Ganz unten
[98] In großer Not spielt Jörg Lethen Klavier. Der 72-Jährige schließt die Augen, taucht in Brahms-Sonaten ein, sieht kein Elend mehr. Nicht sein Bett, das eine Couch ist. Nicht den Tisch voll Kram. Keine Umzugskartons, die über die Monate in seinem 3,5 mal vier Metern Lebensraum zu Möbeln wurden. Keine Ordner, auf deren Rücken „Gerichtsmahnverfahren“ und, schwarz durchgestrichen, „Rente“ steht.
Jörg Lethens Finger tanzen auf den Tasten. Er wirkt jung und wild. In die romantischen Klänge sagt er: „Das Klavier gehört mir nicht. Mir gehört eigentlich gar nichts.“ Er lebt von 620 Euro Rente. Minus 580 Euro private Krankenversicherung. Kriegt Wohngeldzuschuss und Hartz IV, hat Schulden so hoch wie der Himalaja. Seine Privatinsolvenz läuft geordnet. Sein Leben rast unkontrolliert.
Er erzählt von den schönen Zeiten, als sein Hotel in Köln lief, wie es laufen musste, um ihn und seine Frau gut zu versorgen. Sodass es später leicht zu verkaufen gewesen wäre. Das war Jörg Lethens „Plan Altersvorsorge“. Aber dann kam … „Ach“, noch mal „ach“. Er drischt die Tasten. „Bauarbeiten wie Erdbeben. Presslufthammer ab 7 Uhr früh.“
Er spielt kein Brahms mehr, sondern schildert das Leben als Baustelle. Nun sieht Lethen alt aus, leidend. Was bei ihm trauriger als bei an- deren wirkt, weil er sonst frisch sprudelt, angibt wie ein kleiner Junge. Dabei Witze über sich selbst macht. Er sagt: „Ich bin jetzt GEZ-befreit“, und meint: Ich bin auf Hartz IV. „Jetzt ist die U-Bahn fertig. Große Zeiten für das Hotel Accent beginnen.“ Pause. „Ohne mich.“
Als Jörg Lethen sein Hotel damals verkaufen wollte, ging das nicht, weil … Lange Geschichte. Schuld jedenfalls haben die anderen.
Eine Frage der Schuld. Und der Würde
Schuld haben bei den Unternehmern, die in die Altersnot gerutscht sind, immer die anderen. Nur so können sie nach erfolgreichen Jahren ihr Scheitern erklären. Sich Würde in der Armut bewahren. Wenn arme, alte Unternehmer erzählen, fällt immer früh und oft ein Wort: Rechtsanwalt. Meist hatten sie mehrere. Meist haben die auch noch schuld.
Es gibt viele solcher Leider. Wie viele? Sie werden statistisch nicht erfasst. Die Arbeitsagentur in Nürnberg ist nicht zuständig, diese Leute waren ja nicht arbeitslosenversichert. Die Behörden, die Wohngeld und Unterstützung geben, schauen nur, was da ist, nicht wer und was der Hilfsempfänger war. Der Verein Creditreform, der mit Informationen über die Zahlungsfähigkeit von Firmen handelt, hat Zahlen des Statistischen Bundesamts ausgewertet und kam zu dem Schluss: Etwa 4100 Bundesbürger zwischen 55 und 65 Jahren gingen vergangenes Jahr wegen ihres gescheiterten Unternehmertums auch privat insolvent. Bei den 45- bis 55-Jährigen waren es rund 3300.
Als Unternehmer dachten sie: Es läuft gut. Lass es laufen! Zahl jetzt nicht in eine freiwillige Altersvorsorge. Weil das Geld jetzt und hier gebraucht wird. Die Lebensversicherung, in jungen Jahren abgeschlossen, geht an die Bank, als Sicherheit. Kommt es dann zur Pleite, ist alles perdu. Die Gefahr, mit der Firma auch das gesamte Privatvermögen zu verlieren, die [100] Notwendigkeit zusätzlicher Vorsorge fürs Alter – viele Unternehmer blenden das einfach aus. Dabei kostet das Schließen der Rentenlücke meist nur ein paar Hundert Euro im Monat.
Stattdessen der Lethen-Plan, ein Standard- plan: erst mal Geld verdienen. Dann reich in Rente. Die größte Sorge: Riviera oder Mallorca? Großer Fehler. Viele merken zu spät, sie haben nur Hoffnung gelebt. Doch die Firma, die einst voranstürmte, lahmt irgendwann. Bricht zusammen. Oder schleppt sich so elend dahin, dass keiner sie kaufen will. Kein Geld damit zu verdienen, so oder so. Und plötzlich klopft die Altersarmut an die Türen der Unternehmer.
Aus diesem Klopfen könnte ein Hämmern werden: Die Bundesagentur für Arbeit hat versucht, Arbeitslose aus ihrer Statistik zu radieren, und dafür den Weg in die Selbstständigkeit ansubventioniert. Von 2000 bis 2010 bekamen 1,94 Millionen Menschen in Deutschland Geld, um zu gründen. Die Zuschüsse hießen mal Gründungszuschuss, mal Überbrückungsgeld für Selbstständige, mal Existenzgründungszuschuss. Immer bedeutete das Geld vom Staat: Du, lieber Geförderter, bist ab jetzt allein zu- ständig für deine Altersvorsorge.
Daran hatte Philip Göttert schon gedacht, als er Unternehmer wurde. Der 29-Jährige war mal Angestellter einer Firma, die Bühnen aufbaut, Lichtanlagen installiert, Mikros anschließt und Boxen aufdreht. Der Job gefiel ihm zwar, aber Göttert, einsatzfreudig, ausgestattet mit dem Ehrgeiz- und Entscheider-Gen, hat sich selbst- ständig gemacht. Und: Altersvorsorge erst mal verschoben. Jetzt kauft er von den Einnahmen Equipment, er braucht neue Verstärker und Scheinwerfer, dazu.
Heute ist wichtiger als übermorgen
Jeder Euro wird gebraucht, zum Leben oder zum Gießen des Pflänzchens Firma.
15 Monate lang bekommt Göttert einen Zuschuss von der Arbeitsagentur für die soziale Absicherung. Er zahlt in eine Krankenversicherung, ein bisschen was vom Bürokratengeld bleibt über. Weil das Amt nicht kontrolliert, ob subventionierte Unternehmer vorsorgen, hat Göttert dringend nötige Mikrofone gekauft. Mit der Altersvorsorge will er mit 33 anfangen, in vier Jahren also. Wenn denn Geld über ist, „will ich selbst bestimmen, ob ich es in irgend so einen komischen Fonds einzahle oder in eine Rentenversicherung“. Wird schon, sagt Philip Göttert, der Jörg Lethen von übermorgen.
Wenn es nichts wird, tut’s weh. Schuld müssen dann andere haben, sonst wäre das alles nicht zu ertragen, nur so sind das Scheitern und der Staatsalmosenbedarf zu erklären. Schuld haben dann die Banken, der Staat und seine Behördenkraken. Die anderen halt.
Jörg Lethen etwa schiebt die Schuld vor allem der Stadt Köln zu, die sein Hotel per Dauerbaustelle quasi killte, als es wunderbar lief. Die viel länger als geplant brauchte, die dicken Abwasserrohre zu sanieren. Anschließend die neue U-Bahn so nah baute, dass die Zimmer nicht mehr zu vermieten waren. Acht Jahre Baustelle, acht Jahre Niedergang, Schritt für Schritt in die Altersarmut.
Jörg Lethen hat sich gewehrt, noch mal viel Geld reingesteckt, sein Erbe und Geld der Bank, abgesichert mit seinen Lebensversicherungen. 60 000 Euro von seiner Frau. Umsonst. Trotzig wollte er durchhalten, hat seine Rente von 65 auf 70 verschoben und gehofft, das Hotel noch verkaufen zu können. Hat nicht geklappt. Er ist jetzt unten. Das Hotel weg. Die Frau auch: geschieden. Damit sie nicht mit in den malmen- den Sog gerissen wird. „Sie hielt es nicht aus. Der Druck hat meine Ehe zerstört.“
Besuch in der Vergangenheit
Lethen stoppt das Metronom auf dem Klavier, wirft den grauen Schal um. Er will, jungenstolz, sein Hotel zeigen, das ihm nicht mehr gehört, die Goldgrube an der neuen U-Bahn-Station Kartäuserhof. Perfekte Lage in der Kölner Altstadt. Keine Baustelle mehr. Der Fahrschein für die Straßenbahnlinie 16 kostet 2,10 Euro. Er geht zwei Stationen, damit eines für 1,70 Euro reicht. Doch selbst die Kurzstrecke reißt ein Loch. Zurück wird er zu Fuß gehen.
Nun stürmt er hinein, spricht mit dem Mann an der Rezeption, dem neuen Betreiber. Hilft hektisch mit Tipps wegen des Reservierungssystems. Weil das ja mal sein Hotel war. Er fragt nach Details, wie viele Buchungen, ob das mit der neuen Putzfrau klappt. Er ist lästig. Wird aber geduldet. Er merkt es, geht schnell. Über die Straße zum Kiosk, er quatscht mit der Frau dort. Die kennt ihn nicht, obwohl er denkt, sie sollte ihn kennen, nach all den Jahren. Die Situation wird peinlich. Lethen merkt es.
Er dreht sich um, blickt auf das Hotel, sagt: „Ich habe 350000 Euro hier reingesteckt. Es leer gemietet, die Verkachelung gemacht, das Kühlhaus, tolles Kühlhaus übrigens, die Vertäfelung, den Vorbau, das komplette Restaurant. Aber der U-Bahn-Bau hat Risse in die Wände gemacht, die Türen gingen nicht mehr zu.“ Es ist immer dieselbe Botschaft: Die Stadt und ihre Behörden tragen die Schuld, sie haben den stolzen Hotelier in die Armut geworfen.
[102] Die Schuld der anderen? Nicht das Thema von Ingrid Seibert-Hess. Sie kämpft. Sie trägt eine Brille mit dünnem Drahtgestell, Jeans, Sportschuhe, einen dunklen Pullover. Braune kurze Haare, durch die Grau schimmert. Schmuck würde fehl am Platz wirken an dieser Frau, die harte Zeiten lebt. Ihre dünnen Lippen und die Falten lassen lange Schlachten ahnen. Zäh wirkt sie – und bissig.
1990 ist sie raus aus der Rentenversicherung. Lebensversicherungen schienen lukrativer. Außerdem war da die Firma. Ihr Großvater hat die gegründet, sie ist 1983 eingestiegen, seit 1995 leitet sie Maschinenbau Seibert in Lambrecht, in einem tiefen Tal in der Pfalz, allein. Das Unternehmen, große Maschinen, 20 Mann in Latzhosen mit Öl im Gesicht und Ingrid Seibert-Hess’ Schwester halbtags in der Buchhaltung, baut Prototypen, entwickelt Anlagen für die Autoindustrie, für Papierproduzenten, Mechanik für Drucker von Getränkedosen. „Es lief passabel, aber in dem Segment kann man nicht Milliardär werden.“ Die Firma trug immer Risiken, weil Auftraggeber Festpreise zahlen für die Prototypen, egal wie viel Arbeit für die anfällt.
2003 hat sie eine Lebensversicherung als Sicherheit eingebracht für einen Maschinenkredit. Später die andere für den Kredit, mit dem sie die Halle vergrößerte. Banken wollen Lebensversicherungen als Bankenversicherungen. „Sie haben keine Chance, Sie wollen ja die Firma retten.“ Eine Wohnung hat sie dafür verkauft, den Freizeitgarten. Alles, was Alters- vorsorge hätte sein können.
[103] Dann kam 2009, Finanzkrise. „Eine Maschinenbaukrise. Wir hatten Einbrüche um 40 Prozent.“ Panikattacken. Monatelang konnte Ingrid Seibert-Hess höchstens zwei Stunden pro Nacht schlafen. Jetzt ist es besser, die Panikattacken werden seltener. Die Wirtschaft hat ja angezogen. „Wird schon gut gehen“, sagt sie und weiß, dass es vielleicht nicht gut gehen wird. Und dass sie deshalb vorsorgen muss, auch wenn ihre ursprüngliche Vorsorge sich in Maschinen aufgelöst hat.
Ingrid Seibert-Hess, 53 Jahre, ist handfest und clever. Die Maschinen gehören nicht der Firma, die gehören ihr. Das Grundstück und die Halle gehören ebenfalls ihr. Lange hat sie tricksen müssen, aber jetzt ist sie ganz zufrieden. Die Maschinen würden nicht in die Insolvenzmasse kommen, die könnte sie verkaufen. Erfolgreicher als Insolvenzverwalter, die würden „Schrottpreise erzielen“, das habe sie gehört. Es würde reichen, um die gröbsten Schulden ab- zudecken. Grundstück und Halle, die könnte sie vielleicht vermieten.
In zehn Jahren will Ingrid Seibert-Hess in Rente. Ihre Ansprüche daran sind gesunken. „Wenn es gut geht, werde ich Zeit haben, im Wohnmobil mit Hund rumzufahren.“ Sie hat die kleine Wohnung über der Firma. „Ich sage mir oft: Du wirst nicht unter der Brücke schlafen.“
Sie schaltet um, ändert den Ton, die Stimmlage, das Gesicht: Begeistert beschreibt sie ihre Schätze in der Halle. Das Bearbeitungszentrum, eine gelbe Sigma mit Bearbeitungsfräse. Vier Achsen. Fünf Meter lang. Ein Kronjuwel. 2006 angeschafft, 2010 abbezahlt. Ihre Absicherung. Könnte ihr Alter schönmachen.
Hätte schön werden können
Regine und Matthias Kurth hatten eine Bombenaltersvorsorge schön langsam aufgebaut. Haus um Haus, Wohnung um Wohnung gekauft, saniert, vermietet, entschuldet. 30 Einheiten im Siegerland. Die Rente mit solchen Millionenwerten im Rücken schien golden.
Dann kam die Wende. Die Zeit der Chancen, auch die Zeit der Gier. Die Kurths kauften von der Deutschen Post 183 Wohnungen in Berlin und Brandenburg. Vermietete Wohnungen, sagte die Post. Viele standen aber auch leer, stellten die Kurths fest. Jedenfalls brachten sie nicht die Mieten, mit denen sie gerechnet hatten. Die Kurths konnten Kredite nicht bedienen, befinden sich nun im zweiten Jahrzehnt Dauerprozess. Fühlen sich von Post, Justiz, Konkursverwalter betrogen. Matthias Kurth wird beim Erzählen von der Wut geschluckt, kann nur noch schimpfen. Seine tiefen Augenhöhlen glimmen dunkel. Er fängt sich: „Ich sehe das sehr emotional, mein Anwalt kann sachlicher erzählen.“
Der, Christian Kotz, erzählt von Prozessen, von Niederlagen, von verlorenen 28 Mio. Euro, vom jüngst ergangenen Urteil. Die Prozessflut fing noch als Konkursverfahren an, eingeleitet von einer Bank, die Geld wollte und Pfändungstitel. Nach viel Juristerei gehen die Kurths jetzt vor den EU-Gerichtshof für Menschenrechte. Anwalt Kotz: „Eine Privatinsolvenz wäre für die Kurths das Beste.“ Wollen die aber nicht.
2000 mussten sie raus aus ihrem Eigenheim. Sie kriegen kein Hartz IV, kein Wohngeld. Sie leben in Kreuztal im Siegerland in einer kahlen Einliegerwohnung, die Kurths Vater gehört. Regine Kurth, früher Beamtin, bezieht Invalidenrente. Die Bank nimmt sich alles bis zum Pfändungsfreibetrag. Bleiben 1422 Euro für die beiden. Damit finanzieren sie Prozesse.
Regine Kurth, 54, ist, so sagt sie, „fertig“. Matthias Kurth, 51, ist seit zwölf Jahren nicht krankenversichert, war sechs Jahre bei keinem Zahnarzt. Sie flüstert: „Ich wiege 40 Kilo.“ Er ruft: „Sie hat 15 Kilo verloren.“
Schuld haben: „Die Post.“ „Der Staat.“ Matthias Kurth redet von Schuld und von Geld. Von Stolz und Würde will er nicht reden.