In einem tiefen, dunklen Tal

Reportage
zuerst erschienen 2014 in Cicero Nr. 6
Fassung des Autors
Zu Besuch bei einem Weltmarktführer

Es war einmal ein großer Wald im Süden des Landes. Mit Tälern ohne Sonne, weshalb die Leute ihn den schwarzen Wald nannten. Im Schwarzbachtal saßen der Betriebsrat der Schneider Schreibgeräte GmbH und der Firmenchef Roland Schneider zusammen und beschlossen: Wir fangen früher an des Morgens, damit wir abends früher aufhören können. So hatten sie, die 350 Mitarbeiter, am Nachmittag mehr Zeit für ihr Vieh und die Äcker. Viele der Männer und Frauen, die Kugelschreiber im Schwarzbachtal entwickeln, herstellen und in die weite Welt verkaufen, waren in den 1970er-Jahren Nebenerwerbslandwirte.

So kommt es, dass man noch heute um kurz nach sechs in der Früh auf der Landstraße 175 nach Süden in das Schwarzbachtal gen Tennenbronn abbiegt und bremst. In der dunklen Nacht leuchtet helles Licht! Groß und strahlend wie in einem Traum. Die Fabrik. Die Straße dahin mit Steinschlag-Warnschildern ist schmal und kurvenreich. Ein Eichhörnchen huscht über die Fahrbahn, Vögel zwitschern Horrorfilm-laut, der Bach rauscht und sprüht.

Ist das eine Parallelwelt, eine gelebte Stephen-King-Verfilmung? Alles ist in Ordnung, sagt Martina Schneider, die Enkelin des Firmengründers. Sie ist schon eine Weile da und nimmt den Besuch in Empfang. Sie wollte, dass man möglichst früh zur Fabrik kommt, weil es da viel zum Anschauen gibt. Und sie immer sehr früh zur Arbeit kommt.

Das Gebäude wirkt verwirrend verwinkelt. Die Fabrik war anfangs, 1937, nur ein Haus. Die Schneiders stellten Schrauben und Drehteile für Zünder, also Waffen, her, ab 1947 Kugelschreiberminen, ab 1957 komplette Kugelschreiber. Firmengründer Christian Schneider war vernarrt in das damals neue Schreibgerät, suchte Kontakt zu dem Erfinder des Kulis, Lazlo Biro. Christian Schneider hatte den Ehrgeiz, die besten Kulis herzustellen. Das funktionierte nach und nach, auch weil Biro mit Ratschägen half.

Es kam die Zeit, da brauchte die Firma jedes Jahr mehr Platz. So wurde das Werk in Jahrzehnten zusammengewürfelt. Zusätzliche Fläche aus dem Felsen gesprengt. Die Aussicht aus dem Fenster des Konferenzsaals sind dunkle Steine in zwei Meter Entfernung. Für Unbekannte wirkt das Gebäude wie ein Schloss, in dem man orientierungslos bleibt. Selbst Martina Schneider, die hier aufwuchs, als Schülerin in den Ferien an den Maschinen arbeitete, sagt, sie verlaufe sich noch manchmal.

Schneider ist heute Weltmarktführer. Charmant sagt Martina Schneider: „Da muss ich jetzt mal spickeln“ und holt die Zahlen aus den Unterlagen: 1,3 Millionen Kugelschreiberspitzen produziert Schneider. An jedem Tag. Auch für andere Kulihersteller. Minenspitzen sind der wichtigste Teil eines Kulis. Schneider macht sie für andere Marken, macht auch No-Name. Aldi verkauft deutschlandweit zu Schulanfang hier hergestellte Kulis. 120 verschiedene Kuli-Spitzentypen kann Schneider. Hat 20 eigene Kuli-Modelle, jedes in 12 Farben. 120 Millionen Schreibgeräte im Jahr. 60 Prozent davon verkauft Schneider ins Ausland. 100 Tonnen Stahl verbraucht das Werk jährlich.

Das sind Zahlen, die sie, naja, sie erzählt sie halt. Wichtiger sind ihr andere: Wenn in einer Charge beim Testen ein Fehler gefunden wird bedeutet das 15.000 Minenspitzen werden sofort vernichtet. In den Mikroskopen der Qualitätskontrolle ist zu sehen: ein Kanal für Tinte in einer Mine hat 0,03 Millimeter. Ein menschliches Haar ist dreimal dicker.

Genug Zahlen, auf dem Weg vorbei an Maschinen, die sonst nur in der Medizintechnik verwendet werden, sagt Martina Schneider einmal: „So echtes Hochdeutsch, das hört sich schon beeindruckend an“. Ironie? taucht kurz als Gedanke auf. Sie war von Tennenbronn nach Amerika, Costa Rica, Panama und Frankfurt gegangen. Vor drei Jahren kam sie zurück. Hadert manchmal etwas mit der Provinz. Scheint sich fast zu schämen, weil hier im Tal „ein absolutes Funkloch ist“. Hat den schwäbisch-badischen Minderwertigkeitskomplex, der wichtiger Antrieb zu sein scheint. Sorgt er doch noch immer dafür, dass sie hier arbeiten, als müssten sie dem Rest der Welt was beweisen.

Das mit dem Verlaufen in dem Werk ist keine Koketterie: Stunden später auf der Suche nach dieser Maschine, die der Engländer entwickelt hat, da steht sie wirklich an einer grünen Stahltür und sagt: „Oh, wir sind falsch.“ In der Firma, die etwas von einer Großfamilie hat, duzen sich alle, stammen aus der Gegend. „Aus fast jeder Familie arbeitet wer hier“. Sie reden den Dialekt, der wohlige Wärme verbreiten kann. Sind stolz auf die Kugelschreiber und die anderen Schreibgeräte.

Schneider ist die einzige Firma in dieser von deutschen Unternehmen dominierten Branche, die nur hierzulande produziert. Die versucht, möglichst nur in Deutschland Teile zuzukaufen. Hat Spezial-Know-How, weswegen Firmen wie Stabilo, Staedler, Faber-Castell, Lamy, Pelikan, aber auch Pilot, der große japanische Konkurrent, Teile von Schneider zukaufen. Schneider gilt als die Firma, die das schwierigste, nämlich gute Minenspitzen, kann.

Die Dominanz war immer da, weil der Firmengründer sich in das Thema reingefressen hatte. Wurde verstärkt durch AT. Bei Schneider entwickelten sie das Verfahren in den frühen 90ern. Einfach so: Ihr Vater Roland, der die Firma damals alleine leitete, habe erzählt, dass sie zusammensaßen und beschlossen, die Kugel vorne in der Mine, die muss doch irgendwie noch weicher gleiten können. Sie forschten und entwickelten vier Jahr bis die so glitt, wie sie wollten. Für was die Abkürzung AT steht, weiß heute niemand mehr. Ein paar Mitarbeiter vermuten Advanced Technology. Aber sicher ist sich keiner. AT bedeutet, Kunststoff und Metall wurden kombiniert auf kleinstem Raum. AT-Herstellung ist kompliziert, niemand anders macht das.

Martina Schneider führt den später entwickelten Glider vor. Dessen Technik die Konkurrenten erst seit Kurzem auch beherrschen. Immerhin fünf Jahre Vorsprung hatten sich die Schneiders da noch mal erforscht.

Nun kommt wieder ihr Bruder Christian dazu. Am frühen Morgen hatte er gelächelt. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen und er sagte: „Ich habe drei Tage nicht geschlafen.“ Das war eigentlich alles. Weg war er. Frank Groß, der andere Geschäftsführer, hatte auch nur kurz die Hand geschüttelt und gesagt, er habe keine Zeit, ginge wirklich nicht. Nun klärt sich das auf: Sie entwickeln gerade etwas Neues. Projektarbeit ist das Wort, das sie benutzen, wenn sie die Nächte durcharbeiten. Wobei das nur die halbe Geschichte ist, Christian Schneiders Frau hat gerade ein Baby bekommen. Er ging also nach der Projektarbeit heim, um sie zu entlasten. Die anderen blieben für die normale Arbeit in der Fabrik.

Christian Schneider war aus dem Schwarzwald nach Berlin gegangen, kam 2008 zurück, ist seit 2010 gemeinsam mit seinem Vater Roland und Frank Groß Geschäftsführer.

Er ist noch mal zurückgekommen, um die Geschichte von dem Engländer erzählen, denn er hat den als Kind noch kennengelernt. Damals hatte Schneider bei dem Mann in London Dochte für die Marker kauften, weil die einfach besser waren, die Farbe gleichmäßiger aufsaugten. Roland Schneider besuchte die Produktion am Rande Londons. Er fand eine Garagenfirma und den alten John Clading-Boel. Der wusste, er hat Krebs und wird bald sterben und wollte, dass die Schneiders seine innovative Technik übernehmen.

Für fast zwei Jahre kam er in den Schwarzwald, lebte bei den Schneiders, tüftelte mit den Schneiders und spielte mit den Kindern Tischfußball. „Der war klasse“, sagt Christian Schneider. Eine Woche nachdem die Maschinen so liefen, wie sie laufen sollten, flog er nach London und starb ein paar Tage später. „Der hat sich hier richtig wohlgefühlt.“

Inzwischen arbeite nur noch ein Ehepaar als Nebenerwerbslandwirte, habe 50 Kühe, „sie sind an dem Hof sicher vorbeigefahren“. Die anderen aber wollen nicht nur früh anfangen, sondern arbeiten abends auch länger, weil dann alle am Freitag um 14 Uhr in das Wochenende gehen können.