Warum Herr Terfort weggeht

Reportage
zuerst erschienen am 19. Mai 2005 in Stern Nr. 21, S. 78 ff
32 Jahre lang verkaufte Klaus Terfort Arbeitskleidung von Deutschland aus in die Welt. Jetzt zieht er mit seinem Unternehmen von Norderstedt bei Hamburg nach Vilnius. Der stern hat mit ein- und ausgepackt

Freitag, der letzte Tag der Oyster KG in Deutschland. Die Firma, ein Großhandel für Arbeitskleidung, macht sechs Millionen Euro Umsatz, aber ab nächstem Montag nicht mehr in Norderstedt am Rande Hamburgs, sondern in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Mitarbeiter, extra aus Vilnius eingeflogen und trotzdem, betriebswirtschaftlich betrachtet, billiger als deutsche, packen in der schon halb leeren Halle die Reste des Unternehmens in Pappkartons, heben sie mit dem Gabelstapler auf vier große MAN-Laster.

Nur die 37 Pappkartons mit den Unterlagen für das Finanzamt werden im Keller des Ehepaars Terfort, der Oyster-Besitzer, in Norderstedt eingelagert. „Muss man ja zehn Jahre aufheben“, sagt Klaus Terfort, 66, ein grauhaariger, ruhiger Mann mit tiefer, friedlicher Stimme. Alles andere geht ins Baltikum. Selbst die Zierpflanzen, die alte Kaffeemaschine und die abgeschabten Frühstücksbrettchen aus der Küche kommen in Kisten.

Schon seit zwölf Jahren produziert Oyster in Vilnius, beschäftigt inzwischen 100 Näherinnen. Die Firma wächst stetig. Davor hat Oyster in Pakistan, Polen und China Overalls, Latzhosen, Imkerkleidung, Zunftanzüge, Pilotenjacken, Feuerwehranzüge und Sicherheitsschuhe herstellen lassen.Wegen der hohen Lohnkosten war Deutschland nie als Produktionsstandort infrage gekommen, auch nicht in den 70er Jahren. Doch Lager, Vertrieb, Marketing, Firmensitz, der Ort, an dem Steuern bezahlt wurden, war immer in Deutschland, 32 Jahre lang. Vorbei. „Es ist ein trostloses Gefühl“, sagt Anne-Lore Terfort, 64, „aber es muss sein.“ Die kleine, quirlige Frau wirft die lederne Unterschriftenmappe in einen der wenigen noch leeren Kartons. Eine neue Dimension der Globalisierung ist erreicht: Die Firmenzentrale eines mittelständischen Betriebs, so was gilt als Rückgrat der deutschen Wirtschaft, wandert aus. Die Laster sind voll gepackt, morgen fahren sie nach Kiel und dort auf die Fähre. Die soll die Reste der einstmals deutschen Firma über die Ostsee in eine bessere Zukunft bringen. Oyster hatte in den besten Zeiten 24 Arbeitsplätze. Die sind weg, weil aus der deutschen KG eine litauische UAB wird. Von Vilnius aus wird Oyster weiterhin Deutschland, England und Irland beliefern.

Wenn Einzelhändler oder Betriebe die alte Telefonnummer mit der Hamburger Vorwahl wählen, landen sie, ohne dass die Anrufer es merken, in Vilnius. Dort nehmen Beata, Sigme oder Ruta die Bestellungen entgegen. Die Frauen können gut Deutsch, wenn auch mit starkem osteuropäischem Akzent. Aber das ist ja einer, den man in Deutschland inzwischen überall hört.

Klaus Trefort wirft den Inhalt seiner Schreibtischschubladen in den letzten Karton. Plötzlich, am zweiten Tag des Packens, bricht es aus ihm heraus: „Es ging nicht anders.“ Er ist jetzt eine dieser Heuschrecken.Habe aber kein schlechtes Gewissen. Warum auch? „Ich hab es lange versucht.“ In Vilnius sind die Löhne etwa 60 Prozent niedriger, und „die Betriebssteuer dort ist ein Bruchteil der hiesigen“. Auch bei Kleinigkeiten seien die Unterschiede offensichtlich: „Briefpapier und Prospekte lasse ich schon länger dort drucken. Die Qualität ist besser. Die drucken sorgfältiger. Liefern pünktlich.“ Er wirkt verbittert, als hätte ihn der Standort Deutschland beleidigt.

Früher hat er Stoffe in Deutschland gekauft und zur Produktionsstätte im Baltikum geschickt. Seit einigen Monaten kauft er direkt dort. Nur Garne bestelle er noch in Deutschland, ein paar Stoffe in Portugal und Italien. Die Kartons, die Oyster als Verpackung braucht, besorgt er schon lange in Litauen. Auch neue Nähmaschinen kauft er nur noch in Litauen, nicht mehr in Deutschland. Hergestellt werden die ja sowieso in China. Wenn er sie in Vilnius ordert, sind sie um einiges billiger. Trotzig sagt er: „Meine Anzüge kaufe ich auch in Vilnius, sie sind dort billiger und besser verarbeitet.“ Terfort legt Wert darauf, „dass ich mein Einkommen auch weiter hier versteuere“. Nach Litauen wird er nicht ziehen, sondern von zu Hause aus ab und zu nach dem Rechten sehen. Langsam in die Rente gleiten wolle er. Wichtig ist ihm, dass Litauen zur EU gehört. Er fördere also den europäischen Gedanken, wie deutsche Politiker das im Fernsehen immer fordern. Aber wahr sei auch, von Deutschland als Betriebsstandort habe er die Nase voll. „Zu viele schlechte Erfahrungen.“ Der Hauptgrund für die Flucht sei: „Die Litauer sind fleißiger.“ Gerade war seine letzte Auseinandersetzung mit seinem letzten Lagerarbeiter. Den hatte er freigestellt, als der einen neuen Job fand. Als Ersatz ließ er Litauer einfliegen. Der neue Job im Lager einer Brotfabrik habe dem Deutschen aber nicht gefallen, nach drei Tagen sei er wieder da gewesen, „also habe ich ihn weiterbeschäftigt, trotz des gültigen Auflösungsvertrags“. Und gerade eben gefragt, ob er denn ausnahmsweise morgen, Samstag, kommen könne, um die letzten Reste aus der Halle in den Müllcontainer zu werfen. „Dafür habe ich ihm zwei freie Wochen angeboten, aber er sagt nein, er arbeite samstags nicht. Müsse er nicht.“ Er hätte den Mann bei zwei Bekannten in deren Firmen unterbringen können, „aber das werde ich jetzt schön lassen“.

Terfort schüttelt verbittert den Kopf. „Oder der Ärger mit den Lehrlingen, die brechen doch alle ab, sind ständig krank, kommen zu spät, sind sich für alles zu gut, das muss ich nicht mehr haben. In Litauen gibt es noch Disziplin und Respekt.“ Klingt seltsam, wenn er das sagt, denn er ist sicher kein knochenharter Kapitalist, die Terforts wirken eher wie Übriggebliebene aus Hippiezeiten. Anfang der 60er Jahre wanderten sie nach New York aus. Er arbeitete als Schuhverkäufer, fing an, nebenbei auf eigene Rechnung europäische Edelmarken zu importieren und in der Mittagspause zu Kunden zu bringen. Dann wurde er Einkäufer der Kaufhauskette K-Mart. Anne-Lore Terfort arbeitete als Directrice und Designerin für New Yorker Modemacher. Bevor sie 1969 wieder nach Deutschland zurückkamen, fuhren sie ein Jahr lang mit ihrer damals zweijährigen Tochter im bemalten VW-Bus von Alaska nach Feuerland.

1972 gründeten die beiden mit Partnern die Vorgängerfirmen von Oyster. Es gab richtig gute Zeiten, weil Klaus Terfort Instinkt hatte. Seine Erfolgsidee: Erfuhr auf großen Lastern mit eingebauten Umkleidekabinen die Arbeitskleidung zu den Betrieben. Das Geschäft wurde direkt vor Ort gemacht. Die Idee verkaufte er später. Die Terforts aber gründeten Oyster. Seit 20 Jahren gibt es ihre Firma in Norderstedt. In ihren letzten Monaten in Deutschland hatte die offiziell noch drei Mitarbeiterinnen im Marketing und Vertrieb.

Im Januar, drei Monate vor dem Abtransport der Firmenreste, sagten die Terforts ihnen, dass und wann es in Deutschland mit Oyster zu Ende gehen wird. Zwei meldeten sich krank und schickten Atteste, die dafür sorgten, dass sie nie mehr für die Firma arbeiten mussten. „Ich habe Beata, Signe, Ruta einfliegen lassen. Die Frauen haben Magisterabschluss“, sagt Klaus Terfort. Seine Frau ruft aus dem anderen Raum: „Reden wir nicht drum rum, in Litauen wird noch gearbeitet.“ Jetzt, da die Laster beladen sind, geht sie, ganz Mutter der Kompanie, mit einem der Litauer Geburtstagsgeschenke für dessen Frau kaufen. Morgen, wenn die Laster schon auf der Fähre sind, will sie mit den vier Litauern, die einen Tag später fliegen, zum Jahrmarkt in Hamburg. Damit die ein bisschen Spass haben und einen guten Eindruck von Deutschland bekommen.

Klaus Terfort setzt sich zum letzten Mal auf den alten Stuhl und schildert, wie er vergebens einen Nachfolger gesucht hat. „Ich kann das ja nicht mehr lange machen, wollte die Firma jemandem übergeben, der mich nach und nach auszahlt. Aber es kamen nur so junge studierte Betriebswirte, die Riesengehälter wollten und mindestens einen Firmenwagen, und zwar keinen kleinen. Aber sie wollten null Risiko tragen, nur ein gemachtes Nest. Und die haben alles besser gewusst.“

„Oyster soll weiterbestehen“, sagen die Terfords. Also haben sie Valerijus Jezerskas, 44, ihren Betriebsleiter in Vilnius, „einen richtig motivierten Mann“, mit 24,9 Prozent an der Firma beteiligt. Der Anteil ist ein Kredit, Jezerskas zahlt monatlich was von seinem Gehalt und Gewinnanteil an die Besitzer. Später soll die Firma ganz an ihn fallen.

Jezerskas steht mit einem Landsmann auf einem hohen Gerüst und schraubt Verstrebungen ab. Klaus Terfort deutet nach oben: „Ein Deutscher würde da nie hochgehen, würde sagen, zu gefährlich, gegen irgendwelche Vorschriften. Wahrscheinlich müsste ich dafür extra einen teuren Fachmann bestellen, der dann irgendwann mal käme.“ Er klingt frustriert, deutet noch einmal hoch. Valerijus sei, wie gesagt, Geschäftsführer. „Ein deutscher Geschäftsführer, der mit den Mitarbeitern Container voll packt, sich die Hände schmutzig macht? Unmöglich.“ Die Litauer klettern mit Leitern aufs Flachdach und schrauben das knallrote Firmenschild ab. Alles, wirklich alles, geht nach Litauen, transportiert von einer deutschen Spedition. Die Fahrer sind aber aus Litauen und Lettland. Dienstag in Vilnius, der erste Tag der Oyster & Co, UAB. Geschäftsführer Jezerskas trägt wieder seine rote Latzhose, hebt mit Sigitas Ertmanas, dem Buchhalter im blauen Overall, Teile der alten Küche aus dem Lastwagen. Immer wenn sie nichts schleppen, rennen sie. Die Terforts sind noch in Hamburg.

Drei Tage später ist die Halle komplett gefüllt. Die alte blaue Küchenbank aus Norderstedt steht im kleinen Büro, die Frühstücksbrettchen liegen auf dem Tisch. Valerijus Jezerskas, nun nicht mehr in Latzhose, sondern in schwarzer Levi’s- Jeans und schwarzem Pullover, erzählt in seinem Büro, wie er mit den Terforts in Kontakt kam und wie die Firma jetzt organisiert ist: Die große Halle, in der produziert wird und sich die Büros befinden, haben die Terforts gekauft und an die Firma vermietet. Mit der Miete zahlen sie den Kredit ab. „Herr Terfort wollte mieten, aber ich habe ihm klar gemacht, fünf Jahre Miete ist der Kaufpreis, hier sind die Gebäude billig. Das Gebäude war in schlechtem Zustand, wir haben nach und nach renoviert, viel Arbeit reingesteckt. Heute ist der Wert dreimal so hoch. Es geht aufwärts mit Litauen.“ Die andere Halle, in der nun das Lager untergebracht ist, sei für zehn Jahre gemietet, „sehr billig, weil die Gegend nahe der Bahnlinie ist“.

Jezerskas hat als Techniker für eine Näherei gearbeitet, in der auch die Terforts produzieren ließen, damals, als sie noch mit ihrem Pferdeanhänger Stoffe brachten und fertige Ware abholten. Sie waren unzufrieden mit der gelieferten Qualität, also schlug Jezerskas ihnen vor, eine litauische Firma zu gründen. Das war 1996. Jezerskas wurde Produktionsleiter. „Der Anfang war schwer, Herr Terfort brauchte mehr und mehr Ware, wir kamen kaum nach.“ Nun hat er ein Ziel erreicht: Er ist Teilhaber. „Es ist gut, für sich selbst zu arbeiten.“ Die Zukunft leuchtet: Auch litauische Firmen kaufen inzwischen bei Oyster, obwohl die Firma nicht der billigste Anbieter sei, „aber der mit der besten Qualität“. Von Vilnius aus soll Oyster neue Märkte erobern, Polen und Lettland als Erstes. Nächsten Monat will er dort auf Messen gehen. „Herr Terfort begleitet mich, ich kann viel von ihm lernen.“

Mittwoch, das Telefon klingelt. Der erste Anruf aus England. Das ist die Premiere für Oyster & Co,. UAB in Vilnius, Litauen, vormals Oyster KG, Norderstedt bei Hamburg. Auch der Tag, an dem die Litauer auf dem Dach des Firmensitzes den großen Neonschriftzug „Oyster & Co, UAB“ anbringen. Das im Vergleich dazu mickrigkleine deutsche Oyster-Schild bleibt im Lager, ganz hinten.

Am Freitag geht der voll gepackte Laster in Klaipeda auf die Fähre nach England. Alles läuft wie geplant, nur das Telefon macht noch ein paar Probleme. Von drei bestellten Leitungen ist erst eine installiert. Eine deutsche Firma hat das nicht rechtzeitig hinbekommen.