Der Erweckte

Reportage
zuerst erschienen im Juni 2006 in brand eins

Bei der Party zum Ende der Dreharbeiten, in der Wohnung der Regisseurin Dana Ranga in Berlin: Valery Polyakov, der Arzt, Wissenschaftler und ehemalige Kosmonaut, ist gut gelaunt, geradezu schwerelos. Er trinkt keinen Alkohol, schenkt aber anderen Wodka ein, halt oft seine Frau im Arm, redet mit den Gästen und lacht. Der bis dahin so zurückhaltende Russe wirkt plötzlich - zuvor war er immer zurückhaltend - wie ein Partylöwe.

Der Film „Cosmonaut Polyakov“ ist abgedreht, seine Arbeit ist beendet, Polyakov genießt das und die Party. Der 64-Jährige hat eine sehr russische Ausstrahlung, diesen Tiefgang, diese Lebenslust und diese Melancholie. Er spricht recht gut Englisch, will aber, dass die Dolmetscherin alles übersetzt. Seine Frau, Nela, eine Psychologin, ist immer dabei, passt auf, kontrolliert, unterbricht, stellt richtig. Polyakov ist, bei all seiner Freundlichkeit, misstrauisch. Der Mann, der langer ununterbrochen im All war als irgendjemand sonst und bei zwei Reisen fast zwei Jahre insgesamt oben in der Schwerelosigkeit und Einsamkeit, sagt, dass er schon oft falsch zitiert worden ist. Das Thema sei auch so schwer in Worte zu fassen.

Auf jeden Fall ist er der Mann, um den es sich immer dreht. Sergei Krikalyov war insgesamt 803 Tage im All, länger also als Polyakov, der war 678 Tage, 16 Stunden, 32 Minuten weg von der Erde - die Astronauten-Fanseiten sind voll solcher Zahlen. Aber es dreht sich immer nur um Polyakov, denn der war am längsten in einem Stück weg. Krikalyov sammelte seine Spacetime bei sechs Flügen. Schon Polyakovs erster Flug war ein Universums-Rekord, er flog mit zwei anderen Kosmonauten in einer Sojus zur Mir, die anderen beiden flogen wieder zurück, er blieb bei der Mir-Besatzung. Die wechselte öfter. Polyakov blieb.

Und er arbeitete viel. Auf den verschiedenen Websites der Weltrauminteressierten findet man immer wieder Lob für das Pensum, das er, der Mediziner, erledigte. Ja, er habe viel zu tun gehabt, sagt er. Auch viel Angst, all die Arbeit nicht vollständig erledigen zu können.

Für seine Fans ist er ein Popstar. Er hat gezeigt: Menschen könnten auch zum Mars reisen Das Internet ist voller Details über Astronauten, die wie Popstars behandelt werden. Auf Astronautix, der Encyclopedia Astronautica, findet man den Hinweis, dass Polyakov 1964 bei seiner Ausbildung in einer Druckkammer zu langsam reagierte und deshalb aussortiert wurde. Doch am Ende war er derjenige, der ins All kam. Sein zweiter Aufenthalt dauerte 437 Tage, 17 Stunden, 32 Minuten. Experten sagen seitdem, dass der Mensch es bis zum Mars schaffen kann. Nach Berechnungen der Nasa bräuchte man acht Monate Reisezeit, und Polyakov hat bewiesen, dass das ginge. Bei Daueraufenthalten im All waren die Russen immer weit vom. Als Polyakov seinen ersten Rekord aufstellte, dauerten lange amerikanische Raumflüge um die 20 Tage. Am nächsten Morgen, im Hotelfoyer. Seine Frau passt auf, er erzählt. Nach fast 40 Jahren Raumfahrt ist eines für ihn sicher: Das Gefühl der Schwerelosigkeit scheint unbeschreibbar zu sein. Die Schwierigkeit, es mit anderen zu teilen, unüberwindbar. Er sei nie zufrieden mit den Veröffentlichungen. Das Besondere - es komme nie rüber. Alles so banal, so einfach, wenn ausgesprochen oder geschrieben, nicht leicht in Worte zu fassen.

Was ist das für eine Magie, die er gespürt hat? Es gibt viele Weltraumfahrer, die so genannte Erweckungserlebnisse hatten, bisher wurde das noch nicht richtig untersucht, psychologische Betreuung für Astro- oder Kosmonauten gab es so gut wie nicht. Story Musgrave, ein amerikanischer Astronaut, sagt: „Es ist etwas sehr Einfaches - ein umfassendes Gefühl des Ganz-Seins, der Ekstase, der Einheit. Als ob ich der Kosmos wäre. Ich bin ein Teil des Prozesses, ich bestehe aus Molekülen. Meine Moleküle sind jene Moleküle - der Stern, der dort stirbt, das bin ich.“ Das klingt klasse, wenn man dazu die Bilder sieht, die die Regisseurin Dana Ranga dazu in „Story“ zeigt, ihrem ersten Weltraumfilm. Aber mal ehrlich: Was will der Mann sagen? Musgrave, Arzt, Mathematiker und Chemiker, war sechsmal im All. Erstmals 1983 beim Jungfernflug der Challenger, letztmals 1996 mit 61 Jahren und so der bis dahin älteste Mensch im All. Als Rentner beriet er danach den Disney-Konzern und kam, nun ja, schräg drauf. Er glaubt inzwischen an außerirdisches, intelligentes Leben im All und schreibt Gedichte über die Schönheit der Natur.

Damit steht er nicht allein. „Tatsächlich scheint der Über-Blick auf den Planeten bei vielen Astronauten tiefe Empfindungen für ihre Heimat Erde zu wecken“, hieß es in einem Beitrag der Zeitschrift “ Psychologie Heute“. „Etliche Heimkehrer beschwören hernach den Schutz dieses einzigartigen Lebensraums und den Zusammenhalt der Menschheit.“ Einige Beispiele. Aleksandr Aleksandrov, 1983 und 1987 im All, sagte: „Es spielt keine Rolle, welches Land man sieht, wir sind alle Kinder der Erde, und sie ist für uns die Mutter.“ Sigmund Jähn, 1978 als erster Deutscher im All, sah die Erde „voller Schönheit und Zartheit“. Es sei klar, „dass der Menschheit wichtigste Aufgabe“ sei, den Planeten „zu hüten und zu bewahren“. Edgar Mitchell, 1971 mit Apollo 14 auf dem Mond, offenbarte der Blick auf die Erde „einen Schimmer des Göttlichen“. Seit damals befasst er sich mit paranormalen Phänomenen und sucht eine gemeinsame Basis von Wissenschaft und Spiritualität. Boris Volynov, der 1969 mit Sojus 5 im Weltraum war und wegen mehrerer technischer Defekte die härteste und gefährlichste Landung im Ural mitmachte, sagte: „Während eines Fluges im Kosmos ändert sich die Psyche eines jeden Kosmonauten. Wenn du die Sonne, die Sterne und unseren Planeten ansiehst, gewinnst du mehr Lebensfreude, wirst milder, bekommst eine innigere Beziehung zu allem Lebendigen und entwickelst ein gütigeres und duldsames Verhältnis zu deinen Mitmenschen.“ Irgendetwas passiert da oben.

Die bemannte Raumfahrt - ein großer Sieg der Sowjetunion über den Rivalen Amerika Polyakov war im All, als die Sowjetunion sich auflöste, als er wieder runterkam, war alles anders. Wenn je einer auf einer Zeitreise war, wie sie Hollywood liebt, dann Polyakov. Er ist gut im Beschreiben der alten Sowjetunion, der er seine Karriere verdankt. Einmal, das ist der magischste Moment, sagt er: „Gagarin“ und schaut, wie man auf den Namen reagiert. Yuri Gagarin war der erste Mensch im All, er umrundete die Erde vom 12. auf den 13. April 1961, und in den USA brach Panik aus, weil man den Russen nur mühsam hinterherhoppelte. Die hatten den ersten Satelliten die Erde umrunden lassen, dann den ersten Hund, dann die ersten zwei Hunde und dann Gagarin. Yuri Gagarin und die zwei Hunde hatten sie sogar lebend wieder zurückgeholt. „Es war ein Traum für mich und Millionen.“ Und eine Therapie für den Minderwertigkeitskomplex gegenüber den wirtschaftlich erfolgreicheren Amerikanern. Nach Gagarins Flug sei klar gewesen: „Wir können das besser. Wir haben Zukunft.“ Der Dokumentarfilm, der abgedreht ist und dieses oder kommendes Jahr bei Arte laufen soll, dreht sich vor allem um dieses Leben in der magischen Schwerelosigkeit und die Rückkehr in die Normalität. Dana Ranga, die schon mit 60 Leuten gesprochen hat, die im All waren, ließ Polyakov in einem Mir-Zentralmodul im Waldpark Grünheide in Auerbach sitzen, von fünf Kameras beobachten und interviewte ihn tagelang. Es ging darum, zu zeigen, dass die Erfahrung im Weltraum radikale Veränderungen im Bewusstsein mit sich bringt, so steht es im Filmexpose. Der Film spielt nur im Herzstück der Raumstation. An die Mir wurden immer wieder irgendwelche Module angedockt, sie wirkt für Laien wie ein Baukasten, mit dem Zentralmodul als wichtigstem Teil. Das in Auerbach wurde bis vor kurzem von der ESA, der European Space Agency, zum Üben benutzt.

Es ging bei den Interviews ordentlich zur Sache. Man muss sich das so vorstellen: Polyakov sitzt da wieder einmal knapp 14 Tage drin, in einer ähnlichen Situation wie damals, Kommunikation per Kopfhörer und Mikrofon, nur dass diesmal kein Kontrollzentrum zusieht, sondern Filmkameras und letztendlich Fernsehzuschauer. Das Setting sollte für Authentizität sorgen. Normalität nun am Morgen nach der Party in der Lobby eines Hotels. Polyakov erzählt: geboren in Tula, „200 Kilometer weg von Moskau“. Das sei damals noch eine Entfernung gewesen. Eigentlich hieß Valery Polyakov Valery Ivanowich Korshunov, aber mit 17 nahm er den Nachnamen seines Adoptivvaters an. „Ich wollte etwas Abenteuerliches erleben.“ Es sei „genau der richtige Zeitpunkt gewesen, es war also auch Glück“ .

Sein Medizinstudium ging gerade zu Ende, als Kosmonauten gesucht wurden. Besser gesagt, eine Jury des Instituts für kosmische Medizin suchte Studenten. „Es war klar, worum es ging. Ich wollte hin, habe mich beworben.“ Er fiel durch. „Das ist eine banale Geschichte. Zu dem Zeitpunkt brauchte man eine Anmeldung in Moskau. Man musste da wohnen. Ich hatte als Student keine richtige Aufenthaltsgenehmigung.“ Realsozialistische Bürokratie. Die Aufenthaltsgenehmigung ist noch heute entscheidend in Moskau und spaltet die Einwohner in diejenigen, die eine haben, und diejenigen, die ständig Schmiergeld zahlen müssen. Legal bekommt man heute kaum noch eine Anmeldung, weil die Verantwortlichen lieber befristete, illegale, gut bezahlte ausstellen.

Damals war die Korruption noch nicht ganz so groß. Als Polyakov sich zwei Jahre später wieder bewarb, weil er unbedingt etwas erleben wollte, hatte er eine Anmeldung. Zuvor hatte er seine Frau kennen gelernt und geheiratet. Sie lächelt, sie stammt aus Moskau, ohne die Hochzeit wäre er nicht Kosmonaut geworden. Die beiden wirken aber, als hätten sie auch aus anderen Gründen geheiratet. Sie lächelt wieder, er erzählt weiter.

Wie viele haben sich beworben? 500 Absolventen, 50 wurden genommen. Es sei ja nicht so, dass die Aufnahme bedeutete, man wird Kosmonaut, es war nur ein Schritt in diese Richtung. Auch er, sagt er, nachdem er lange und völlig weggetreten darüber nachgedacht hat, „ja, eigentlich habe ich nur davon geträumt, Kosmonaut zu werden. Es war nicht konkret. Es gab auch keinerlei Konkurrenzkampf.“ Irgendwann kommt es zu diesem religiösen Moment im All. Und zum Astronautenpathos Es kam das nächste Auswahlverfahren, nun ging es darum, ins Kosmonauten-Training zu kommen. Was war wichtig? “ Gesundheit und die Vergangenheit, es wurde nachgeschaut, ob man Verwandte in deutscher Gefangenschaft während des großen Krieges gehabt hatte.“ Es gab 100 Kandidaten, von denen blieben fünf übrig. „Ich habe nur normal Sport gemacht, nicht viel für meine Gesundheit getan.“ Er wurde trotzdem genommen. Später rückten andere Kandidaten nach, die schon vor ihm ins Programm aufgenommen worden waren. Von da an gab es 1000 Tests, für jedes Körperorgan, immer wieder, jahrelang, neben dem Studium. Gegen Ende waren es zehn Mann in der Endauswahl, sie wurden nach und nach aussortiert. Einer, ist zu lesen, fiel quasi durch die Führerscheinprüfung. Er flog immer zu schnell und oft auch zu tief und schien es nicht besser lernen zu können. Polyakov aber blieb am Ende übrig. Das sei für ihn ein großer Moment gewesen. „Ich habe 20 Jahre darauf gewartet. Aber bei aller Freude, ich hatte große Angst vor der Technik.“ Der Start, der erste Start, am 29. April 1988, sei nicht der Höhepunkt gewesen. Auch nicht der zweite, im Januar 1994. Bis zum Abheben habe er immer viel gearbeitet, „bis zum letzten Moment“, den Start habe er nicht als großen Moment in Erinnerung. Die großen Momente kamen später im All. Er kann sich an die “ religiösen Momente“ erinnern. „Man bedankt sich für das, was man erreicht hat“, und sehe dabei von weit weg, 400 Kilometer, auf die Erde. Wenn man runterschaue, das sei der Moment. Unbeschreiblich. Nicht vermittelbar. Er lässt die Dolmetscherin mehrmals übersetzen. „Erst im All, wenn alles vorbei ist, ist der Traum erfüllt. Ja, es war die Erfüllung meines Traums.“ In dem Augenblick, als er das sagt, nimmt seine Frau, die im Sessel nebenan sitzt, seine Hand. Die beiden schauen sich an, beide lächeln. Dann fügt er hinzu: „Es ist vielleicht ein religiöser Moment. Man bedankt sich für das, was man erreicht hat. Ich hatte doch 20 Jahre auf diesen Moment gewartet.“ Nein, das sei nicht bloß Euphorie, „das ist ein sehr großes Gefühl, weil du derjenige bist, der von der Seite auf die Erde schauen darf. Das ist was Besonderes. Aber nur kurz, bis dir klar wird, dass die Erde in Gefahr ist.“ Da ist es wieder, das Astronautenpathos.

Der bulgarische Sojus-Kosmonaut Alexandr Aleksandrov, auch Gast auf der Mir und nicht zu verwechseln mit seinem russischen Namensvetter, sagte beispielsweise: „Wir flogen über Amerika, und plötzlich sah ich Schnee, den ersten Schnee, den wir aus dem Orbit sahen. Ich habe Amerika nie besucht, aber ich stellte mir vor, dass die Ankunft des Herbstes und des Winters dort genauso ist wie in anderen Gegenden und dass man sich dort genauso darauf vorbereitet. Und dann traf mich der Gedanke, dass wir alle Kinder unserer Erde sind.“ Man schaue runter, sagt Polyakov, und dann „tja, es ist nicht zu beschreiben, es passiert was in dir“. Nun hätte er gern, dass alle Politiker, alle Verantwortlichen, mal ins All kommen. „Man hat eine einmalige Möglichkeit, auf die Erde zu schauen. Es gibt eine Auswirkung des Alls auf das Bewusstsein. Man erkennt, dass alles hier unten vergänglich ist. Man wird geduldiger, auch innerlich.“ Glauben Sie an Gott? Polyakov gibt keine klare Antwort.

Dort oben war alles immer so klar. Unten wurden die Verhältnisse immer unübersichtlicher Als er zurückkam, fing er an zu rauchen. Nun will er sich auf keinen Fall mit Zigarette fotografieren lassen, das sei nicht gut, er, der Kosmonaut, will Vorbild sein. Vorher habe er nicht rauchen können, Vorschrift, Training. Und jetzt - er wisse auch nicht, warum, es sei nicht klug. Seine Frau nickt. Als er oben war, hat sich unten die Welt sehr verändert. Wie ist das, in eine veränderte Welt zurückzukommen? „Sie ist nicht wirklich verändert.“ Er macht eine Pause, schaut lange starr geradeaus, dann: „Doch, du kehrst zurück in eine Welt, die alles für dich war, und siehst, dass sie sich in die schlechtere Richtung bewegt hat. Aber du bist froh, dich wieder adaptieren zu können. Es ist wie eine Genesung, obwohl die Welt schlechter geworden ist.“ Ist sie? „Ich habe das Gefühl.“ Hat er mal Angst gehabt? Nein, richtige Angst nie. Es habe immer Notfallpläne gegeben, er habe sich nie aufgegeben oder vergessen gefühlt. Es gab eine Liste mit 14 Orten auf der Erde, „in Frankreich, in Kanada, in Afrika, in China, in den USA, wo wir hätten landen können, und zwar von uns aus. Das war programmiert“.

Aber, „wir haben die Veränderungen auf der Erde ja verfolgt, wir waren informiert. Ich hatte Angst, dass ich mich in der neuen Welt nicht zurechtfinde“.

Wie ist das Leben jetzt so? Finanziell gehe es ihm heute besser, wenn das denn die Frage sei. Aber es gebe Schattenseiten. Die Erfahrung, die er gesammelt habe, sei nicht mehr so gefragt. „Die Branche ist in Vergessenheit geraten.“ Es gehe ihm gut, er sei einer der glücklichen Leute, die vorher und nachher vergleichen können. Astronautenpathos? Er gibt auf, man könne es nicht beschreiben. Tue ihm Leid. Jetzt wolle er noch shoppen gehen mit seiner Frau. Nela lächelt.