Doktor Beatocellos Kinder
Eben tobte er noch. Nun hat Beat Richner sich im Griff. Der dicke Arzt mit Doppelkinn und dunklen Kräuselhaaren steht vor der Intensivstation des Hospitals in Siem Reap im Norden Kambodschas. Im Schweizer Dialekt erklärt er das Konzept der drei von ihm gegründeten Kinderkliniken im Land der Reis- und Minenfelder.
Ein krankes kambodschanisches Kind komme höchstwahrscheinlich in eines der drei Häuser der Stiftung. 95 Prozent aller Kinderbehandlungen des Landes fänden dort statt. 67 000 Kinder seien allein vergangenes Jahr stationär behandelt worden. Vor den Ambulanzen versammelten sich jeden Tag Menschenschlangen - Mütter mit ihren Kindern. „Und stationär waren gestern Nacht 1140 Kinder in den Hospitälern, das ist ein normaler Wert.“ Wichtigster Grund für den Zustrom: Die Patienten bezahlen für Behandlung und Medikamente nichts. In staatlichen Kinderkrankenhäusern werden dagegen Gebühren verlangt.
„Wenn wir Geld verlangen würden, könnte sich keine Familie eine Behandlung leisten“, sagt Richner. „Dieses Land ist arm.“ Weil bei Tuberkulose die Nachsorge entscheidend ist, werden Familien, die an Tbc erkrankte Kinder bringen, auch noch die Fahrtkosten zu weiteren Untersuchungen bezahlt. Richner: „Sie müssen einmal im Monat kommen, sonst nützt das alles nichts, und 95 Prozent kommen bei uns regelmäßig.“
In der Intensivstation deutet der 57-Jährige auf die jungen Patienten: „Diesen Kindern steht korrekte Medizin zu. So einfach ist das.“ In diesem Hospital gibt es keine Büros. Pfleger und Ärzte haben Tische in der Mitte der Krankenräume. „Niemand soll hier allein sein. Alleinsein macht traurig.“ Überall sitzen Mütter an den Krankenbetten ihrer Kinder.
Einige Frauen und Männer in weißen Kitteln legen Krankenakten zur Seite und stehen auf. Gleich beginnt die Visite. Richner trägt ein Stethoskop um den Hals und steht am Bett von Chunny Cheang. Die Neunjährige hat die Tropenkrankheit Dengue-Fieber und kaum eine Chance zu überleben. Ihr Körper war schon durch Tuberkulose geschwächt und kann sich gegen das Fieber nicht mehr wehren. Vier von fünf Kindern, die in die Klinik kommen, haben Tbc, erklärt Richner. Drei Prozent der neu Aufgenommenen sind HIV-positiv, Kambodscha hat die höchste HIV-Infektionsrate in Südostasien. Häufig seien auch Malaria, Hepatitis, Meningitis, Dengue-Fieber und Infekte, die Kinder ohne Tbc vielleicht abwehren könnten.
Die Lage sei schlimm, sagt Richner, und wieder übermannt ihn die Wut. Auf die Amerikaner, die während des Vietnamkriegs ohne Kriegserklärung das eigentlich unbeteiligte Kambodscha bombardierten, weil Vietcong-Truppen an der Grenze Nachschubpfade angelegt hatten. Auf die Roten Khmer, die in den Jahren darauf das von Chaos und Bürgerkrieg geschwächte Land ausbluteten - fast jeden, der lesen und schreiben konnte, brachten sie um, darunter viele Ärzte. 1,7 Millionen Menschen starben in den fünf Jahren des Terrors. „Und die Welt tat nichts“, ereifert sich Richner. Auch nicht, als danach die Vietnamesen das Land besetzten und ausplünderten. Schließlich kam die Uno doch noch, aber mit ihren Soldaten und Helfern sei auch Aids ins Land gelangt. Was er hier mache, so Richner, sei „so etwas wie der Versuch einer Wiedergutmachung“.
Er schaut wieder auf Chunny. Die wird künstlich beatmet. Wer an ihr Bett tritt, hört das sonst immer vorhandene Grundgeräusch im Hospital, das Rotieren der Ventilatoren, nicht mehr. Nur noch die angestrengten Atemversuche des Kindes. Seit zwei Tagen ist das Mädchen hier, bekam immer wieder Bluttransfusionen, hängt nun an einer Plastikflasche mit Nährstofflösung und an mehreren Kontrollgeräten. Chunnys Vater und Mutter sitzen auf beiden Seiten des Bettes, völlig ausdruckslos. Immer wieder tupfen sie die Stirn ihrer Tochter ab. Die Mutter hält die linke Hand von Chunny, ihr ist anzusehen, dass sie viel geweint hat.
Ein Arzt sagt auf Englisch: „Seltsam, dass die Kleine noch bei Bewusstsein ist. Die Leber arbeitet nicht. Die Lunge ist am Limit.“ „Weiter genau beobachten“, entscheidet Richner, „sagt das der Nachtwache.“ Man sieht ihm an, dass er gern laut fluchen würde, aber vor den Mitarbeitern beherrscht er sich.
Am nächsten Bett halten die Ärzte Röntgenbilder hoch, einer liest von einer Tabelle laut Messwerte ab. Richner schließt kurz die Augen. Weiter. Am übernächsten Bett sagt der Arzt zu ihm: „Das Kind ist okay, es ist über den Berg.“ Es hat eine Hirnhautentzündung, in Kambodscha kommt das fast einem Todesurteil gleich. Eine sehr lange Pause folgt, dann ruft Richner: „Danke.“ Die Erleichterung ist ihm anzusehen. „Sehr gut, sehr gut. Morgen noch mal Sonograf.“
Die Visite in der Intensivstation ist zu Ende. Auf dem Weg aus dem Pavillon sagt der Schweizer: „Wir haben die Mortalität in den Krankenhäusern auf 1,2 Prozent gedrückt.“ Von tausend eingelieferten Kindern verlassen 988 die Kliniken lebend. Aber Chunny hat keine Chance. „Verdammte Tuberkulose“, schimpft Richner. Die Regierung Kambodschas und die Weltgesundheitsorganisation hätten früher immer wieder gesagt, Tbc beim Kind sei kein Problem in diesem Land. In Richners Kliniken zeigte sich das Gegenteil. Er schimpft auf die, die seine Untersuchungen und die Beweise so lange ignorierten. Am nächsten Tag stirbt Chunny.
Richner pendelt zwischen den drei Kliniken. „Alles hier ist knallhart organisiert, fast militärisch. Hier gibt es keine Drittweltromantik.“ Die Schweizer Entwicklungshilfe-Agentur Deza hat die Krankenhäuser untersuchen, Kosten-Nutzen-Rechnungen machen lassen. Sie bescheinigte Richner, dass Kantha Bopha das „best management ever seen“ habe.
Die 13 Millionen US-Dollar, die Richner jährlich für den laufenden Betrieb der Hospitäler braucht, sind zum allergrößten Teil Spenden. Nur zwei Prozent der Kosten übernimmt der Staat Kambodscha. Die Schweiz gibt in diesem Jahr 2,2 Millionen US-Dollar.
Für den Rest musiziert Richner. Früher, als Medizinstudent, spielte er im Zürcher Symphonieorchester und als Musikclown Beatocello im Schweizer Kinderfernsehen. Er trat mit seinem Cello im Zirkus Knie auf und in jedem Schweizer Kinderkrankenhaus. Noch heute kennen ihn fast alle Eidgenossen. In einer Fernsehshow wählten ihn die Zuschauer per TED zum „Schweizer des Jahres 2002“. Und sie spenden für seine Krankenhäuser. Jeden Sommer tourt er durch seine Heimat und wirbt Unterstützer. Eine Familie hat bisher 15 Millionen Franken gegeben.
Wenn Richner in Kambodscha ist, tritt er jeden Samstag als Beatocello neben der Klinik in Siam Reap in einem großen Saal auf. Ein geschickt gewählter Ort: Jeder, der die Tempel von Angkor Wat besuchen will - und nur deshalb kommen Touristen nach Siem Reap -, muss hier vorbei, das Plakat ist nicht zu übersehen. Beim Konzert betritt Beatocello die große Bühne, und als Erstes ruft er den Touristen aus dem Westen zu: „Ich will Geld von Ihnen oder Blut, die Alten sollen Geld geben, die Jungen Blut.“ Vergangenes Jahr kamen allein hier 2,5 Millionen Dollar zusammen.
Beatocello, der wütende Clown, spielt Stücke von Bach und ein paar Eigenkompositionen. Manchmal singt er auf Englisch, Französisch, Italienisch, Schwyzerdütsch über Elend, Schuld und sterbende Kinder. Er schildert die Lebensbedingungen der Kinder in Kambodscha, lässt Dias von verdreckten Behausungen an die Wand werfen, von Patienten, die dem Tod nahe sind, und Röntgenbilder von zerfressenen Schädelknochen. Beatocello ruft viel zu laut ins Mikrofon: „Ohne diese Krankenhäuser gäbe es jedes Jahr 50 000 tote Kinder mehr.“ Er schimpft auf das Gesundheitsministerium. „Das hat ein Haushaltsbudget von 42 Millionen Dollar; keine zehn Prozent davon kommen bei den Leuten an, der Rest versickert.“ Immer wieder ruft er: „Korruption!“
Laut Transparency International ist Kambodschas Gesundheitswesen in einem miserablen Zustand, die Kinder- und Säuglingssterblichkeit hoch und Bestechung gängig. Die Antikorruptionsorganisation nennt den Zustand entschuldigend „survival corruption“. Die staatlichen Mediziner würden so wenig verdienen, dass sie sich Geld dazuorganisieren müssten. Ein Arzt in einem staatlichen Krankenhaus bekommt 20 Dollar monatlich, eine vierköpfige Familie aber braucht in Kambodscha 260 Dollar zum Überleben.
Richners Stiftung hingegen zahlt 200 Dollar Minimum, beispielsweise an die Putzfrauen. Ärzte verdienen bis zu 600 Dollar, „um die Korruption zu bekämpfen“. Bis vor kurzem übergab Richner oder einer seiner engen Mitarbeiter freitags jedem die Lohntüte - zur Sicherheit, denn in Kambodscha sei es verbreitet, dass Vorgesetzte sich Anteile des Verdienten abzweigen.
Damit Medikamente, die Patienten kostenlos erhalten, nicht auf dem Schwarzmarkt landen, werden sie aus den Packungen genommen. Damit nichts aus der Apotheke verschwindet, wird jeden Abend kontrolliert.
Die Maßnahmen wirken, bestätigt am nächsten Tag Yay Chantana, 34, seit neun Jahren Arzt für die Stiftungskrankenhäuser: „Das ist eine Insel hier. Keine Korruption. Keiner kann hier was nebenbei machen. Alle werden gleich behandelt. Das ist hier ein Wunder.“
Das Konzept hat seinen Preis. „Die Suche nach Geld ist etwas sehr Zermürbendes“, sagt Richner. „Wir haben seit zwölf Jahren noch nie mehr Geld als für vier Monate gehabt.“ Zurzeit läuft in der Schweiz eine neue Spendenaktion. Kantha Bopha 1, das Haus, in dem alles anfing, ist von Termiten zerfressen, außerdem zu klein. „Das Hospital ist überlastet. Seit vor zwei Jahren das Straßensystem verbessert wurde, haben wir einen regelrechten Ansturm. Sie kommen aus dem ganzen Land.“ Das alte Krankenhaus soll weiterarbeiten, während das neue gebaut wird. Nun muss weiteres Geld für den Neubau her, der bereits begonnen werden konnte.
Für Billiglösungen ist Richner nicht zu haben. Die Hospitäler der Stiftung sind mit Kernspintomografen, Röntgengeräten und Labormaschinen vom Feinsten ausgestattet. Wieder und wieder berichtet er, wie Prinzessin Anne, die Präsidentin des Hilfswerks „Save the Children“, sein Krankenhaus besuchte, vor einem 500 000 Dollar teuren Laborautomaten stand und sagte, das Gerät sei wohl „too sophisticated“ für dieses arme Land. Richner ist anderer Meinung: „Wir haben Tage mit 200 Bluttransfusionen. Das Blut muss sicher sein.“ Es sei kriminell, mit gespendetem Blut zu arbeiten, ohne es vorher genau zu untersuchen. Ihm wird oft vorgeworfen, in einem der ärmsten Länder der Welt Rolls-Royce-Medizin zu praktizieren. „Daran habe ich mich gewöhnen müssen“, sagt Richner und ruft dann plötzlich: „Das ist doch zynisch.“ Er sei „gegen diese altkolonialistische Idee von armer Medizin für Arme. Ein Beatmungsgerät ist wohl Rolls-Royce-Medizin, aber nur wegen dieses Geräts lebt das Kind überhaupt noch. Warum soll ein Kind in Kambodscha anders behandelt werden als ein Kind in Europa oder Amerika?“
Im Schnitt dauert eine stationäre Behandlung in einer der Kliniken fünf Tage und kostet 170 Dollar. Das sind gute Zahlen, sagt Richner. „Hier nebenan im Hotel Sofitel kostet eine Nacht fast 340 Dollar. Da übernachten die Experten, die das Krankenhaus hier anschauen und sagen, dass wir zu viel Geld ausgeben.“
Der Arzt tritt zur Seite, um einer Putzkolonne Platz zu machen. Hygiene sei wichtig. „Da bin ich schwyzerischer als schwyzerisch. Ein Putzteufel. Hier wird mehrmals am Tag der Boden geputzt.“ Im ganzen Krankenhaus riecht es nach Chlor.
Richner beruhigt sich wieder, und erneut gelingt ihm das, indem er Teile seines Krankenhauskonzeptes erklärt. „Es ist wichtig, mit jedem Kind auch die Mutter aufzunehmen. Alleinsein ist für ein Kind ein Krankheitsfaktor.“ Auch deshalb gebe es nur wenige Beatmungsgeräte. An vielen Betten sitzen Mütter und pumpen mit einer kleinen Plastikblase Luft in die Münder ihrer Kinder. „Wenn die Mutter da ist, empfindet das Kind weniger Stress, produziert mehr T-Zellen.“ Deren Wirkung referiert er nun.
Über sich selbst spricht Richner nicht viel. 1974 war er für das Schweizer Rote Kreuz in Phnom Penh und musste fliehen, als die Roten Khmer an die Macht kamen. 1991 kam er wieder, „im Zwiespalt. Ich hatte eine schöne Praxis in Zürich, habe mich wohl gefühlt“. Aber er blieb in Kambodscha, eröffnete 1992 in der Hauptstadt Phnom Penh das Kantha Bopha Hospital. Kantha Bopha bedeutet duftende Blume. So hieß eine Tochter König Sihanouks, die an Leukämie gestorben war. Der König stellte ihm später im Park seines Palastes Platz für ein zweites Krankenhaus zur Verfügung: Kantha Bopha 2. Das dritte Hospital in Siem Reap wurde 1999 eröffnet.
In Siam Reap zeichnet der Architekt Laurent Gross Pläne für den Anbau. Vier neue Pavillons sollen entstehen. Gross kümmert sich auch um die Stromgeneratoren, die Müllverbrennungsanlage, die Kläranlage, die Wasseraufbereitung und manchmal um Beat Richner: „Beat liebt die Schweiz, er ist hier völlig fehl am Platz, hat privat keinen Kontakt zu den Menschen. Er leidet, arbeitet nur. Fertig. Und das hält er schon verdammt lange aus. Er träumt von der Schweiz.“
Richner sagt, er müsse sich vor falschen Freunden hüten, lese deshalb lieber in seiner Wohnung ein Buch. „Egal, zu welcher Jahreszeit, hier ist es monoton. Die Hitze prägt den Charakter, das wirkt sich aus.“ Ein andermal sagt er: „Ich vermisse die Schweiz, bin einsam hier. Aber wenn ich in der Schweiz bin, dann will ich zurück.“ Dann springt er zu einem anderen Thema. Die Klinik in Siem Reap sei ein Musterbetrieb: Aus vielen Ländern Asiens und Afrikas kommen inzwischen Fachleute, um sie anzuschauen und die Organisation zu studieren. Sogar Südafrikas Präsident Mbeki war hier. In dem Saal, in dem Richner einmal wöchentlich Beatocello ist, finden Schulungen statt. Dafür hat ihn die Schweizer Regierung finanziert. Richner erzählt stolz davon. Und dann wird er wieder wütend. „Hat ein kambodschanisches Kind keinen Anspruch auf korrekte Medizin?“
Die Regierung hat immer wieder gesagt, Kinder-Tbc sei kein Problem im Land. In den Kliniken zeigt sich das Gegenteil. “Wenn wir Geld verlangen würden, könnte sich keine Familie eine Behandlung leisten. Dieses Land ist arm“