Feige in der Stadt der Helden

Reportage
zuerst erschienen 2015 in Fluter Nr. 54, S. 18-20
Fassung des Autors
Ab und zu heißt Wolgograd noch Stalingrad

Die Sonne sinkt Europa entgegen. Die Nacht kommt und im Himmel beginnt das Schwert zu flackern. An der Spitze seines 29 Meter langen, rotgerosteten Stahls springt ruckelnd der Scheinwerfer an. 85 Meter hoch steht „Mutter Russland“ auf dem Mamajew-Hügel mit dem Rücken zu den Resten der Sonne und zu Europa. Mit dem Schwert deutet die Statue auf die Stadt und die Wolga.

Wie jede Nacht wird das Denkmal auf Wolgograd scheinen. Morgen wird die Stadt offiziell wieder Stalingrad heißen, für einen der sechs Gedenktage an den Großen Vaterländischen Krieg. Und an die Schlacht, die fast ein halbes Jahr dauerte und sich für immer ins kollektive Gedächtnis der Menschheit fraß. Das Wort Stalingrad bestimmt noch heute, was Russen über Deutsche denken und Deutsche über Russen.

Hier wütete der Krieg am schlimmsten. Hier schlugen die Sowjets Hitler-Deutschland. Ihr Sieg in dieser Stadt wendete im Winter 1942/43 das Schicksal des Kontinents. Der große russische Nationalstolz, der noch heute Russland trägt, entstand hier. Ein paar Tage nach der Kapitulation der 6. Armee verkündete Propagandaminister Josef Goebbels im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg.“ Nach der Niederlage von Stalingrad zogen die Nazis die Jungs der Jahrgänge 1923 und 1924 als Soldaten ein, 19-Jährige, 20-Jährige, Jahrgänge, die im Rest des Krieges fast völlig ausgelöscht wurden.

Nicht nur der Stahl leuchtet im Himmel. Die Statue, größer als die Freiheitsstatue in New York, wird nun angestrahlt von Riesenscheinwerfern und reflektiert das Licht über die Wolga in die Steppe. „Mutter Russland“ steht auf der Hügelkuppe, sie ist der Mittelpunkt eines 360-Hektar-Parks voller Denkmäler. 360 Hektar sind 3600000 Quadratmeter, Platz für eine kleine Stadt. Noch immer gibt es die Behörde in Wolgograd, deren Aufgabe es ist, neu gefundene Tote zu identifizieren. Weil immer wieder Skelette in Wolgograd auftauchen. Vor allem am Mamajew-Hügel. Wenn es stark regnet, wenn Fundamente erneuert werden, wenn es der Zufall will.

Zur Statue geht es vom Fluss steil hoch über viele Treppen die den Atem nehmen. Vorbei an Denkmälern im neoklassizistischen Stil. Muskelberge, verzerrte Gesichter, Wille, Kraft aus allen Blickwinkeln. Menschen werden hier als Götter abgebildet. Durch einen Bogen mit der Aufschrift „Gedenkstätte für die Soldaten der Roten Armee, die in der Schlacht um Stalingrad im Großen Vaterländischen Krieg, 1941-1945 fielen“ geht es zum „Stand des Todes“, einer Zwölf-Meter-Statue, ein muskelbepackter Held aus Granit, der mit blankem Oberkörper und einer Maschinenpistole in einer Hand mit der anderen eine Handgranate schleudert.

Ein alter Mann in einem langen Mantel mit einer dicken Mütze, deren Ohrschützer hochgeklappt sind, sieht, dass ich stehen bleibe, um den Granithelden anzuschauen. Er sagt: „Schukow.“ Wir versuchen, miteinander zu sprechen. Klappt nicht. Als ich „Germanski“ sage, berührt er meine Schulter. Als wolle er schauen, ob ich echt bin.

Später auf dem Rückweg vom Hügel zum Fluss sehe ich eine Gruppe junger Leute an der Granitstatue. 18 Jahre alt, höchstens und sage: „Schukow“. Einige antworten mit „Da“, ein Mädchen hebt die rechte Hand und wackelt zweifelnd mit ihr. Die Anekdote sagt, dass das Gesicht dieser Heldenstatue das General Schukows, des sowjetischen Feldherr im Großen Vaterländischen Krieg sei. Was ein subversiver Akt des Künstlers gewesen sein müsste, weil als der Denkmalpark in den 60er-Jahren entstand, Schukow offiziell unwichtig war. Aber in Wolgograd ist Schukow ein Held, den nicht mal Stalin, Chruschtschow, Breschnew, wer auch immer, welche Propaganda auch immer, klein machen konnte.

Von dem Denkmal gehen Treppen hinauf durch eine künstliche Schlucht, an ihren steilen Wänden steinerne Reliefs mit Kriegsszenen. Aus versteckten Lautsprechern hallen Schlachtgeräusche samt Todesschreie. Der Gedenkpark ist voller Schulklassen, dazu Familien mit Kindern. Er ist Ausflugsziel. Kein kapitalistisches, denn nirgendwo gibt es einen Stand, um was zu konsumieren. Ein Junge trägt einen grünen Luftballon in Form eines Panzers herum. Die Eltern sagen, mitgebracht, nicht hier gekauft.

Zwei Inder mit einem russischen Führer sind die einzigen Nicht-Russen, die ich in vier Tagen Wolgograd treffe. Sie sagen, dieser Ort scheine ihnen mystisch. Viele Russen sind von weit her gekommen. Jeder sei einmal hier in seinem Leben, sagt ein 52-jähriger Mann aus Moskau, der zum zweiten Mal hier ist. Der Park hat mit der Zeit Spitznamen wie „sozialistisches Disney-Land“ bekommen. Ein amerikanischer Historiker hat ihn „das Schlimmste an totalitärem Kitsch“ genannt.

Der Weg führt zum „Platz der Helden“ mit neuen übermenschlichen Steinfiguren in Kampfposen. Am Ende der Überdosis an sozialistischen Realismus steht eine Steinwand voll gemeißelter Parolen in kyrillischen Buchstaben. Ein kleines Tor lenkt ins Innere des Hügels, eine Treppe steil in eine riesige runde Tempel-Halle. Die wie ein Stadion keine Decke hat. Aber goldene Wände, auf die Namenslisten von Gefallenen graviert sind. Symphonische Musik mit einem Trauerchor. Eine Fackel, deren Flamme flackert. Soldaten in starrer Haltung, stundenlang. Weiter über einen Wendelweg entlang der Wand rund um die Halle nach oben. Ins Freie auf einen großen Platz. Auf ihm marschieren Soldaten in grüngrauen Paradeuniformen. Im Gleichschritt lassen sie ihre Stiefel auf die Steinplatten knallen. Ihr Kommandant brüllt zu jedem Schritt. Wieder Treppen hoch. Ein langer Weg zu „Mutter Russland“ und ihrem Schwert und dem Blick ins Tal.

Die Riesin, gebaut aus 7900 Tonnen Beton, deutet mit dem Schwert in Richtung Fluss, mit ihrer Linken winkt sie von hinter sich die russischen Truppen zum Sturm auf die Stadt. Dorthin wo sich am Ende der Schlacht die 6. Armee der deutschen Wehrmacht verschanzt hatte. Der Kampf um Stalingrad kostete eine Million russischer Soldaten das Leben. Das deutsche Heer, das mit kroatischen, rumänischen, italienischen Helfern in die Schlacht zog, war anfangs etwa 360.000 Mann stark. Als die Deutschen von den Sowjets eingekesselt wurden, waren es noch etwa 290.000. 25.000 Verletzte wurden noch ausgeflogen. 91.000 deutsche Soldaten gingen nach der Kapitulation in Gefangenschaft, knapp 6000 davon kamen in den 50er-Jahren heim.

Zu diesen Toten kommen noch die Besatzungen der mehr als 500 Flugzeuge der deutschen Luftwaffe, die abgeschossen wurden. Dazu die deutschen Truppen, die beim Versuch von außen den russischen Belagerungsring zu sprengen, starben. Nicht bekannt ist, wie viele Ukrainer, Kosaken und Russen für die Deutschen kämpften und starben. Zehntausende auf jeden Fall. Und ob wer von den 40.000 Stalingrader Bürgern überlebte, die von den Deutschen in Richtung Westen in Eis, Schnee und eigentlich sicheren Tod gejagt worden waren, ist nicht erfasst. Als der Krieg begann, hatte die Industriestadt Stalingrad mehr als 400.000 Einwohner. Dazu kamen viele, die vor den Deutschen über den Don in die Stadt flohen. Einige Wochen, in denen die Stadt bombardiert wurde wie noch nie eine Stadt zuvor, durften sie nicht in Sicherheit über die Wolga. Stalin hatte das verboten. In Stalingrad sollte das Symbol, der Wendepunkt sein. Wie viele Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte hier starben, ist nicht mehr zu klären.

Hier gab es Kannibalismus und viele wurden auf beiden Seiten von den eigenen Leuten erschossen, wenn sie nicht vorstürmten in den anderen Tod. Oder wenn sie ein Flugblatt des Gegners aufhoben. Hier verhungerten Soldaten, fielen um und standen unterernährt nicht mehr auf. Hier erfroren Menschen bei minus 40 Grad. Hier blieben Angeschossene liegen bis sie starben. Hier faulten Wunden, wurde im Matsch und ohne Betäubung amputiert. Hier war keine Menschlichkeit mehr. Hier brachen bei der Wehrmacht tödliche Ruhr- und Fleckfieberseuchen aus.

Weiter südlich, in der Nacht. Auf der westlichen Seite der Wolga an dem Hang am Ende einer Allee voller Statuen wird es laut. Sie zünden Fackeln an, eine Anlage ballert trashige Tanzmusik mit russischen Texten in die Nacht, kyrillischer Rap, ab und zu Metal-Rock. Mehrere Jungs in Anzügen basteln an einer Lichtanlage. Noch flackert sie nur manchmal. Junge Frauen, trotz der Kälte mit Miniröcken und aufsehenerregenden Ausschnitten heben Gläser. Schreie, Jubel, Kreischen. Jungs köpfen Krimsektflaschen. Wörtlich: Der mit dem rasierten Kopf im schwarzen Anzug mit weißem Hemd ohne Krawatte haut den Flaschenhals mit einem… sieht aus wie ein Säbel ab.

Wodkaflaschen gehen rum. Sie lachen, sie haben Spaß. Etwa 50, 60 Leute. Wie viele genau ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Party. Einer der Jungs schmeißt eine leere Wodkaflasche gegen eine Mauer. Ein paar lachen herüber und winken. Dann kommen zwei mit Flaschen. Kapieren, dass sie nicht verstanden werden, sagen „Party“ und „Diploma“, fragen nach Namen, merken „Germanski“. Die Situation ändert sich schlagartig. „Germanski?“ Einer lacht erschreckt, einer wird ganz ruhig. Einer berührt meine Schulter wie der Mann am großen Denkmal. „Germanski?“ Andere kommen schnell hinzu. Hier war die Schlacht von Stalingrad, hier wurden Deutsche als Bestien wahrgenommen. Sie rufen was hinter mir her, das ich nicht verstehe. Ich steige ins Auto und fahre weg. Winke noch kurz. Es ist ein beängstigendes Gefühl, durch die Stadt zu fahren wegen des deutschen Nummernschilds.

Im Zentrum Wolgograds. Ein alter Mann mit Orden auf der Brust steht an einem großen Platz. Im Kopf sofort die Rechnung. Sagen wir, er ist 80, das heißt Jahrgang 1934. Dann kann er sich erinnern, hat vielleicht nicht gekämpft. Mit ihm ins Gespräch zu kommen, klappt nicht. Was mich erleichtert, obwohl es mehr als schade ist.

Die Kellnerinnen in grünbraunen Uniformen in dem Café mit WLAN und zuckersüßen knallbunten Törtchen nahe der Stelle, in der mal das deutsche Oberkommando saß, lachen, als ich auch am dritten Tag wieder hereinkomme. Sie wollen jetzt was wissen über Deutschland. Fragen in kargem englisch. Sie sagen, die meisten Wolgograder seien nach dem Krieg hergekommen. „Wiederaufbau.“ „Wiedergeburt.“ Gedenken, schön und gut, sei wichtig. Aber das sei eher was gesamt-russisches.

Ist Vergangenheit, sagt eine. Sie macht eine lange Pause, lacht kurz, sagt: „Ja, besondere Stadt“. „Für Dich auch?“, fragt sie. Vor der Tür, mitten auf der Straße, üben junge Menschen in uniformierten Gruppen Marschieren mit Fahnen. Sie seien, sagt Natalja, 16, „Nashi“. Die Autos warten. Später bekomme ich heraus, „Nashi“ wird mit „Die Unseren“ übersetzt und ist die Jugendorganisation der Präsidentenpartei Einig Russland. „Wir üben für morgen“, sagt die grün uniformierte Natalja. Pause. „Gedenktag“.

Einer der sechs Tage im Jahr, in der Wolgograd Stalingrad heißt. Es ist kalt, windig. Die Tore des Museums im Stadtzentrum am Wolgaufer sind noch zu. Es heißt „Panorama-Museum Schlacht von Stalingrad“ und ist riesig. Auf dem Platz davor spucken Busse Jugendgruppen aus. Wenige Erwachsene gehen die Reihen ab, zupfen an Uniformkragen. Einige Mädchen und Jungen lachen ab und zu, eher nervös. Ein paar machen Handyfotos an dem Panzer auf dem Vorplatz steht. Es ist klar, dies ist ein feierlicher Moment.

Die Tore öffnen sich, die Jugendgruppen gehen in Reihe und Gleichschritt rein. Drin ist ein Wandgemälde namens „Die Zerstörung der deutschen faschistischen Truppen in Stalingrad“. Es zieht sich über drei Wände und mehrere Stockwerke. Das Panoramabild zeigt, was am 25. und 26. Januar 1943 in Stalingrad passiert ist. Wie die Rote Armee die deutschen Invasoren umzingelte und einschloss. Dazu kommen Ausstellungsstücke, viele Fotos und Tafeln mit viel kyrillisch geschriebenem Text.

Im Inneren stehen hunderte uniformierte Jugendliche in einer Kuppel. Alte Männer mit Dutzenden Orden an der Brust halten lange Reden. Eine Frau, die für das Museum arbeitet, sagt: Heute ist ein schlechter Tag, hier was zu fragen. „Schauen sie nur zu.“ Und: Das sei ein Museum für Russen, es gebe kein Material in anderer Sprache. Ich müsse das verstehen. Sie sagt: Die russische Seele und schaut mich fragend an. Hier sei man „im Herzen Russlands“. Sie schaut, als würde sie sich über sich selbst wundern und hängt: „In einem der Herzen Russlands“ dran.

Die Reden dauern drei Stunden. Draußen dämmert es. Zuerst springt der Scheinwerfer an der Spitze des Schwerts von „Mutter Russland“ an. Kurz darauf leuchtet sie über die Wolga.