„She kissed you“

Erzählung
zuerst erschienen im Frühjahr 2005 in Dummy Nr. 6 (Thema: Sex), S. 94-101
In Indien zählt der Kuss noch was! Eine Erzählung von Christian Litz

[95] Sie stieg aus, schlug die Tür zu, war sofort im Dunkeln verschwunden. Er drehte sich auf dem Vordersitz zu mir, hielt beide Hände vor seinen Mund. Er kicherte wie ein kleines Kind. Ja, wie ein kleines Kind, wie die, die ich Vorjahren im Kinderhaus Wichtelpark erlebt hatte. Wenn ihnen etwas peinlich war oder sie etwas ganz faszinierend fanden.

Es sah jetzt seltsam aus, wie er da kindhaft kicherte, ein erwachsener Mann. Ich sah ihn im Licht dieser kleinen Sri-Aurobindo-Figur auf dem Armaturenbrett seines Ambassadors, um die er eine Glitzerkette gehängt hatte, elektrisch betrieben, hell genug, um auch sein Gesicht zu beleuchten. Er grinste breit und sagte zweimal hintereinander, ganz schnell: „She kissed you.“ Er war fasziniert.

Sie heißt Fiona, wir waren in Pondichcrry essen. In einem Restaurant namens Rendezvouz, er, der Taxifahrer hatte es ausgesucht. Guter, wirklich guter Fisch. Sie hatte mir von ihrem Mann erzählt, von ihrem Lebensgefährten, den sie gerade verlassen hatte, von ihrem neuen Freund, auf den sie richtig scharf ist, lauter Künstler. Von ihrer Tochter, fünfzehn, supertoll, sensibel, selbstbewusst, kein bisschen neurotisch, zur Zeit heim verlassenen Mann, ah und zu beim Vater. Während sie hier in Indien war, Entspannung suchen. Daheim gab es jetzt großen Ärger: Die zwei kannten sich nicht, aber er hatte die Nummer rausgekriegt und den Neuen nachts um vier angerufen, rumgepöbelt. Via E-mail ist sie auf dem Laufenden. Und wirklich froh, da nicht dabei zu sein. Sie erzählte von ihrer Zeit als Assistentin eines hohen Weltbankbürokraten, [96] wie sie eine kleine Underground-Schallplattenfirma richtig erfolgreich gemanagt hatte. Ihr Leben in London, Paris, Barcelona, Mallorca. Warum sie Ashtanga-Yoga im Exzess betreibt. Weil sie davon diese tollen Muskeln bekommt. Wie alt sie ist. Dreiundvierzig. Ja, sie sehe jünger aus, eben wegen Ashtanga-Yoga. Wirklich tolle Muskeln. Faszinierend, weil sie eigentlich diesen Heroin-Schick hat, aber eben diese Muskeln an den Armen, diese breiten Schultern.

Ihr Vater kam aus Georgien, ihre Mutter aus Schottland, sie wurde in London geboren, wuchs in Paris auf Recht spannend alles. Der Taxifahrer bekam das nicht mit. Das beste aber – ihr Lächeln. Sie weiß das, setzt es bewusst ein. Ein richtiger Sonnenaufgang, Schönheit, Freude. Aber eben nur ein Lächeln, gezielt genutzt. Ich erzählte von meiner Frau, von meinen Sohn, supertoll, von meiner Arbeit, warum ich hier in Südindien rumhänge. Wir aßen und redeten dreieinhalb Stunden. Und draußen stand das Taxi. Das ist so üblich. Man ruft ein Taxi, macht mit dem Fahrer einen Preis aus für die Fahrt, inklusive Rückfahrt und sagt, er solle warten, dafür schlägt er nochmal mal etwas drauf.

Er kicherte immer noch, das war ein Anfall, er wiederholte: „She kissed you, she kissed you.“ Fiona und ich hatten uns zum Abschied auf die Wangen geküsst, auf der Rückbank seines Taxis, die Initiative war von ihr ausgegangen. Ich hatte es als belanglos nett empfunden. Aber für den tamilischen Taxifahrer war das sowas wie Sex. Wieder sagte er: „She kissed [97] you.“ O.K., ich möchte zurück ins Guest House. Er fuhr los, ich sah sein dauergrinsendes Gesicht im Rückspiegel. Einmal war ich sicher, dass er mich fasziniert anstarrte, bewundernd. Nochmal sagte er: „She kissed you”. Ich erklärte ihm, dass das eine normale Verabschiedung sei, da wo sie herkommt. Er sagte nur: „She kissed you.“ Ich bezahlte ihn und gab ihm Trinkgeld, noch auf der Rückbank sitzend. Er schrieb mir seinen Namen und seine Telefonnummer auf meinen Block: S. Senthil. Falls ich mal wieder ein Taxi brauche, er fahre mich gerne. Von da an nannte ich ihn Senthil, Vermutlich ist das sein Nachname, aber sicher bin ich nicht.

Wir sprachen noch ein bisschen. Wo ich herkomme, was ich hier mache, wie lange ich bleibe. Wie alt er sei: Achtundzwanzig. Wo er lebt: Kuilapalayam. Dass das Taxi nicht ihm gehöre, dass er Auftragsfährer sei. Wie sie heiße: Fiona. Wie alt sie sei. Wo sie herkomme. Immer wieder von Kichern unterbrochen. Und wieder der Satz: „She kissed you.“ Ich erklärte es ihm nochmal, ganz langsam und genau: Das ist eine nette, aber unbedeutende Art der Begrüßung und der Verabschiedung. Auch zwischen verheirateten Menschen. Er lächelte.

Ich sagte tschüss. Als ich schon draußen war, rief er in die Nacht: „She is pretty“. Ich grunzte: Jaja. Er: „She kissed you.“ Es war dunkel, ich sah keinen Weg und plötzlich sprang er aus dem Auto, kam mit einer Taschenlampe her, Iegte mir die Hand auf die Schulter und brachte mich zum Guest House, auf dem Weg kopfschüttelnd sein Mantra wiederholend: „She kissed you.“ Er hatte den halben Weg einen Arm auf meiner [98] rechten Schulter. Mir war das zu nah, aber ich dachte, gleich bin ich da und es ist vorbei. Zum Abschied klopfte er mir fest auf die Schultern. Er war zufrieden mit mir, stolz auf mich. Und es lag nicht am Trinkgeld.

Beim nächsten Mal ging ich mit David ins Rendezvouz. Am Guest House hatte mir Senthil die Taxitür von außen aufgemacht und ins Gesicht gelacht. Er sah David. Nur kurz. Dann wieder zu mir: enttäuscht. David war für ihn, verglichen mit Fiona, eine Kröte.

Rendezvouz: Fisch, Bier, Martini.

Wir waren betrunken. So betrunken, dass wir über Frauen redeten. Nach vier Stunden stiegen wir in Senthils Taxi. Wirklich betrunken. Ich hatte eine volle Flasche Bier in der Hand, eine Halbliterflasche Ice. David zwei. Senthil war trotzdem stolz auf mich, vielleicht gerade weil ich besoffen mit einer Flasche Bier auf seiner Rückbank hing. Inder dürfen öffentlich nicht trinken, der Bundesstaat Tamil Nadu war bis vor kurzem gesetzlich trocken, Senthil in Zeiten der Prohibition aufgewachsen. Eine Bierflasche in der Hand zu halten war für ihn eine Heldentat. Plötzlich grunzte David, ich rief stop. Während David draußen kotzte, wisperte Senthil lächelnd; „She kissed you.“ Und ich fragte: Bist Du verheiratet? Nein, nein, er lebe bei seiner Familie; Brüder, Schwestern, Eltern, Oma, unverheiratet. Gibt es in Indien vorehelichen Sex? Er lächelte lange und verlegen, und sagte: Nein. Setzte uns ab, sah mich nochmal stolz an.

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Einmal fuhr ich mit ihm einkaufen nach Pondcherry. Ich war gut drauf, obwohl Städte in Indien schlimm sind, hektisch, anstrengend, aber ich fand alles, was ich suchte, niemand legte mich rein, ein paar versuchten es, aber ich merkte das, war stolz deswegen, es lief. Wir tranken gesüßten Tee aus Pappbechern, den ich von einem Straßenhändler kaufte. Unterhielten uns. Über alles mögliche, nicht über Fiona, eher über Autos, Popmusik, Hollywood, Bollywood, Discos. Er erzählte mir, daß es doch verehelichen Sex in Indien gebe. Und als ich nachfragte, sagte er: Huren.

Wir sind dann noch mehrmals zusammen Taxi gefahren, haben uns beide wohlgefühlt, er hatte nie mehr gesagt She kissed you, aber immer wieder nach Fiona gefragt. Wie lange bleibt sie hier in Auroville? Ist sie wirklich dreiundvierzig? Was macht sie gerade? Solche Fragen. Und immer hatte ich das Gefühl: Dieser Taxifahrer mag dich. Gut, eigentlich Fiona.

Abends in New Creation Corner, das ist ein Restaurant in Auroville, naja, eher ein Imbiss, alkoholfrei, wie alles dort. Am Tisch: Fiona, Robert, David, Herbert, ich. Robert sagt, kommt, lass uns noch nach Pondi gehen. Ich bin dabei, Fiona sagt au ja, Herbert nickt, und ich gehe los, das Taxi rantelefonieren. Nur ich habe Ventils Nummer nicht dabei. Ich fühle Panik. Und sage zu dem Mann an der Kasse, dass ich unbedingt einen Fahrer namens S. Senthil brauche. Er kennt ihn nicht. Ich bin niedergeschlagen, da fragt er: Der, der sie Gersten hier abgeholt hat? Ich sage ja und zehn Minuten später ist Senthil da. Seltsamerweise scheint er Fiona nicht wahrzunehmen, er [100] unterhält sich nur mit mir, schaut nie zu ihr hin, obwohl sie so sitzt, dass er sie im Rückspiegel sehen könnte. Senthil benimmt sich seltsam, auch auf der Rückfahrt. Fiona setzen wir zuerst ab, wir küssen uns auf die Wangen, während deren drin im Taxi sich über Pulp Fiction unterhalten, David und Herbert können das Drehbuch auswendig. Der Wangenkuss, belanglos. Für mich von keinerlei Bedeutung. Im Taxi wird mir klar: Ich tat es für ihn. Vor dem Guest House bezahle ich Senthil, gebe ihm wieder ein gutes Trinkgeld und sage: Das war Fiona. Er, schwärmend: Yes, she’s pretty. Senthil ist schüchtern, eindeutig. Und verliebt.

Eine Woche später fährt Senthil mich nach Ponc zum Bahnhof, weil ich dort Zugtickets kaufen muss, Strecke Madras - Benares, für David und mich. Auf dem Rückweg sagt mein Freund Senthil, dass er uns gen Madras zum Bahnhof fahren würde, vier Stunden Fahrt, das Geld könne er brauchen, und ich sage, klar, gerne, unbedingt, morgen früh, neun Uhr. Aber heute abend gehen wir nochmal ins Rendezvouz, Du solltest uns um acht abholen. Geht klar, sagt Senthil und lacht. Vorfreude. Eindeutig.

Abends: Fiona geht nicht mit, sie macht heute eine Schicht Ashtanga-Yoga. Robert hat keine Zeit, David muss noch arbeiten. Nur Nicole geht mit. Nicole ist klasse. Kommt aus Bergamo, eine Parade-Italienerin, tiefe Stimme, Temperament permanent im Überfluss, Mimik und Gestik mit viel Tempo und Anmut, immer modisch gekleidet, drall, richtig drall, so wie die Inder es eigentlich mögen, mit einem großen Busen, [101] wirklich groß und immer mit einem Ausschnitt, der in Indien eigentlich nicht geht.

Aber Nicole sagt: Ich bin Italienerin, nicht Inderin, warum soll ich mich verkleiden? Ich habe sie mal in einer Disco tanzen sehen – Nicole, der Vulkanausbruch, atemberaubend. Ich meine, wirklich atemberaubend. Als Nicole tanzte, musste ich viel schneller atmen, ich brauchte mehr Luft.

Mein Lieblingstaxifahrer holt uns ab, blickt finster drein, sagt kaum was. Er bringt uns Stunden später zurück, sagt kein Wort mehr, völlig verstummt. Wir setzen Nicole bei New Creation Corner ab, da hat sie ihren geliehenen Motorroller stehen. Italienerin, Motorroller. Klasse. Sie küsst mich zum Abschied auf die Wangen. Ich rufe: Ciao Bella. Sie lacht und winkt. Senthil fährt mich zum Guest House. Ich bezahle, gebe Trinkgeld und sage ganz freundlich: Morgen, neun Uhr, Madras. Er sieht, trotz des in Aussicht stehenden Verdienstes, trüb aus, gibt mir die Hand, sagt förmlich auf Wiedersehen, ja, er senkt sogar den Kopf dabei und fährt davon. Ich habe ihn enttäuscht.

Am nächsten Morgen kommt ein anderer Fahrer, bringt uns nach Madras. Als ich nach Senthil frage, sagt er, der sei krank. Als ich nochmal frage, sagt er, naja, nicht krank, aber er habe einfach nicht gewollt.