Dienen in Delhi

Reportage
zuerst erschienen am 24. April 2006 in Focus Nr. 17, S. 104-109
Fassung des Autors
Warum junge Deutsche neuerdings zum Billig-Lohn in Indien arbeiten

Nina Höfler ist da, wo die Arbeit ist. Also im Cyber Park, einem achtstöckigen Neubau mit roter Fassade in Gurgaon, fünfzehn Kilometer südlich von Delhi, Indien, in einem riesigen flachen Raum, an einer der tausend Workstations. In einer Gegend mit Wachstumsraten, die es so nur noch in China gibt. In 40 Grad Hitze im April, wenn sie denn mal das Büro mit Klimanlage verlässt. Gemäss des Dresscodes trägt die rothaarige Frau mit den flinken Augen dunkles Kostüm und weisse Bluse. Ein Saree ginge auch. Nina, die aus Windsbach bei Landshut stammt, sitzt in Stockwerk 2, in der ersten Reihe rechts vom Eingang, bei Evalueserve, dem Weltmarktführer im Knowledge Processing, einer neuen Branche der globalisierten Wirtschaft. In ihrem Blickfeld: Computerschirm an Computerschirm, kaum Papier, keine persönlichen Dinge, viele Inderinnen und Inder, dazwischen, auffällig wie Farbsprengsel, Europäer. Nina studiert in Cambridge, kam für ein Praxissemester. Nun arbeitet sie ein Jahr im Wirtschaftswunderland, zu indischem Lohn und indischen Bedingungen, wurde befördert und leitet - sie ist 22 Jahre alt - quasi die Personalabteilung. Wobei sie das nie so ausdrücken würde. Sie sagt: „Ich rekrutiere Ausländer“ und lächelt.

„Hi Chetna, hi Suj”. In der Firma duzen sich alle, damit kein Inder vom Nachnamen des anderen Kastenzugehörigkeit ableiten kann. Evalueserve ist modernes Indien. Die Firma wächst explosionsartig, wurde vor fünf Jahren gegründet, machte nach einem Jahr Gewinn und steigert den jährlich um 100 Prozent. Hat zur Zeit 1050 Mitarbeiter, nächstes Jahr 2000. Für 600 Kunden sammelt und verwertet Evalueserve Wissen. Monatlich kommen 20 neue dazu. Auf der Liste steht jeder bekannte Multi, all die grossen Unternehmensberater, Start-ups, Mittelständler, Unternehmen, die Informationen brauchen. Evalueserve macht KPO,  Knowledge Processing Offshoring. Das ist die Fortsetzung von BPO, Business Process Outsourcing, also Callcenter und Datenverarbeitung, früher Beginn des indischen Booms, heute Kleinkram.

Hier geht es um Wissen, die letzte Stufe der Industrialisierung. Die Mitarbeiter von Evalueserve verarbeiten jede Menge Daten und liefern Know-how über den Bankensektor in Europa oder die Startchancen für ein neues Produkt, Marktprognosen, analysieren Daten eines Pharmaunternehmens, das geschluckt werden soll. Die Inder sorgen dafür, dass der Auftraggeber weiss, wieviel im nächsten Jahr für neue Computer in italienischen Firmen ausgegeben wird, wie gut das Image einer Marke in Korea ist, ob eine deutsche Firma attraktiv für Studienabgänger ist oder liefern die Börsendaten mehrerer Jahre der hintersten Börse im vordersten Orient als Powerpoint Präsentation. Was gebraucht und bezahlt wird.

Holger Siemons hatte die Idee mit den Ausländern. Der 38-Jährige, ein früherer Telekom-Manager, der nun an der Delhi University seine Doktorarbeit über „interkulturelle Kommunikation“ schreibt, berät deutsche und indische Firmen. Er, die rheinische Frohnatur, ist sowas wie der Vater der Kompagnie, der Ansprechpartner für alle, wusste, Studenten brauchen Praktika und Evalueserve braucht kulturelles Know-how. Also holte er  Praktikanten. Die verlängerten oft, wurden mehr und mehr normale Mitarbeiter. Seit ein paar Monaten kommen Leute, die kein Praktikum wollen sondern einen Job. Denn: 400 Euro Lohn klingt nicht nach viel, aber es reicht, um in Indien gut zu leben. Die Firma zahlt die Steuern, den Flug, das Appartment, sorgt für Arzt und Versicherung. „Wenn ich zuhause 100 Euro abhebe, bringt mich das nicht weit, hier schon“, sagt Nina Höfler. Man kann so rechnen: 400 Euro mal, so die Faustregel, sechsfache Kaufkraft macht mehr als genug zum gut leben. Der Friseur ist lächerlich billig. Man zahlt einen Bruchteil des deutschen Preises für gutes Essen. Kleidung, gleiche Qualität, gleiche Marken wie in Deutschland, ist richtig günstig. Ins Kino gehen, naja, das ist, als wär es kostenlos. Eine Fahrt mit der Delhi Metro kostet umgerechnet keine 5 Cent. Ein Kaffee im Coffeeshop, der auch in London oder Berlin sein könnte: 40 Cents. Und der ist Luxus. Ein Handy-Gespräch etwa zwei Cent die Minute.

„Evalueserve wächst wie wild, schneller als die indische Wirtschaft, und die wächst schon schnell“, so Holger Siemons mit strahlendem, runden Gesicht. Die indische Bildungspolitik sorge dafür, dass viele gute Mathematiker zu finden sind, gute Analysten. Was aber fehle, um die wachsende Auftragsmenge aus Europa bearbeiten zu können, sei Know-how, also Mitarbeiter von dort. Welche, die wissen, wo das deutsche Patentamt ist, wo man die Strompreise Polens erfragen kann, dass es in Frankreich Autobahnmaut gibt, wo man welche Information mit eins, zwei Telefonaten oder einer Internetrecherche holen kann. „Sprache spielt keine grosse Rolle, man kann jeden Firmenchef in Deutschland auf Englisch befragen.“ Nötig sei kulturelles Wissen.

Gerade läuft was in Südamerika für eine Mietwagenfirma. Kein Inder hätte geahnt, dass es an Kreditkarten gekoppelte Versicherungen gebe. Ohne Europäer wäre es übersehen worden. „20 Prozent des Umsatzes von Evalueserve wird wegen der Ausländer gemacht, und der Anteil wächst.“ Als er das sagt, strahlt Holger Siemons, sein Kopf scheint runder zu werden, wie ein Smily. Ja, er ist stolz, es war immerhin seine Idee. Ein Blick in den Saal, eine Art Ameisenhaufen, nur junge Menschen. Bei Evalueserve arbeitet niemand, der älter ist als 30, der Durchschnitt sei unter 25. Es gebe eine Milliarde Inder, 70 Prozent davon sind jünger als 35, 50 Prozent jünger als 25. Indien heute erinnere ihn an das, was er über Nachkriegsdeutschland wisse, „es geht um Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Holger Siemons schiebt eine Studie über den Tisch. Sie sagt: 160.000 neue ausländische Mitarbeiter brauche der indische Markt bis 2010, wenn sie außer Englisch noch eine Sprache sprechen. Die Arbeitsmärkte in Europa sorgen dafür, dass Jobs zu indischen Bedingungen durchaus interessant sind. Und, es sei eine „Win-Win-Situation“. Wer im Auge des indischen Booms Erfahrungen gesammelt habe, verbessere seine Jobchancen daheim erheblich. Habe eine Umfrage unter Professoren ergeben.

Täglich kommen nun die indischen Teamleiter zu Nina und melden, nur als Beispiel, sie brauchen Betriebswirte, die Osteuropa kennen. Gut wäre, wenn sie Polnisch könnten oder Rumänisch. Dann sucht Nina im Internet, auf websites von Unis oder Arbeitsagenturen. Sie findet immer und zwar schnell. Viele wollen nach Indien, zur Arbeit, sich an die Jobrakete hängen. Zehn Deutsche und zehn Franzosen stellen gerade die grössten Gruppen der ausländischen Evalueserver. Seit Ende vergangenen Jahres vermittelt auch die Bundesagentur für Arbeit nach Gurgaon. Bisher 60 Kandidaten habe man Evalueserve weitergegeben, drei Leute fest vermittelt. „Die Ansprüche der Firma sind hoch“, sagt Manuela Setnikar von der BA-Abteilung International Labour Market. „Indien ist im Kommen als Arbeitsplatz.“ Wöchentlich treffen in Gurgaon Neulinge ein, morgen, nach Mitternacht, landen zwei Deutsche am Flughafen. Ein Firmenauto holt sie ab. Heute haben ein Portugiese und zwei Russinnen den ersten Tag. Im Sommer werden 100 Europäer hier arbeiten. Zur Zeit sind es 60.

Marcel Lee, 24, hellblaues Hemd, schwarze Krawatte, dunkelblauer Anzug, macht bei Evalueserve Pause vom Aktienanalysieren. Er stammt aus Potsdam, hat nach dem BWL-Studium und der Zeit bei der Bundeswehr einige Bewerbungen verschickt. „Evalueserve war am schnellsten. Wahnsinnig schnell.“ Für seine Diplomarbeit hatte er ein halbes Jahr in China geforscht. In Indien bekommt er ähnliche Gefühle. „Hier tut sich was und zwar schnell. Hier wird man gebraucht. Der Braintrain geht hierher.“ Die Welt ändere sich nunmal. Das Wort Globalisierung will er nicht mehr verwenden. Darüber noch zu reden sei Zeitverschwendung. Hier gibt es Jobs, hier kann man anwenden, was man im Studium gelernt hat. Deutschland beschreibt er mit Worten wie Ponyhof, langsam, Bürokratie. In Indien lerne man das Leben kennen. Es sei nur gut, so was im Lebenslauf zu haben. „Ökonomie live. Alles, jeder Preis ist Verhandlungssache. Nachts um drei kostet die Riksha fünfmal soviel wie tagsüber. Es kommt immer auf deine Verhandlungsposition an. Das ist lehreich und spannend.“

Er wirkt müde. „Naja, gestern waren wir aus. Aber ich gehe gerne ins Büro.“ Die Arbeit sei klasse: kein Schnickschnack, mittenrein, mit Termindruck, vollem Einsatz. „Eine zufriedenstellende Sache, man lernt eine Menge. Alles läuft superprofessionell ab. Das Betriebsklima ist freundlicher. „Der Druck wird netter verpackt als in Deutschland.“ Es gefällt ihm, „dass man sich Personal leisten kann, die unschöne Arbeit erledigt wer anders, Appartment putzen, Wäsche machen. Ich fühle mich wohl. Der Kontakt zu den Indern in der Firma ist gut, die sind unheimlich freundlich, neugierig und interessant. Die kennen alle „Pulp Fiction“, sind auf der anderen Seite aber noch sehr verwurzelt in ihren Familien. Die Geschichte von König Rama ist für die genauso echt wie Schweizer Aktienderivate.“ Selbst sein Team-Leader, mit 25 Jahren einer der älteren hier, frage seine Eltern, ob er auf eine Party gehen könne. Während die Europäer den Bus nach Delhi nehmen, sei das für viele der Inder unter ihrer Würde. Sie sind schließlich der neue Mittelstand, das ist das neue, überall zu hörende und zu lesende Wort in Indien. Während Marcel spricht, kontrolliert er den Schirm, wartet auf Ergebnisse, manchmal redet er abwesend langsam. Über die Arbeit darf er nicht sprechen, es geht um eine Marktanalyse. „Bei der Bundeswehr oder bei Praktika in Deutschland, da wollte jeder möglichst schnell raus. Hier nicht. Die Firma ist deine Familie. Privat- und Arbeitsleben ist eines, das ist eine natürliche Sache.“ Jetzt Schluss, er habe zu tun.

Da kommt Christina. Sie hat Overlap-Shift, was bedeutet, die Diplom-Psychologin fängt später an und arbeitet bis in den indischen Abend. So gleicht sie die Zeitverschiebung nach Europa aus. Christina Petrescu, 27, aus Bremen, gross, schwarzhaarig, weshalb sie manchmal, aber nur manchmal, und nicht von Indern, als Inderin wahrgenommen wird, hat nach dem Diplom 50 Bewerbungen geschrieben, dann, am Ende, „weil alle sagten, ich hätte keine Berufserfahrung“, eine noch. Die Bundesagentur für Arbeit hatte ihr die Ausschreibung gegeben. „Das war Mitte November, Anfang Dezember hatte ich den Job.“ Ein verantwortungsvoller: Sie formuliert Fragebögen, wertet Statistiken aus, hat gut zu tun. „Ich bin in Indien. Das ist spannend.“ Sie habe indische Freundinnen, wundere sich aber immer noch, dass die ständig kichern und abends nicht einfach so aus gehen dürfen. „Auch die Männer. Die sind hier nicht so erwachsen wie wir.“ Aber sie könne sich vorstellen, Jahre zu bleiben. Und ist sich sicher: Im Lebenslauf macht sich diese Art Berufserfahrung gut.

In der Evalueserve-Kantine, es gibt Daal, Reis, Naan, einige der Europäer haben sich von Subway, einer Sandwich-Kette, Essen bringen lassen. Am Tisch sitzen Marcel, Bettina, Shivani, Milena, Sonja, Swati, Fred, Mandeep und Krushbu. Sie sprechen Englisch, es geht um den Bollywood-Hit „Rang de Basanti“. Milena, sie stammt aus der Tschechei, studiert in Dresden, sehe aus wie die Hauptdarstellerin, sagt Swati. Und kichert. Sie reden weiter und nach ein paar Minuten ist es offensichtlich: Hier sitzen Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen am Tisch. Sie sind an einem toten Punkt angelangt. Als der Abend geplant wird, werden die indischen Mädchen gar nicht gefragt, sie dürfen sowieso nicht mit aus. So, wie sie nie in einen Bus steigen würden. Shivani Saran versucht das zu erklären, möglichst einfach: „Die Familie ist uns wichtig.“ Wenn also die Eltern sagen, sie solle keinen Bus nehmen, dann nehme sie keinen Bus. Ganz einfach. Wobei, sie kichert. „Es ist spannend zu sehen, wie sich die Frauen aus Europa benehmen“.  Sie sagt es bewundernd.

Im Büro: Nina Höfler telefoniert mit jemandem in Frankreich, der sich beworben hat. Seit einem Jahr heuert ihr Arbeitgeber nun Europäer an, zu indischem Lohn, zu indischen Bedingungen. Was heißt auch: 21 Urlaubstage, zehn Stunden Arbeit am Tag. Wenn die indischen Teamleader es sagen, mehr, unbezahlt. Am Wochenende war Nina auf einer Hochzeit: Kollegin Chetna hatte sie zu der ihrer Cousine Priti eingeladen. Was für ein Fest. „Riesig, 1000 Leute, konstant laute Musik, fantastisches Essen, viel Tanzen, es war toll.“ Oh ja, sie habe getanzt, „und wie“. An Wochenenden ist sie meist unterwegs, um einzutauchen in die fremde Welt. „Es gibt hier viele Feiertage, mehr als bei uns.“ Bei der Hochzeit hatte sie einen hellblauen Saree mit silbernen Pailetten getragen. „Ich hab mich overdressed gefühlt“. Was aber nicht schlecht gewesen sei, schließlich war sie als Deutsche Exotin des Festes. Sie war pünktlich heute morgen, beeilte sich, aus dem Appartment, das sie mit der lettischen und der thailändischen Kollegin teilt, zu kommen. Wenn der „Transport“ naht, einer der vielen Kleinbusse der Firma, die zu den jeweiligen Schichten die einsammeln, steht Nina Höfler immer bereit. Zu spät kommen nach drei Tagen wildem Feiern? Geht nicht. Heute wird sie mal wieder mehr als zehn Stunden arbeiten. Zehn Stunden, das ist die völlig normale, nie in Frage gestellte Arbeitszeit. „Die krieg ich leicht voll, ich hab genug zu tun. Man gewöhnt sich schnell daran. Niemand hat hier ein Problem mit.“

Ihr Umgang miteinander ist etwas besonderes, da erinnern die Gastarbeiter an Internatsleben oder an ein Studentenwohnheim: Sie leben gemeinsam in den Appartments als eingeschworene Gemeinschaft. „Dieselben Probleme, dieselbe Situation, jeder hilft jedem. Man lernt, schneller auf Leute zuzugehen“, sagt Nina. Wenn neue Leute kommen, werden sie sofort aufgenommen, die anderen waren schließlich mal in genau derselben Lage. Vom ersten Tag an wisse man, wo man was einkaufen, wo man hingehen kann, wie man sich wo zu verhalten habe. Gut, meist sind sie nach der Arbeit zu fertig, um noch zusammen auszugehen, aber für Spiele- oder Videoabende im Appartment reicht es oft. Nina: „Man lernt sich hier anders kennen, besser.“

Sie interviewt noch immer Kandidaten, sucht inzwischen Leute, die spanisch können für einen anderen Südamerika-Auftrag. Sonja, Bettina, Christof, Milena, Marcel und ein paar von den Franzosen gehen in einen der acht Aufzüge, fahren in die Tiefgarage. Es ist nach acht, draußen ist dunkel. Im Stockwerk Minus 2: Getümmel. Hunderte Evalueserver warten auf Transport, entspannen schon. Im Minutentakt fahren Kleinbusse heran und weg. Anshuman ruft: „Sonja, Marcel, das ist eurer, South City.“ Er lacht: „Sie bekommen Extratransport. Schneller, ohne Umwege. Sie sind was Besonderes.“