Laufen bis ans Ende

Portrait
zuerst erschienen im August 2000 in Weltbild Magazin, S. 40-47
Mafir Mohammed ist Rikscha-Fahrer in Kalkutta. Fast täglich rennt der 60 Jahre alte Mann mit siner Last durch die indische Metropole. Mit 50 Kollegen teilt er sich ein karges Zimmer. Denn er müss verdienen für die Mitgift seiner zwei Töchter

[42] Gestern hat er nicht gearbeitet. Stattdessen 20 Stunden geschlafen, zweimal gegessen, jedes Mal acht große Pfannkuchen. Und die Arme und Beine eingeölt. Muss unbedingt sein, vor allem die Waden und die Arme brauchen Öl. Mafir Mohammed ist 60, seine Muskeln leiden. Heute aber wird Mafir Mohammed wieder eine Rikscha durch Kalkutta ziehen und damit sein Geld verdienen. Er braucht es zum Leben, und er braucht es unbedingt, um seine beiden Töchter loszuwerden. Die will er bald verheiraten, es wird Zeit, die Mitgift muss verdient sein. Zuletzt war er vor vier Monaten bei seiner Familie auf dem Land. Also hoch jetzt - aufstehen! Es muss sein, keine Frage, kein Traum, kein Wunsch, der Mann klebt fest an der Wirklichkeit. Er spricht kaum, hat nur einige Sätze, die er immer wieder benutzt. „Beine brauchen Öl.“ Oder: „Töchter sind teuer.“ Kurz darauf am Rand der dicht befahrenen Mushtaque Achmed Street. Mafir Mohammed steht zwischen den beiden Stangen der Rikscha, immer wieder hebt er die Rechte und schlägt seine kleine Glocke, die Ghongli, gegen das Holz. Er wirkt verloren, fehl am Platz, obwohl er seit Jahren dort steht. Die Rikscha ist alt, heruntergekommen: große, bis zu den Hüften reichende Holzräder, mit rostigem Metall beschlagen, das Holz schwarz lackiert, die Polster aus Lederimitat, abgeschabt, teilweise noch knallrot, meist aber nur grau.
Zwei Männer um die 50, zusammen sicher 160 bis 170 Kilo schwer, kommen. Er steht auf, hebt die Stangen an, damit der Sitz hinten runtergeht. Seine Augen verändern sich. Vorher wirkten sie schläfrig, ganz schnell werden sie groß. Die Männer, beide mit Turban auf dem Kopf und wohlhabend gekleidet, reden miteinander. Kein Wort zum Rikscha-Kuli. Sie steigen ein und Mafir Mohammed drückt mit aller Kraft, die er hat, die Stangen nach unten. Kurze Zeit hängt er dabei in der Luft, bis der Sitz hochkommt. Einer der Männer ruft: „Abdul Habin Lane.“ Das ist eine Fünf-Rupien-Fahrt. In Mitteleuropa bekommt man vier bis fünf Gummibärchen für den Gegenwert von fünf Rupien. Mafir Mohammed läuft los. Nein, er rennt. Weil er den Schwung braucht, um das Gewicht in Bewegung zu halten. Er muss, wie alle Rikscha-Knechte, immer rennen. Er atmet laut, es klingt, als würde er ständig stöhnen. Die Wangen bläst er regelmäßig auf. Sie sehen aus, als hätte er zwei Golfbälle im Mund. An den Armen und Beinen treten die Adern deutlich hervor, seine Augen wirken hysterisch, flitzen umher, beobachten den dichten Verkehr. Mafir Mohammed sagt: „Meine Augen sind das Wichtigste.“ Er rennt, rennt, rennt, seine Glocke klingt und sein Kopf wackelt im Takt seiner Schritte hin und her. So stark, dass er manchmal mit einer aufgeblasenen Wange eine Schulter berührt. Er überholt Autos, schneidet sie, rennt ihnen davon. Es gibt keine Fahrspuren auf der Straße, nur Matsch, weil es täglich regnet zur Zeit. Die Luft ist schlecht, eigentlich Smog, keine Luft mehr, den ganzen Tag, auch früh am Morgen, schwebt ein Schleier vor den Augen. Die Lungen strengen sich an, um genug Atem zu beschaffen. An zwei Kreuzungen muss Mafir Mohammed halten, ein anderes Mal muss er wegen eines Autos, das abbiegt, stoppen.
Da schimpft er, wünscht dem Fahrer Unfall und Tod. Anhalten bedeutet jedes Mal, dass er wieder Kraft braucht, um in Schwung zu kommen. Wenn er steht, drückt er die Rikscha-Stangen nach unten. Die Gäste müssen oben bleiben. Dabei verzieht Mafir Mohammed das Gesicht, es strengt ihn noch mehr an als das Laufen.
Kurz vor dem Ziel: Stau. Der kleinere Mann in der Rikscha ruft „halt“, bevor Mafir Mohammed gebremst hat. Da braucht er viel Kraft, rammt seine Fersen in den Matsch, wirft sich nach hinten und stemmt sich gegen den Druck der Rikscha. Dabei verharrt sein Körper in einem schrägen Winkel zum Boden. Das sieht aus wie eine Szene aus einem lustigen Zeichentrickfilm. Die Männer steigen aus, der größere gibt dem Rikscha-Kuli fünf Rupien. Kein Trinkgeld. Mafir Mohammed bedankt sich, indem er Kopf und Oberkörper nach vorne beugt, das Kinn auf die Brust legt. Es wird noch ein guter Tag mit vielen Fahrten und genug Geld. Am nächsten Morgen wieder hoch! Er steht sofort auf, als der hübsche Junge mit den schwarzen Augen, ohne Namen und ohne rechten Arm, um vier Uhr mit einem kurzen Ruf alle weckt. Mafir Mohammed ist einer der Ältesten hier, seit mehr als vierzig Jahren Walla, Rikscha-Mann. Er hat also Privilegien, immer die Frühschicht, fünf Uhr morgens bis vier Uhr abends. Zwar kann ein Rikscha-Knecht Nachtzuschlag verlangen, trotzdem verdient er tagsüber mehr. Deshalb müssen die Unerfahrenen, die 16-, 17-, 18-Jährigen nachts fahren.
Der Raum ist zwölfeinhalb Quadratmeter groß und hat eine schmale Tür in der Mauer. Außerdem sind ein Meter weiter links drei Ziegel rausgeschlagen. Aber wie draußen die Sonne auch steht, in dem Raum ist es immer dunkel. Die Gasse draußen ist keine zwei Meter breit, oben schmaler, denn alle Häuser neigen sich nach vorne. In der Höhle sind zwei Schnüre gespannt, daran hängen weiße Tücher, Hemden, T-Shirts und Baumwoll-Lungis, rockähnliche Baumwollschläuche, die man an der Hüfte knotet. Hölzerne Rikscha-Räder ohne Metall-Beschlag, ein Fahrrad, eine Vorderradgabel und ein Dutzend abschließbare Metallkisten, die Schatztruhen der Rikscha-Knechte, stehen an den Wänden. In einer Ecke Plastiktüten, in einer Töpfe und Näpfe, verbeultes Blech.

[47] Es riecht wie in einer Fabrik nach Maschinenöl. Wegen der dunkelbraunen, klumpigen Erde, die sie Vorjahren von einer Baustelle hergeschleppt haben. Fünfzig Menschen leben hier, in zwei Schichten, auf zwei Ebenen. Denn die Decke in 1,70 Meter Höhe besteht aus Holzbrettern, die kreuz und quer auf runden Balken liegen. Der obere Teil des Raums ist 1,50 Meter hoch. Mafir Mohammed schläft unten, weil es bequemer ist. Zum Frühstück gibt es Reis. Er isst mit der rechten Hand aus einem großen Napf, den der einarmige Junge zweimal füllt. Dann die Hände eincremen. Die linke ist voller Blasen. Seine Finger sind lang und faltig. Sein Oberkörper scheint keine Muskeln zu haben, nur Sehnen, Knochen und straff gespannte Haut. Fünf Rupien für eine kurze Fahrt, 20 für eine lange. Eine Rupie Zuschlag, wenn es regnet. Von Touristen verlangt er mehr. „Und sie geben es.“ 20 Personen fährt er mindestens am Tag. Am Ende braucht er auf jeden Fall 130 bis 140 Rupien. 30 gehen an den Besitzer der Rikscha, 15 bis 25 kostet das Essen, alle drei, vier Wochen braucht er für 15 Rupien eine neue Glocke und 50 Rupien pro Tag schickt er per Postanweisung seiner Familie. Der Sohn des Rikscha-Besitzers macht das für ihn, der kann das Formular ausfüllen. Macht er jeden Abend, für alle hier. „Ist ein Freund, traue ihm. Kommt aus gleichem Dorf.“ Alle hier sind aus Motihar in der Provinz Bihar, sind Muslime und damit eine Minderheit in Kalkutta. Rikschafahrer in Kalkutta sind immer Muslime. Die aus Motihar fahren in möglichst großen Gruppen heim, alle drei, vier Monate. Sie gehen zum Bahnhof, steigen ohne Tickets in den Zug, sind als Gruppe mächtig genug, auch ohne Fahrkarte transportiert zu werden. Stumm gehen sie alle im Morgengrauen die Gasse entlang, die Älteren voraus. Sie dürfen sich nachher die Rikschas aussuchen, die Jungen bekommen, was übrig bleibt. Deshalb , ist die Reihenfolge genau festgelegt, vor Mafir Mohammed kommen noch drei Männer dran. Sie biegen rechts ab, vorbei an der Wasserpumpe, in die nächste kurze Gasse, vorbei ; an ihrem Toilettenhäuschen. Sonnenlicht i taucht auf, die Gesichter sind plötzlich zu erkennen, als sie auf den Platz kommen. 20 Mann mit 20 Rikschas stehen schon da. Die älteren Wallas suchen sich schnell eine aus, klappen den Sitz hoch und legen ihre Khoinee-Dosen darunter. Khoinee sieht aus wie zäher, weißer Klebstoff. 15 Mal im Schnitt nimmt Mahir Mohammed täglich ein wenig aus der Blechdose mit der Aufschrift Alkali-Lime. Ein, zwei Minuten in der Hand walken, danach Tabak dazumischen und den Khoinee zwischen Zähne und Oberlippe schieben. „Ohne kann ich nicht laufen.“ Wer Khoinee zum ersten Mal in den Mund nimmt, muss kotzen, beim zehnten Mal auch noch. Irgendwann hört es vielleicht auf. Das Gefühl im Mund ähnelt dem beim Zahnarzt, zehn Minuten nach der Spritze in den Gaumen. Khoinee sorgt nicht gerade für Trance. Aber: „Kann besser laufen.“ Vom Platz weg führen fünf Gassen. Die meisten gehen nach Norden. Dort ist das Geschäft besser. Die Jungen müssen nach Süden, Richtung Park Street. Da ist die Grenze. Die Polizei lässt keine Rikschas über diese Straße. Mafir Mohammed wird heute 27 Fahrten schleppen. Ein Mann, sehr dick und schwer, wird zwei Rupien extra geben, als Mafir Mohammed dies fordert. Ein zweiter, auch übergewichtiger Mann wird die Rupie extra beleidigt schimpfend verweigern. Heute hat Mafir Mohammed keine Zeit zu beten. Morgen auch nicht. Übermorgen wird er kurz zur Mittagszeit in eine Moschee kommen. Er will, wie jeder Muslim, eigentlich fünfmal täglich beten. „Geht nicht, ich muss verdienen“, sagt er. Allah verstehe das. Jeden Tag legt Mafir Mohammed etwa hundert Kilometer mit der Rikscha zurück. Einmal wird er 185 Rupien einnehmen, einmal 128 und einmal 155. Für ihn zählt nur, was er abends in sein Schatzkästchen schließt: Belege für die 50-Rupien-Postanweisung nach Hause, die Blechdose mit dem neuen Khoinee, Rasierklingen, sein zweiter Lungi, ein zweites Hemd, der ganze Besitz. Es ist noch hell, in der Gasse aber schon dunkel. Mafir Mohammed sitzt vor der Höhle, ölt Beine und Arme ein, seine Haut glänzt kurz, dann ist das Öl verschwunden, er schmiert wieder Öl darauf. An den Waden sind kleine, fast runde Bälle. Er sagt: „Krämpfe.“ Hat er abends immer. Wenn er sie zu oft und zu lange hat, wird er wieder einen Tag lang nicht arbeiten, sondern schlafen. Jeden achten bis zehnten Tag. Seine Augen sind klein und schläfrig. Er sagt, es gebe Wallas, die bis achtzig gefahren sind. „Werde aufhören, wenn ich sterbe.“ In ein paar Jahren, wenn die Töchter verheiratet sind, braucht er doch weniger Geld. Er versteht das nicht, hört nochmal genau hin, lässt es sich ein drittes Mal sagen und hat plötzlich pures Erstaunen im Gesicht. Der Mann hat -das ist verrückt - noch nie darüber nachgedacht. Und sagt jetzt, um sein inneres Gleichgewicht ringend, sicherheitshalber nochmal: „Werd aufhören, wenn ich sterbe.“