So starb Diane wirklich
Diane war sehr schön. Sagen alle, die sie kannten. Sie fiel beim Bau des Matrimandir, des großen Tempels, von ganz oben herab. Der Sturz war schrecklich anzuschauen, sagen die, die ihn sahen. Matrimandir, die Kugel, ist 29 Meter hoch. Der Sturz wurde immer wieder verzögert, manchmal sah es so aus, als würde Diane nicht weiterfallen. Aber sie fiel und fiel weiter, obwohl der Sturz immer wieder Geschwindigkeit verlor, wenn sie an die Außenwand prallte, rutschte, von dort an das Baugerüst fiel, zurück an die Außenwand, wieder an das Holz und Metall des Gerüsts, zurück an den Beton. Hin und her. Bis sie unten aufschlug. Die Szene ist filmisch. Wer immer sie heute, mehr als zwanzig Jahre danach, auch schildert, gibt eine Zeitlupendarstellung. Manche können sich an Geräusche erinnern, ein dumpfes Hin- und Herdotzen. Andere schildern einen Stummfilm. Es dürfte normal sein, dass einige sagen, sie fiel von ganz oben, andere dagegen sie etwas über dem Äquator, der Mitte der Kugel, sahen, als sie fiel. Zeugenaussagen sind eine schwere Sache, solche Szenen machen sich im Kopf selbstständig.
Diane überlebt, ist querschnittsgelähmt. Obwohl… die Ärzte sagten, die Wirbelsäule sei ok, Diane, gerade 30 Jahre alt, müsste eigentlich wieder gehen können. Doch sie geht nicht, sie lebt in einem schönen Haus am Rande von Auroville, nahe am Meer, betreut von einem reichen, seltsamen Amerikaner, der wirklich Johnny Walker hieß, ein Künstler. Er hat das Haus für Diane und sich gebaut, kümmert sich liebevoll und selbstlos um sie, opfert sich zehn Jahre lang. Er wird hager, dürr, faltig. Aids? Das sagen einige, aber niemand weiß es genau. Nach exakt zehn Jahren stirbt er, liegt tot in dem schönen Haus, Diane kann sich nur im Rollstuhl darin bewegen und weil Johnny Seile und Stangen angebracht hat, an denen sie sich entlanghangelt. Rollstühle, damals in Indien, zu der Zeit, waren nicht die besten Konstrukte, aber mit den Seilen und Stangen war das Haus zu Dianes Welt geworden. Über die Schwelle raus in den Garten kann sie nicht.
Nach Stunden kommt ihr Ex-Mann, bei dem die Kinder leben, vorbei. Diane bittet ihn um tödliches Gift. Nein, sagt er, aber er schiebt sie in ihrem Rollstuhl in den Garten, ahnend, was passieren wird, während er andere hinzuholt. Sie wirft sich aus dem Rollstuhl, robbt durch den tiefen Sand zu den Sträuchern mit den dunkelroten Tupabeeren. Isst. Das ist Selbstmord. Sagen alle, die inzwischen gekommen sind und im großen Saal des Hauses diskutieren, über Sterbehilfe. Diskussionen sind wichtig in Auroville, Alltag, normal, sie werden jedesmal zu Ende geführt, auch wenn es weh tut. Drinnen diskutieren sie, während Diane schon ohne Bewusstsein ist. Sollen wir sie sterben lassen? Sie will ja sterben. Dürfen wir das? Was würde Sri Aurobindo dazu sagen? Was Mother? Schließlich fährt sie jemand ins Krankenhaus. Derjenige fährt schnell. Zu langsam. Sie stirbt in der Klinik, zum Glück ohne Bewusstsein, denn die Klinik von Pondicherry, Indien, …
Ihre Beerdigung ist surreal. Alle sind da, strahlender Sonnenschein. Am Ende, sie ist unter der Erde, stehen die anderen unten am Hügel und sehen oben zwei Männer, die untergehende Sonne hinter sich, sehen nur ihre Umrisse. Die beiden, Dianes Ex-Mann und der Franzose, der hier eine wichtige Rolle spielt in dieser hierarchielosen Gemeinschaft, in der um jede Entscheidung gekämpft wird, in der sich inzwischen, nach Jahren, die Alphatierchen durchsetzen, jedenfalls, die beiden Männer stehen als schwarze Figuren, diskutierend, oben auf dem Hügel, mit Blick auf den Golf von Bengalen. Unten weiß jeder, jeder, obwohl nicht darüber gesprochen wird, worüber die beiden oben sprechen. Häuser in Auroville gehören immer der Gemeinschaft, es gibt keinen, der Ansprüche darauf hat. Soll das Haus einem noblen Zweck zur Verfügung gestellt werden? – es gibt hier so viele Ideen, wie man der Menschheit oder der Allgemeinheit oder Auroville helfen kann. Oder soll der Vater mit den Kindern einziehen? Alle stehen unten, sehen die beiden großen Schattenrisse im Sonnenuntergang. Nur wenige Bewegungen. Es wird früh dunkel in Südindien, hier nahe des Äquators. In der Dunkelheit macht die Nachricht in Auroville die Runde, schnell wie immer: die Kinder und ihr Vater ziehen in das Haus. Alle atmen auf.
Das ist lange her. Das ist keine Sage, das war so, Leute, die dabei waren, weinen noch heute darüber. Dianes Kinder sind, wie viele Kinder Aurovilles, mit vierzehn, fünfzehn in die USA, in eine High School, im Haus leben jetzt andere. Der Vater ist auch weg. Die indische Polizei hat nicht untersucht. Warum auch? Und: die indische Regierung hatte Auroville und den „neuen Menschen“ vor langer Zeit zugestanden, dass die Bewohner sich selber um alles kümmern dürfen, dass die Polizei nicht für Auroville zuständig ist. Der Franzose ist noch da, noch immer eine wichtige Person, einer dieser Hardcore-Aurovillianer, die sich genau an das halten, was Mother mal gesagt haben soll. Mother und Sri sind wichtig hier, immer noch, Jahrzehnte nach ihrem Tod, manchmal absurd wichtig.
Über die Geschichte, die das kollektive Bewusstsein von Auroville prägt, wird nicht oft gesprochen. Aber wenn man die Leute, die dabei waren, anstupst, dann erzählen sie, ab einem gewissen Punkt wollen sie erzählen, müssen sie. Sie wollen die Erinnerung nicht loswerden, sie wollen sie bewahren, weil sie so viel erklärt. Diese Geschichte gehört zu Auroville: Matrimandir, Diskussionen, Schönheit, Probleme, Visionen, vieles. Sie ist symbolhaft, handelt von Opfern für die Gemeinschaft, für den einzelnen, vom Geben und immer vom Matrimandir, vom großen Tempel, dem Zentrum. Dessen Bau anfangs ein wichtiges Gemeinschaftserlebnis war. Das Graben, das dauerte, das gemeinsame Betonieren. Leute, die eigentlich andere Berufe gelernt und ausgeübt hatten, betonierten die große Kugel, den Matrimandir. Er ist noch immer, nach dreißig Jahren, nicht fertig, weil immer wieder das Geld ausging. Seit 1987 arbeiten die meisten Aurovillianer nicht mehr an ihm, das machen jetzt bezahlte indische Arbeiter. Ein Problem, denn Mother hatte gesagt, die Arbeit sollen alle machen, kein Lohn, ein spirituelles Erlebnis solle es sein.
Es gab viele Veränderungen in Auroville, weil Auroville wuchs, irgendwann mal war es nicht mehr die kleine Gemeinschaft, wo jeder jeden richtig gut kannte. Organisation, Pragmatismus war nötig, Ideale gingen flöten, Größe zwang zu Strukturen. Aber der Tempel, der keine Ecken hat, aber Albert Speer dennoch gut gefallen hätte, weil er so monumental rumsteht im Dschungel, im selbstaufgezogenen Dschungel. Er soll die Form eines Samenkorns haben, das aufgeht. Aber eigentlich sieht er aus wie ein gigantischer Golfball. Der selbstaufgezogene Dschungel, auch wichtig, er bestimmt genauso das Selbstverständnis wie Dianes Sturz und ihr Leben danach. Als Auroville gegründet wurde, war hier Wüste, ab und zu ein genügsamer, weitverästelter Feigen-Baum, sonst nichts. Die Kolonialherren, in diesem kleinen Teil Indiens, nahe Pondicherrys, keine Engländer sondern Franzosen, hatten jeden Baum, der verwertbar war, fällen lassen. Hier ist ein Plateau, vom Bengalischen Meer weht der Wind. Erosion. Hier war Wüste. Die ersten Aurovillianer machten nichts anderes als pflanzen. Inzwischen ist Auroville eine grüne Insel im Bundesstaat Tamil Nadu. In Tamil Nadu ist der Grundwasserspiegel in den letzten 30 Jahren um etwa 30 Meter gesunken, weil mehr Wasser entnommen wird als trotz des jährlichen Monsuns nachkommt. Tamil Nadu verdorrt. Auroville liegt nahe am Meer, deshalb versalzt das Grundwasser immer wieder. Aber Auroville blüht. Alle sind stolz auf die grüne Natur, die sie geschaffen haben, jeder, wirklich jeder, sagt: Du hättest das hier früher mal sehen sollen.
Ja, früher. Weniger Leute, mehr Gemeinschaft, größere Träume, keine Touristen. Auroville heute kann niemand wirklich erklären, Auroville früher auch nicht. Zu kompliziert, zuviel Individualismus, zuwenig Regeln, zuviele Regeln. Auroville, das Aussteigermekka, der träge Koloss, der trotz allem funktioniert. Man kann ihn schlecht definieren, weil … einige Beispiele: Es gibt acht verschiedenen ökonomische Systeme in Auroville, einige versuchen noch immer ohne Geld auszukommen, so wie es einmal die Vision war. Andere ackern wie verrückt, um Geld zu machen und es der Gemeinschaft zu geben. Wieder andere ackern wie verrückt, um reich zu werden, geben wenig ab. Viele kommen mit Geld und halten sich aus allem raus. Andere kommen ohne und leben von Sponsoren. Manche wollen ihre Maintenance nicht, das ist der Betrag von 3000 Rupien, der hier jedem aus der Gemeinschaftskasse zusteht, der für die Gemeinschaft arbeitet. Einige arbeiten hart, andere künstlern oder philosophieren, denn das gilt ja auch als Arbeit für die Gemeinschaft. Jeder macht hier Entwicklungen durch, wird vom Hippie zum Hardcore-Kapitalisten oder umgekehrt und manchmal wieder zurück. In Auroville geht das schneller als anderswo. Vom Altruisten zum Egoisten, zum Egoisten aus Altruismus, zum Altruist aus Egoismus. Nur eines ist konstant: Individualist ist jeder in Auroville. Sie sind so stolz darauf, völlig konform.
Zum Fundament gehört Sri Aurobindo, ein Philosoph. Ganz knapp zusammengefasst sagte er: der Mensch heute ist nicht die Endstufe der Evolution, er kann besser werden. Los, meditiert, lebt gut, schadet keinem, Geld sollte unwichtig sein. Nun, es leben Männer in Auroville, die vier, fünf Montae im Jahr in Afrika arbeiten, den Transport von Kupferminen managen oder Ölbohrungen im Sudan, in Krisengebieten, mit Logistik versorgen. Um das Leben ohne Geld in Auroville zu finanzieren. So versuchen sie, anders zu leben. Es gelingt einigen, einigen nicht, viele schaffen es ein paar Jahre. Die Idee Aurobindos, die Idee von der besseren Welt, sie hat sich ein bisschen wundgelegen.
Bei Dianes Mutter in einem kleinen für Auroville sehr schicken Häuschen. Sie lebt hier mit einer anderen Dame, kam vor acht, neun Jahren endgültig. War gekommen nach Dianes Tod, immer wieder mal für Wochen. Dann, „ich war 69 Jahre alt“, verkaufte sie das Haus in Chicago und das Wochenendhaus am See, die Aktien, alles. Eine elegante Frau, früher im Countryclub, viel auf Reisen in Europa, nun mit weißem Haar, einem anmutigen Lächeln. Sie spricht ruhig und etwas zu leise. Sie lässt sich alles fragen, antwortet auf alles. Erzählt von Dianes Kindheit, wie sie nach dem College loszog. Dianes Mutter erzählt alles, was sie über den Tod weiß, erzählt von Dianes Kindern. Schildert, wie sie hier ankam und sich in den Ort verliebte, in das Leben hier, das, so sagt sie es, „bessere Leben“. In den USA war sie viel beim Psychotherapeuten. Hier benötige sie das nicht, aber die Therapien machen es ihr möglich, so sagt sie, „zu sagen, dass ich nicht hier bin, weil meine Tochter, meine einzige Tochter, hier starb. Nein, es ist einfach so, dass mir Aurovilles Leben gefällt. Es ist sozialer, es ist friedlicher, es ist einfach schöner.“ Man kann mit ihr, da unterscheidet sie sich von vielen Aurovillianern, diskutieren und ja, sie gibt es zu, „Auroville ist leichter zu leben, wenn du Geld hast“. Manchmal wache sie auf und freue sich, hier zu sein. Dass Diane hier starb, spiele dann keine Rolle. „Das ist jetzt auch schon sehr lange her.“