Die Spürhunde

Reportage
zuerst erschienen im Oktober 2004 in Stern Spezial Campus und Karriere Nr. 2, S. 152
Studenten in Genf erforschen die weltweite Verbreitung von Handfeuerwaffen. Ihr „Small Arms Survey“ gilt mittlerweile als Standardwerk – auch unter Waffenhändlern

Nicolas Florquin ist 25 Jahre alt und wirkt noch jünger. Der Franzose hat also ein Autoriätsproblem, wenn er weltweit unterwegs ist und recherchiert, wie Handfeuerwaffen produziert und geschmuggelt werden. Die vergangenen zwei Jahre war Nicolas unter anderem in Montenegro, Nigeria, Ghana, Peru und erlebte bei der Arbeit meist dasselbe: „Leute in Uniform, die von einem jungen Mann über Waffen befragt werden, nehmen einen erst mal überhaupt nicht ernst.“ Er grinst. „Ich mag das, ich lerne da jedes Mal was.“

Nicolas kennt sich aus mit Handfeuerwaffen. Niemand kann ihm da einen Bären aufbinden, und irgendwann, manchmal zu spät, kapiert das jeder, der mit ihm zu tun hat. Vergangenes Jahr saß Nicolas mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister eines Balkanstaates nachts in dessen Büro. Der trank Whiskey, lockerte sich die Krawatte und schrie, dass der SAS sich erst mal um Waffen in anderen Ländern Europas zu kümmern habe. Als er Nicolas rausschmeißen wollte, las dieser eine Passage aus dem Small Arms Survey (SAS) über Handfeuerwaffen vor. Die Passage, dass in Deutschland 7,2 Million Waffen registriert sind und dass das vor 1972 nicht geschah, es also eine große Dunkelziffer gibt, gefiel dem Mann. Er merkte offenbar, dass der junge Bursche ernst zu nehmen war. Die Stimmung besserte sich. Nicolas bekam auch einen Whiskey, und danach Auskunft darüber, welche Handfeuerwaffen die Armee und die Polizei des Landes haben.

Nicolas ist einer von 15 Fulltime Researchers und Studenten, die im Auftrag der Vereinten Nationen an der Universität von Genf den jährlichen Small Arms Survey, das Standardwerk über Verbreitung, Herstellung und Schmuggel von Handfeuerwaffen, zusammenstellen.

Als die UN ihre erste Konferenz über illegalen Waffenhandel für den Sommer 2001 vorbereitete, stellten die Mitarbeiter erstaunt fest, dass es fast keine Informationen dazu gibt. An der Uni Genf fanden sie Professor Keith Krause und Peter Batchelor und beauftragten sie, möglichst schnell möglichst viele Fakten für die Konferenzteilnehmer zusammenzustellen. Die beiden Wissenschaftler recherchierten und veröffentlichten ihre Ergebnisse auch als Buch. Das war die Geburtsstunde des SAS. Sogar UN-Generalsekretär Kofi Annan lobte das Werk, es schaffe das dringend notwendige Problembewusstsein.

Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es inzwischen eine solche Anhäufung von Fachwissen zum Thema Handfeuerwaffen wie in den engen Büroräumen an der Avenue Blanc, nahe dem Genfer See. Inzwischen ist das Jahrbuch die Wissensquelle schlechthin für Diplomaten, Polizisten und Fachleute verschiedener NGOs und UN-Abteilungen, aber auch für die Waffenbranche.

Vor kurzem, erzählt Professor Krause, 43, habe ein älterer Herr angerufen, ein früherer Waffenhändler, der jetzt in Genf den Ruhestand genießt. Der lobte „die wirklich exzellente Arbeit“. Krause selbst ist Professor für Internationale Studien in Genf. Die Hälfte seiner Arbeitszeit verbringt er aber in den mit Büchern, Papierstapeln und Computern vollgestopften Büroräumen des Small Arms Survey, den er leitet. „Waffen allein sind nie das Problem“, sagt der Professor. „Es gibt Länder wie Finnland, die sind voller Waffen, was dort aber überhaupt kein Problem mit sich bringt. Aber wenn man eine Waffe zu einem Problem dazutut, kann es gefährlich werden.“ Waffenprobleme fasst er so zusammen: „Junge Männer töten junge Männer, und junge Männer terrorisieren den Rest der Gesellschaft, also besonders Frauen und Kinder.“

Professor Krause hat alle Zahlen im Kopf. Eine Auswahl: Der SAS hat einen Etat von 3,5 Millionen Schweizer Franken und wird von zwölf Staaten finanziert. Über die Hälfte des Geldes kommt von der Schweizer Regierung, die deutsche und die amerikanische geben nichts. 200 000 Menschen sterben jährlich durch Schüsse, die nicht im Krieg abgegeben wurden. In Albanien existieren zurzeit zwei Millionen uralte Handgranaten. In Rio de Janeiro zerstört die Polizei 20 000 Waffen im Jahr. Allerdings werden jährlich rund acht Millionen neue Gewehre und Pistolen hergestellt.

Militärs und Waffenhersteller, die regelmäßig um Kontrolle gebeten werden, bestätigen, dass die Fakten stimmen. Christina Wille, 31, ist seit eineinhalb Jahren hier. Früher hat sie in Cambridge studiert. Gerade war sie in Tadschikistan, interviewte Familien an der Grenze zu Afghanistan. Sie lernte: „Drogenhändler aus Afghanistan nehmen die Töchter von Zwischenhändlern als Pfand. Das geht nur mit Waffengewalt. Wenn die nicht rechtzeitig zahlen, schicken sie die Mädchen schwanger in die Dörfer zurück.“ In drei Tagen geht Christina nach Turkmenistan zu einer OSCE-Konferenz. Konferenzen sind wichtig, denn Diplomaten geben Tipps, kennen wen, der wen kennt.

In den Genfer Büroräumen des SAS hat die Hektik gerade nachgelassen. Die Druckfahnen für das Jahrbuch 2004 sind gelesen und korrigiert. Bald werden die Studenten wieder zusammensitzen bei der jährlichen Konferenz über Handfeuerwaffen. Professor Krause wird wieder betonen, dass es wichtig ist, erst mal die Fakten zu sammeln und aufzuarbeiten. Nach der Konferenz werden sie auf einen Schießstand gehen und losballern. Das müsse einmal im Jahr sein, schließlich sollten sie sich mit Knarren auskennen, sagt der Professor.