essen. Nicht ausschließlich über die Küchen der Hotels und Restaurants, ich ging auch zu den Wurstluken der Stadt. In Berlin gibt es davon ziemlich viele, etwa hundertmal mehr als nennenswerte Restaurants, und die Wurstsorten sind so zahlreich und unterschiedlich wie sonst nur an den Würstelständen in Wien. Und genau wie die Klobasse oder die Käsekrainer, genannt „Eitrige“, in Österreich bleiben wie in einem Wurstbiotop, so sind auch die Berliner Spezialwürste Brühpolnische, Kettwurst und Eisbeinknacker über die Provinz Berlin hinaus unpopulär geblieben. Die einzige Ausnahme ist die Currywurst, die in Hamburg, Hannover, Duisburg bis hinunter an den Main geschnitten und gebraten wird; und sogar in München gibt es auf der Leopoldstraße einen Stand, dessen Wurstbrater die Currywurst zumindest anbietet.
Dass aber die Currywurst in Berlin erfunden wurde und Nachahmer in ganz Norddeutschland gefunden haben soll, das bezweifle ich. In Berlin ist noch nie etwas erfunden worden, das freiwillige Nachahmer gefunden hätte. Vielleicht ein Schimpfwort. Und an original Berliner Speisen gibt es eben das hellrosa gekochte Eisbein mit der Fettkrause und seinen Beilagen Kartoffel- und Erbsenpürree mit Sauerkraut, die Restesuppe „Hoppelpoppel“ und eine Dauerbrotsorte namens „Pechbrot“. Die feine Küche wurde woanders erfunden. Das ist nicht schlimm und kein Grund sich zu schämen, aber das Rezept für Currywurst ist eben zu raffiniert, um aus Berlin zu sein. Gebratene Wurst, Tomatensauce, Currygewürze - wer dies zusammenbringen konnte, war sehr mutig.
Oder war es Zufall? Das legt Uwe Timm in seiner Novelle von der Erfindung der Currywurst nahe: Im Nachkriegshamburg stolpert eine Imbissfrau die Treppe hinauf und lässt fallen: drei Flasche Tomatenketchup und, beim US-General eingetauscht gegen einen selbstgegerbten Zobelpelz, eine Tüte voller  Currypulver. Es kann auch ein Mantel aus Katzenschwänzen gewesen sein. Auf jeden Fall heult die Frau zuerst, dann raucht sie eine auf der Treppe und danach fegt sie alles zusammen, auch die Scherben, siebt es durch, probiert und schmeckt den Mischmasch ab mit Nelken, Vanille, gestoßenem Pfeffer und rührt, weil sie nichts anderes mehr hat!, eine gebratene Kalbswurst unter. Das schmeckt, sie bietet die Currywurst an ihrem Imbiss auf dem Großneumarkt an und die Lisa aus Berlin, so Timm, eine Nutte aus dem Billigpuff der Brahmsstraße eröffnet später in der Kantstraße die erste Currywurstbude Berlins. Von dort aus muss sich das Rezept mitgeteilt haben bis hinüber in den zu dieser Zeit noch unvermauerten Osten der Stadt, zu „Konnopkes Imbiß“ an der Schönhauser Allee. Bei Konnopkes, so heißt es nämlich, gibt es die beste Currywurst Berlins. Auch Gerhard Schröder, so wird behauptet, esse hier am liebsten und von dem heißt es schließlich, er kenne alle Currywurstbuden der Hauptstadt – wenn nicht sogar ganz Deutschlands.
Weder Uwe Timm noch ich können mit solcher Kenntnis aufwarten. Von den fast zweitausend Imbissbuden, die der Bundeskanzler in Berlin schon besucht hat, kenne ich gerade einmal knappe sechzig, denn nach etwas über einem Jahr kam ein neuer Chefredakteur zur größten Zeitung Berlins; so schied mein Schreiben von der Currywurst. Ich habe sie übrigens, anders als Uwe Timm, nie gern gegessen. Von den Würsten mag ich am liebsten die dicken aus Kalbsbrät, wie sie in der Schweiz serviert werden. Und aus Deutschland selbstverständlich die Stuttgarter Rote vom Holzkohlengrill. Richtig dunkel, fast schwarz, ist sie die Königin aller Würste. Beide esse ich mit Senf.
Warum aber schmeckt so vielen Deutschen die süß-scharfe schaumig weiche Currywurst? Und warum eher denen oben, im Norden, als denen im Süden? (Italien, Griechenland – noch nicht einmal bis nach Österreich hat sie es geschafft!) Stimmt die Behauptung in Timms Novelle, dass zum scharfen Wind die scharfe Wurst gehört?
Und so reiste ich von Berlin aus nach Hamburg und Hannover bis Duisburg, um herauszufinden, wer die beste Currywurst macht in Deutschland oder besser, die beliebteste. Keiner weiß, wer das Gericht erfunden hat. Keiner weiß, wie es „richtig“ schmeckt. Es gibt gute und nicht so gute Erfindungen des Gerichts Currywurst. Und wer hat das nicht schon einmal erlebt, dass man gerade in einer fremden Stadt herumgeht und der Freund oder Führer zeigt über die Straße „Der da drüben macht übrigens eine unwahrscheinlich gute Currywurst!“ Und tatsächlich schmeckt jede immer anders, egal wo.
Die Suche nach der einen Currywurst, nach dem einen Wurstkoch, der sie einem so erfunden hat, dass man sie unvergleichlich gut findet, „wie für mich gemacht“, kann lange dauern. In Berlin stehen dem Suchenden gleich zu Beginn seiner Reise zwei Tore zur Wahl. „Ohne Darm“ steht über dem einen geschrieben und „Mit“ über dem anderen. Im Westen wurden knusprig gebratene Kalbsbratwürste in Scheiben geschnitten und mit Sauce überzogen, im Osten nahm man für Currywurst eine Kälberne ohne Darm. Die Ostwurst schmeckt nicht allein von der süßlichen Sauce her kindlich. Die Zunge schiebt die Wurstscheiben im Mund hin und her, allein die Zähne finden daran nichts zum zerbeißen. Die beste Ostwurst fand ich nicht beim eh überschätzten Konnopkes, sondern an der Mahlsdorfer Straße im grünen Köpenick. „Margitta’s Imbiß“ ist ein Wohnwagen mit Stehtischen daneben, die Sauce kocht sie dick ein und der Currygeschmack kommt angenehm deutlich heraus. Die Wurst selbst ist wie immer - es geht sowieso nur um die Sauce, darunter schmeckt alles, selbst Hering, nach nichts. Und die unterhaltsamste Westwurst gibt es eben nicht am mythischen Ku’damm 195 – in Wirklichkeit finden es doch nur unangenehme Menschen interessant, sich zur Currywurst eine Flasche Champagner zu bestellen – sondern am Mehringdamm zwischen Tempelhof und Kreuzberg bei Curry 36. Eigentlich immer steht vor diesem Tresen mindestens ein wartender oder essender Wurstfreund. Er hat die Auswahl zwischen West- oder Ostwurst, die wird dann  von der Hand geschnitten, mit einem Messer. Zu beiden Seiten schaut er hinein in die Fenster von Trink-, beziehungsweise Spielhalle, dreht er sich um, sind dort die Autos Tag und Nacht. Dann hat er seine Wurst schon fertig aufgepiekst. Besser geht es nicht in Berlin.

In Hamburg kam ich vom Dammtor hoch auf die Schlachthöfe zu. Schon im Park sah ich hinter den Büschen die Mastbullen aus hellem Stein, die Mauern um die Hallen. Nur um dann zu bezeugen, wer sich dort den Lieferwagen vollpacken lässt mit „Original böhmischen Rauchknackern“ und „Schlesischen Dampfbissen“. In den Schlachterstuben „Erika’s Eck“ und „Schlachterbörse“ wird die Currywurst nicht angeboten. Aber den „Imbiss Neuer Pferdemarkt“, den gibt es noch und die Currywurst dort, die ist Legende zu Recht: die Tunke so eingekocht, dass sie eher violett ist als braun; jedes Currykorn darauf ein Stern. Aber auch der Nachteil ist immer noch der alte: Die Esser stehen zu fünft mit dem Rücken zur Wand, dem Bauch am Tresen nebeneinander vor der langen Brat- und Frittierzeile. Andere warten draußen im Windfang vor der stets geschlossen gehaltenen Tür. Im Haar der Imbissfrau hängt der Dunst in kleinen Tröpfchen. Eine Daunenjacke kann man hinterher wegschmeißen – vollgesogen wie ein Zigarettenfilter.
Der Rest von Currywurst-Hamburg ist schnell erzählt: Der von Hamburger Rockbands geschätzte Imbiss „Kleine Pause“ sieht von innen so aus, wie der Gastraum einer Autobahnraststätte (von daher die Beliebtheit in diesen Kreisen? Eine Art Themenpark „Tournee“?). Die Currywurst wird aus einer langen Schinkenbratwurst, einem Hafenlümmel geschnitten. Die Sauce passt dazu. Und auf der Reeperbahn steht in der Mitte ein Wurstparadies, das sich auf der Rückseite in ein öffentliches Urinal verwandelt. Die Neonreklame auf der Bude zeigt auf der Vorderseite leuchtende Würste, auf der Rückseite Männer in Bluejeans, die in gelb blinkenden Bögen pinkeln. Bei klarem Wetter scheint es, als urinierten die Neonmännchen auf die dampfenden Würstchen. Und darunter warten die Brater in den roten Sweatshirts der Würstchenfabrik „Salzbrenner“ und klappern mit ihren Zangen. So will und kann man als Mensch nicht essen. Auf dem von Uwe Timm beschriebenen Großneumarkt gibt es längst keine Imbisse mehr. Während unserer einzigen Begegnung verriet er mir, dass er seine beste Currywurst in Hannover gegessen habe. Aber wo, das noch zu sagen, dazu reichte uns damals die Zeit nicht mehr aus.

Also nahm ich mir am Hauptbahnhof Hannover ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle mich zur besten Currywurst der Stadt fahren. Es war nicht weit. Kein Stand, keine Bude, ein, wie es mir von außen erschien, gutbürgerliches Gasthaus, das „Plümecke“. Es war gerade nach sechs am Abend und die Kellnerin hatte nur noch einen Stehplatz für mich. Zu meiner Bestellung sagte sie nur, dass ich warten müsse, denn alle Gäste die ich hier sähe (es waren an die hundert an den Tischen) wollten Currywurst. Dann brachte sie mir ein kleines Bier. Über der Tür des schönen, bis auf Augenhöhe in dunklem Holz getäfelten Gastraums, war das Relief eines rundlichen Elefanten an der Wand befestigt. Darunter stand in alter Schrift: Mampe Berlin. Dies war die Werbung einer Zigarrenfirma, die mir auch schon in einer Wuppertaler Currywurststube aufgefallen war. Die Currywurst im „Plümecke“, das sah ich auf den anderen Tischen, war eine kross gebratene, lange Schinkenknacker, die unzerschnitten mit dünnflüssiger, fast transparent orangefarbener Sauce übergossen war. Sie war, das hörte ich von meinem nun bereits essenden Nachbarn her, nicht nur kross gebraten, sie war extrem kross, wahrscheinlich sogar frittiert. Entweder Timm irrte, als er mir Hannover empfahl, oder ich war im falschen Imbiss gelandet o d e r, was das Wahrscheinlichste (aber esoterisch Klingendste) war: Uwe Timms Currywurst war von „meiner“ unterschiedlich.

Im Zug nach Duisburg begann ich klarer zu sehen, was die Herkunft, besser, was den Sinn der Currywurst betraf. Ich notierte zentrale Begriffe. Ich lief die Duisburger Fußgängerzone hinunter und dachte: Meine Currywurst ist von denen aller anderen unterschiedlich. Ich bog falsch ab und überquerte eine Schnellstraße, stand vor einem Riesenklotz aus Beton, es war das Heizkraftwerk der Stadt Duisburg. Ich sprang zur Seite, um eine Kolonne Lastwägen durchzulassen und geriet immer tiefer in den Stadtteil Hochfeld hinein. Hier war es schön. Verschwitzt und auf Umwegen fand ich zurück in die Untermauerstraße am Walter-Ring-Platz. Dort vorne, der „City-Grill“. Hier piekste Kommissar Schimanski seine Currywurst auf. Sie wird heute in einem Plastiknapf aus der Luke gereicht. Von der Imbissfrau hinter der Theke war nichts zu sehen als dieser Arm, der die gefüllten Schüsseln herausreichte, das Geld in Empfang nahm. Und die aus der Warteschlange bestellten beim ihren lauschenden Arm: einmal scharf mit Pommes. Einmal nicht so scharf mit doppelt Wurst. Und jedem von ihnen gab der Arm genau das und so, wie sie es bei ihm bestellt hatten.
Von meinem ersten Bissen tropfte mir die Sauce herunter aufs Hemd. Der Fleck wurde vom Hemdenstoff vollkommen aufgesogen. Mir dämmerte: Duisburg liegt nahe bei Holland, altes Seefahrervolk - Hamburg, Tor zur Welt, der Freihafen, Gewürzhandel in der Speicherstadt… nahes Hannover…
Und beim Hinunterschlucken der gut scharfen Wursträder (zum Kauen zu heiß), sah ich dann alles ganz klar: Curry und Wurst sind die eine essentielle Verbindung, die Verkörperung des Ursprungs unserer Sprache und Kultur, die indogermanische Urspeise.
Und an der Luke des „City-Grill“ war ein verblichener Kleber mit dem zwinkernden Elefanten von Mampe Berlin. Und auf der Speisekarte darüber stand: Jetzt auch die echt Berliner Sauce. Scharf, wie auch unser Bundeskanzler Gerhard Schröder sie liebt.