Herr Pirner

Reportage
zuerst erschienen im Februar 2000 in Max , S. 150-156
Eine ungewöhnliche Geschichte: Seit 24 Jahren lebt Georg Pirner in einer psychiatrischen Anstalt und malt und malt und malt. Doch er kennt nur ein Motiv - sich selbst

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Stundenlang holt Georg Pirner, der schizophrene Maler, ein Bild nach dem anderen hervor. Ein paar hundert hat er I schon hingelegt in den vergangenen Stunden. Und immer noch liegen zwei große, prall gefüllte Mappen auf dem Tisch im hellen Speisesaal des Heims Haus auf dem Zeilberg im Örtchen Maroldsweisach in Unterfranken. Zwei mit Blättern gefüllte Schuhkartons daneben, ebenfalls verschlossen. Draußen schreit ein anderer Patient laut, doch Georg Pirner redet ganz leise. Zwei, drei Sätze zur Maltechnik, oft nur einzelne Worte: „Krei­de. Kuli. Blei.

Er deutet auf die Bilder: Viele Blätter hat er auf beiden Seiten bemalt. Die größeren Skizzen auf Rückseiten von Kalenderblättern. „Wenn ich Papier habe, male ich.“ Fragen weicht der 62-Jährige aus. „Mein Vater? Ich hab‘ ihn mal gezeichnet, mit Blei, also skizziert, dann bunt ausgemalt, da hat er noch gelebt.“ Gefällt ihm dieses Bild hier? Er schiebt die Unterlippe wei­ter nach vorne, nuschelt: „Kann man schon sa­gen. Vielleicht. Eigentlich nicht. Ich weiß nicht.“ Oft sagt er was, macht eine Pause und hängt „Ich weiß nicht“ dran. Wurde er streng erzogen? „Eigentlich nicht. Kann man schon sagen. Ich weiß nicht“, ant­wortet er mit ausdruckslosem Gesicht. Sein Mund bewegt sich nur ganz wenig. Er zeigt seine Bilder ohne Gefühle, zeigt keinen Hauch von Stolz, wenn sie gelobt werden. Keine Regung, obwohl sie end­lich, nach drei Jahrzehnten, jemand sehen will. Georg Pirner wirkt, als habe er so etwas wie Gefühle gar nicht mehr. Die Art, wie er sein Leben erzählt, vermittelt auch den Eindruck von Desinteresse. Oder von Rückzug in sich selbst. Pirner hat weißgraues Haar, schwarze Zähne, ein vorgeschobenes Kinn, wirkt abwesend, auch wenn er spricht. Ein dunkelroter, flusiger Pullover spannt über dem Bäuchlein, eine große Specksteinbrosche hängt auf der Brust, die ausgewaschenen Jeans sind viel zu weit. Über die Brosche sagt er: „Einen Glücksbringer brauch‘ ich eigentlich nicht. Ich hab‘ schon Glück gehabt. Und Pech.“

Georg Pirner stammt aus dem fränkischen Bauerndorf Happurg, malte als kleines Kind „die Häuser von Leuten als Ge­schenk“. Sein Großvater, ein Kunstschnitzer, erhängte sich auf dem Dachboden, „Verfol­gungswahn, hat meine Mutter gesagt. Mein Va­ter war Fleischbeschauer, er arbeitete auch mit den Augen. Trichinen suchen.“ Arbeitet er auch mit den Augen? Keine Antwort. Hat der Vater gemalt? Pause. „Nein.“ Das mit den Augen, stellt sich Tage später heraus, soll sagen, dass er, der Maler, vom Vater etwas geerbt hat. Den Blick fürs Detail. Und vielleicht auch die Ver­anlagung zur Schizophrenie.

Folgende Erinnerungen hat Pirner noch im
Kopf: Hopfenernte, wie die Amis nach dem
Krieg einmarschiert sind, zuvor die Strafeinheit
der SS, die in der Nähe stationiert war, die Kir­
che im Ort. Die habe er deutlich vor Augen.
Und eben, dass er immer gerne gemalt hat. Anfang der fünfziger
Jahre lernte er in einem kleinen Malerbetrieb. „Kitsch.“ Er verzier­
te Bierkrüge, Griffe von Kindersprungseilen, Holzkerzenständer.
Danach eine Grafikerausbildung, „eins zu fünfundzwanzig, eins
zu zwanzig, eins zu eins“. Dann studierte er in Nürnberg an der
Akademie der Bildenden Künste. „Beim Studium hab‘ ich aber auf
dem Hof geholfen, Kartoffelernte, Getreideernte, Rübenernte.“
Dann zählt er einige Professoren auf, die ihn unterrichtet haben.
Nach jedem Namen wartet er auf eine Reaktion.

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Als sein Vater an einem Gehirnschlag stirbt und Georg Pirner 1967 zurück auf den Bauernhof muss, ist er im zwölften Semester. Ein halbes Jahr hilft er seiner Mutter. „22 Tagwerk Land und noch dazugepachtet.“
Dann wird er eingewiesen.
Warum? „Ich bin nachts in den Wald, die Nacht im Wald ist ja nicht lang.“ Die Leute hätten geguckt, wenn sie ihn sahen im Wald, „haben aber schon gegrüßt“. Außerdem „hab‘ ich aus Viecherei mit der Schaufel Erde auf die Straße. Meine Mutter ist zum Doktor gegangen. Weiß ja nicht, was sie dem gesagt hat.“
Er wird entmündigt. „Wegen Geistesschwäche“ steht in dem Dokument, das in einem Karton unter Bildern auftaucht. „Eine schizophrene Prozesspsychose mit katatonischen Schüben, schon erheblich fortgeschritten.“ Acht Jahre war er in Erlangen in ‚einer Anstalt, in der er nur ganz wenig heimlich zeichnen konnte. Und immer wieder dabei erwischt wurde, was großen Ärger bedeutete. Die Pfleger sind ehemalige Bundeswehr-Zeitsoldaten, der Ton entsprechend. „Ich musste den ganzen Tag im Bett bleiben.“ Wie die anderen 25 Männer, mit denen er den Saal teilt.
Seit Georg Pirner 1976 in das Haus der Diakonie auf dem Zeilberg kam, macht er jeden Tag Bilder, vier, fünf, sechs Stück. Heim oder Anstalt solle man nicht sagen, Pfleger oder Wärter auch nicht, sagen die Betreuer im Haus auf dem Zeilberg. Patienten, na ja, das sei in Ordnung. In dieser Atmosphäre hat Georg Pirner Zeit und Ruhe zum Malen. Für die anderen sechzig Insassen, Männer und Frauen mit schweren psychischen Problemen, in der Mehrzahl Schizophrene, ist er eine Respektsperson. Weil er schon so lange da ist. Weil er malt. Und weil er so viel Ruhe ausstrahlt. Selten geht er in die kleinen Aufenthaltsräume. Nach dem Essen verschwindet er sofort wieder aus dem Speisesaal. Anders als die meisten anderen ist er überhaupt nicht interessiert an engem Kontakt zu den Pflegerinnen und Pflegern.
In den Aufenthaltsraum zu gehen ist ein Abenteuer. Ein kleiner Mann kommt auf jeden Besucher zugeschossen, packt resolut dessen Hand und schüttelt sie. Alle drei, vier Minuten kommt er wieder, schnappt die Rechte und schüttelt sie, sein Griff ist fest, die Bewegung schnell, vier, fünf, sechs Mal hoch und runter. Er lächelt dabei, sieht glücklich aus, lässt los, geht wieder zu dem alten Sperrmüllsessel in der Ecke, fällt erleichtert rein. Und tritt kurz darauf wieder an.
Die ganze Zeit geht am Aquarium ein großer, hagerer, alter Mann im Kreis. Die linke Hand hat er in der Hosentasche, mit der rechten schnippt er locker wie James Last zu einer Melodie, die nur er hört. Stundenlang, ohne eine Pause. Sein Blick ist starr, er nimmt nichts wahr, nur die Melodie. Am Tisch sitzt einer mit großen Augen, starrt eine Literflasche an, auf deren Etikett „Schwippschwapp“ steht. Auch stundenlang. Immer wieder kommt eine Frau herein, sagt viel zu laut „hallo!“ und greift gierig nach der kleinen Dose neben dem Aquarium, schüttet kräftig Fischfutter ins Wasser, rennt wieder raus und ist kurz darauf wieder da.
Die acht bunten Fische bewegen sich träge im Wasser. Futter interessiert sie nicht mehr, genauso wenig wie die Frau sich dafür interessiert, dass die Dose am frühen Nachmittag leer ist. Sie kommt immer wieder zum Fütterritual. Der Mann am Tisch greift blitzschnell, als wolle er sie fangen, nach der Flasche. Er stopft die ganze Öffnung in den Mund, hebt sie aber nicht. Nach einigen Minuten stellt er sie wieder ab. Fremde fühlen in der eigentlich friedlichen, entspannten Atmosphäre eine Bedrohung. Die lässt mit der Zeit ganz langsam nach, das Gefühl von Ruhe und Frieden wächst, das der Angst geht aber nie ganz weg. Georg Pirner ist selten hier. „Ich male lieber.“
Dass er malt und zeichnet, sei sehr gut, sagt Dr. Mathias Jahnel, der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, der ihn betreut: „Maltherapie hat einen Stellenwert in der Psychiatrie. Bilder können ausdrücken, was Worte nicht mehr können.“ Schizophrene hätten Schwierigkeiten, sich anderen mitzuteilen. Bilder würden oft mehr als Worte über Stimmungen und Gefühle sagen. Ein Beispiel: Georg Pirner male mehr, wenn es ihm gut geht. Hat er einen schizophrenen Schub, höre er auf zu malen. Er würde aber nie zu einem der Pfleger sagen: „Ich höre wieder Stimmen.“ Es sei allerdings ein weit verbreitetes Vorurteil, so Jahnel, dass Schizophrene mehr malen als Gesunde. Nur: Wenn sie malen, dann sind die Bilder wichtig.
Gut ein halbes Prozent der Deutschen hat schizophrene Erkrankungen. Eine halbe Million Menschen in der Bundesrepublik mindestens, eher mehr. Also mehr, als Hannover Einwohner hat, eher so viel wie Frankfurt am Main. Die genaue Zahl kann nicht bestimmt werden, weil es keine allgemein anerkannte Definition und Abgrenzung für die Krankheit gibt, die früher Dementia praecox genannt wurde. Relativ viele Menschen sind schizophren, ohne dass es auffällt. Schleichende Persönlichkeitsveränderungen ohne abnorme Erlebnisweisen, heißt das dann. Schizophrene selbst wissen am allerseltensten, dass sie es sind. Georg Pirner sagt: „Die sagen, [155] dass ich schizophren bin, da muss man die fragen.“ Er vermeidet das Wort, wenn es irgendwie geht.
Schizophrenie ist die große Unbekannte der Psychologie, noch nicht richtig erforscht, ohne schlüssige Erklärungen. Das Wort wird als Sammelbegriff benutzt für verschiedene Zustände, für die tiefgreifende, unterschiedlich ausgeprägte Störungen charakteristisch sind. Denkstörungen, gespaltene Persönlichkeiten, Kontaktverlust zur Umwelt, Halluzinationen und Wahnvorstellungen, Sprachstörungen, all das wird als Schizophrenie zusammengefasst. Klar ist: Es gibt Plus- und Minus-Syndrome. Plus: Wahnvorstellungen, Stimmen hören, sich verfolgt fühlen. Minus: Depressionen, Energielosigkeit, Zurückgezogenheit, die sprachlichen Fähigkeiten lassen nach. „Man kann sich nicht mehr so gut ausdrücken, aber ist nicht verblödet“, so Jahnel. Die Wahrnehmung ist anders: „Schizophrene beschreiben Fotografien anders als Gesunde.“ Weil sie etwas anderes auf den Bildern sehen. So sagt Georg Pirner, wenn man mehrmals nachfragt, die Augen seien doch zu auf diesem Porträt da. Doch die Augen sind offen.
Ursache ist wohl eine Störung des Gehirnstoffwechsels. Zu viele Botenstoffe. Die Umwelt, die Familie, die Erziehung könnten vielleicht eine Rolle spielen. Die Krankheit tritt oft in Schüben auf. Manche haben einen Schub, dann meldet sich die Krankheit nie mehr. Viele Schizophrene werden völlig geheilt. Viele aber nicht.
Dass Georg Pirner zeichnet und malt, ist für ihn „ein Vergegenwärtigen der Person“, erklärt der Psychiater. „Das eigene Körperempfinden der Patienten ist gestört. Für uns sind das monotone Bilder, sie aber sehen Unterschiede. Er malt das innere Bild, das er von sich hat. Er sieht sich eben jünger.“ Den Zwang, sich zu malen, hinterfragt Georg Pirner nicht. Wenn man ihn bedrängt, antwortet er nur: „Ich male, damit ich es nicht verlerne. Der Strich soll nicht verloren gehen im Alter.“
Auf dem Tisch stapeln sich Bilder und Skizzen von Pirner. Sie alle zeigen, detailgetreu, perfekt, ohne irgendeine Variation, ein einziges Motiv: Pirners Kopf. Die Stirn immer hell, der Rest des Gesichts mit vielen Schatten. Die Pupillen, riesengroß, füllen fast die ganzen Augen aus. Immer wieder Georg Pirner, immer aus einem ganz bestimmten Winkel, weil er den kleinen Rasierspiegel mit violettem Plastikrahmen in der Linken hält, wenn er sich porträtiert. Es gibt Pirners Gesicht mehrere tausend Mal in Pappkartons im Keller des Heims. Pirner in Blei, Pirner in Kreide, Pirner gemalt mit Wachsmalstiften, mit Tusche, mit Kuli, Pirner in Ölfarbe, immer Georg Pirners Gesicht.
99 Prozent seiner Arbeiten sind Selbstporträts. Nur ab und zu liegt ein Landschaftsbild im Stapel oder eine Skizze, die er aus einem Buch abgezeichnet hat. Er macht diese Bilder nur, wenn ihn die Betreuer oder Ärzte dazu drängen, wenn sie tagelang darum bitten. Hunderte der Selbstporträts sind völlig identisch. Dann tauchen kleine Unterschiede auf. Am 22. November 1995 malt er sein Gesicht runder. Am 23. November 1995 eckig. Manche Bilder zeigen ihn mit mehr Falten, als er hat, auf ganz wenigen sind seine Augen zugepresst. Am 17. November 1995 hat er auf zwei Bildern längere Haare als auf einem anderen mit demselben Datum. Da war der Friseur da. „Zwölf Mark, der kommt drei- bis viermal im Jahr“, sagt Georg Pirner.
Fast das ganze Jahr 1995 malt er sich dicker. Im Mai 1996 ist sein Gesicht besonders eckig. Das heißt nicht, dass sein Gesicht eckiger war, das heißt nur, dass Pirner sich in der Zeit eckiger wahrnahm, als er in den Spiegel schaute. Auch 1998 sieht er sich so wie 1994 oder 1996, er benutzt aber mehr Maltechniken als sonst. 1999 malt er wieder mehr rote Porträts, wie schon die ganzen achtziger Jahre hindurch. Ein einziges der Bilder ist ganz anders: Georg Pirner hat einen Schal um den Hals. Er hat sich so gemalt, weil der Betreuer ihn drängte. Vielleicht hat er den Schal, den er einem anderen zuliebe gemalt hat, gar nicht wirklich gesehen. „Was soll ich denn sonst malen? Der Herr Budik sitzt mir ja nicht Model.“ Herr Budik, ebenfalls schizophren, hört ständig Stimmen, die es nicht gibt. Redet wochenlang kein Wort. Schaut manchmal völlig teilnahmslos, nimmt nichts wahr.
Er teilt mit Georg Pirner das Zimmer. Vier mal vier Meter, zwei Betten, zwei Schränke, ein Tisch und vor dem Fenster Pirners Pult. Herr Budik sitzt stumm auf dem Bett, die großen Hände im Schoß. Sein Kopf ist riesig und eckig. Obwohl Herr Budik zusammengesunken ist, wirkt er stämmig wie ein Bär. Seine Augen sind in tiefen, dunklen Höhlen. Er antwortet nicht, wenn man ihn anspricht, sitzt stundenlang da, die Lippen nie ganz aufeinander, sabbert er vor sich hin. Plötzlich [156] hebt Herr Budik seinen Hintern zehn Zentimeter hoch vom Bett, lässt sich wieder fallen. Das macht er kurz hintereinander drei- bis viermal, dann ist er wieder eine Stunde lang ruhig auf dem Bett. Schizophrenie ist unbekannt Einmal, erzählt die Betreuerin, habe Herr Budik „Guten Morgen“ gesagt, als jemand in sein Zimmer kam. 1997 oder 1996? Sie weiß es nicht mehr genau. Herr Budik sitzt auf dem Bett, Georg Pirner am Pult. In der Linken hält er den kleinen Spiegel, in der Rechten den Bleistift. Für ein Selbstbildnis braucht er zwei, höchstens drei Minuten. „Farben nehm‘ ich nicht so gern, da weiß man ja nie, welche man nehmen soll.“
Er schaut in den Spiegel, sieht etwas anderes darin als jeder andere. Vielleicht betont er seine Nase, weil er den Spiegel schräg hält und sie von unten sieht. Wegen des Lichts erscheint ihm seine Stirn heller. Das ist alles nachvollziehbar. Aber warum sieht sich der 62-Jährige mindestens zwanzig Jahre jünger? So hat er vielleicht in den 60er Jahren ausgesehen. „Was soll ich denn sonst malen?“ fragt er zurück.
Vor kurzem, sagt er, war er mit dem Gesangsverein mal wieder am Kilimandscharo, „mit dem Bus“. Einmal in Kuwait, „lauter Ölleitungen“, einmal am Taj Mahal und „einmal in den Himalaja“. Die Panamericana hat er auch mit dem Gesangsverein abgefahren, von Norden nach Süden. Von Süden nach Norden. „Ich bin nur“, das ist ihm sehr wichtig, er sagt es dreimal, „passives Mitglied.“ „Ein Tagesausflug. Abends waren wir wieder hier zum Essen.“ Das würden sie immer so machen. An Fahrten mit Schiffen kann er sich nicht erinnern.
„Wenn er das so erzählt, hat er es so wahrgenommen. Es gibt auch angenehme Wahnvorstellungen“, sagt der Psychiater. Unter den Bildern ist eines, das das Gesicht einer Frau zeigt, jung, hübsch, sexy. Ein Bild aus der Vergangenheit? Georg Pirner sagt nichts dazu. Die Betreuerin erklärt später, dass er das aus einer Zeitschrift für sie abgemalt habe, auf ihr Bitten und Drängen. Sie findet das Magazin nicht mehr, erinnert sich aber genau an das Foto. „Ein Modell, sie sieht anders aus, als er sie gemalt hat. Das war ein Ganzkörperfoto, er hat ein Porträt gemacht, nur das Gesicht.“
Die Pyramiden haben Georg Pirner besonders gut gefallen. „Ich hab‘ nur durch das Busfenster geschaut. Ich war‘ schon gerne ausgestiegen. Aber das geht ja nicht, wäre wohl zu teuer geworden. Wir steigen nie aus, nehmen immer die Fähre, zum Abendessen sind wir immer daheim. Auf Rhodos waren wir auch mal.“
Die Tagesreisen im Bus gefallen ihm sehr, antwortet er auf eine Frage, denn von sich aus erzählt er ja nichts, überhaupt nichts. Die Eindrücke, er sagt dazu Erinnerungen, sind ganz deutlich in seinem Kopf. Aber Motive bieten sie ihm keine. Die Stimmen, die nur er hört, sagen Georg Pirner, er soll sich malen.
Plötzlich geht die Tür auf. Herr Budik reagiert überhaupt nicht, Georg Pirner schaut hin und hört auch zu, als die Frau, die sonst die Fische füttert, laut und glücklich ruft und gleichzeitig nach Luft schnappt: „Ich krieg‘ jetzt andere Pillen. Zwei. Ganz andere. Weiß. So Kapseln. Ganz andere.“ Georg Pirner sagt nichts. Herr Budik sagt nichts. Die Frau freut sich und geht. Georg Pirner sitzt da und schaut den Bilderstapel auf dem Tisch an.
Und plötzlich, aus eigenem Antrieb, sagt er, „heute Abend ist baden, und morgen fahren wir zum Arzt.“ Stimmt, das hat die Betreuerin auch schon erzählt. Dann greift er nach dem nächsten Blatt Papier und beantwortet endlich eine Frage von heute Morgen, monoton und leise wie immer. „Doch, doch, es gefällt mir hier gut.“ Hängt dann sein „Ich weiß nicht“ dran. Er nimmt den schwarzen Wachsstift und beginnt sein nächstes Selbstporträt, schaut sich im Spiegel an, huscht das Bild ganz schnell hin, malt sich ganz anders, als er aussieht. Ein Standard-Pirner. Dann legt er es auf den Tisch. Ohne noch einmal draufzuschauen.