Tantris

Reportage
zuerst erschienen 2000 in der Regionalausgabe der Welt am Sonntag (München)

Die lange Taxifahrt ins nördliche Schwabing, wo das Restaurant „Tantris“ steht, vertrieben wir uns mit dem Taschenbuch „Das Haar in der Suppe habe ich nicht bestellt” von Wolfram Siebeck. Abwechselnd lasen wir uns aus den Lebenserinnerungen des im Alter etwas redundant gewordenen Berufsessers vor. Der Fotograf leuchtete dabei die Buchseiten mit einem Sturmfeuerzeug aus, denn unser Fahrer hatte mehrfach betont, dass er sich durch nichts „aber auch überhaupt nichts“ vom Genuß seiner vollaufgedrehten Lieblingsradiosendung auf RELAX FM abhalten lasse – schon gar nicht vom Licht der hinteren Leseleuchten.

Als die Straßen länger wurden, und die Häuserblocks draußen immer hässlicher, ließ der Fotograf die Flamme seines Sturmfeuerzeugs höher empor lodern – auf Seite 105 hatte er die von uns gesuchte Stelle im Siebeck gefunden:

„Das große Beben ereignete sich am 2. September 1971. An diesem Tag eröffnete der Bauunternehmer Fritz Eichbauer in München sein Restaurant Tantris. Nicht, daß es damals irgend jemanden erschüttert hätte; schon gar nicht konnten die Beteiligten ahnen, daß sie – um ein weiteres Bild aus der Katastrophenberichterstattung zu bemühen – eine Lawine losgetreten hatten. Doch dieses Luxusrestaurant mit dem Ambiente eines kalifornischen Sektentempels…“

„Hupps!“, unterbrach sich der Fotograf selbst und legte sich die flache Hand quer über den Mund. Aus aufgerissenen Augen starrte er durch die Windschutzscheibe nach vorn.

Das Taxi bremste, wir waren da. Das Tantris lag direkt vor uns.

Wobei „lag“ noch nicht einmal knapp vorbei traf: Der zurecht mythisch beschworene Tempel der Schlemmer öffnete sich uns. Ja! Ganz richtig: Wir stiegen aus dem musikgefüllten Bauch des RELAX-FM-Mobils über eine flache Betontreppe hinein in den vom vielstimmigen Raunen erfüllten Leib des Lokals. Der trickreich erleuchtet war; und in sanft, eigelbfarben glühenden Levels geschichtet. Unsere Mäntel gaben wir einem Herr an der Garderobe und schauten hinauf, in ein hohes, mit orangenem Flor überwachsenes Zelt.

„Haben Sie die Tiere geschaut, diese Fantasiewesen?“, flüsterte der Fotograf.

„Diese sich windenden Würmer, die mit den Widderschädeln, draußen auf den Treppen, die meinen Sie?“, fragte ich in die vorgeklappten Revers meines Jaketts hinein, während uns der Maître d’ an unseren Tisch führte.

„Ähm ja, genau“, kam es vom Fotografen zurück; jetzt noch einen Tick leiser „die aus Beton, Oh: So schauen Sie doch!“

Meine Augen folgten der ausladenden Bewegung seiner Arme – hinter meinem Sitzplatz hingen, gleich schlaff gewordenen Würsten aus feldgrauem Stein, weitere dieser Fabelschlangen.

„Ist denn hier alles“, fing ich an “Ich meine: Sind die aus Beton?“

„Nicht alles“, knirschte der Fotograf und zog mittels der in seinen Manschettenknöpfen versteckten Apparatur die Objektive seiner Knopflochlinse scharf „Diese dort drüben beispielsweise, sind aus Yton.“

„Yton, so so“, murmelte ich und steckte meine Nase noch tiefer in die Schiefertafelgroße Menükarte.

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte der Maître d’.

Aufgeschreckt inmitten unserer lebhaften Baustoffdebatte und seltsamerweise auch plötzlich überhaupt nicht mehr hungrig – die gerade noch auf der Taxifahrt verzehrten Wurstbrote des Fotografen schienen uns nun mit einem Mal doch mächtiger als vorhin noch gedacht – bestellte ich, der Einfachheit halber, zweimal das achtgängige Menü.        

Während wir aßen und tranken – es gab Lachs, St. Petersfisch, Rehsuppe, Dorade, Lamm, Käse und Gewürzkuchen, dazu Rot- und am Anfang auch einen Weißwein – wurde uns kein Augenblick langweilig.

Die geniale Anlage des Gastraums - ein langer Laufsteg führt die angekommenen Gäste zuerst an allen bereits bevölkerten Tischen vorbei, als seien sie die rohen aber frischen Zutaten zu bald servierten Gängen des Menüs; der bereits erwähnte Steilgiebel, dessen Teppichüberzug eine heitere Ratestunde nahelegt, deren Verlauf von den zentralen Fragen beherrscht wird: „Wie wird eigentlich diese Teppichdecke gereinigt, bzw. gesaugt? Klettert da einer hoch -  angeleint etwa? Oder wurde damals, in der Rohbauphase des Restaurants, schon ein spezieller, selbskletternder Teppichsauger in Auftrag gegeben und konstruiert?“; sowie die sinnverwirrenden Gemälde des momentan im Tantris ausstellenden Malers Andreas Jordi aus der schweizer Ortschaft Baar, der unter anderem ein ganz in Flaschentönen gehaltenes Portrait unseres Bundeskanzlers Gerhard Schröder angefertigt hat.

Nicht nur deshalb unsere Frage an den Maître d’: „War unser Bundeskanzler schon im Tantris?“

Antwort: „Nein.“

„Und der alte, der Dr. Helmut Kohl?“

„Auch nicht.“

„Und sein verstorbener Freund, der Dr. HC Franz-Josef Strauß?“

„Nein, der war gern in der Residenz zu Gast, wo ich vorher arbeitete. Aber im Tantris: Nein.“

„Was ist mit Stoiber?“

„Auch nicht. Aber der Haider aus Österreich war bereits zum zweiten Mal hier. Jedesmal mit zehn Mann. Sein Tisch war beide Male auf einen andern Namen reserviert.“

„Gut“, sagten wir bei einem Schnaps, der aus den Wipfeln junger Tannen gebrannt wird „Gut - Keine Politiker, jedenfalls keine aus Deutschland. Das heißt doch, daß das Tantris in nächster Zeit nicht umgebaut werden wird. Nur falls es jemandem einfallen sollte, München zur Austragungsstätte eines internationalen Kochwettbewerbs zu ernennen.“

„Gut“, sagte der Fotograf, zur Decke aufschauend „das ist doch schon einmal was“.

Nachhause sind wir zu Fuß gegangen.