Palermo

Reportage
zuerst erschienen im Juni 2001 in brand eins
Die größte Stadt Siziliens ist ein Synonym für Mafia, Korruption, Verfall und Hoffnungslosigkeit. Doch Palermo fasste neuen Mut und erlebt nun seinen zweiten Frühling. Eine Renaissance, die zeigt wie Hoffnung immer mehr Hoffnung bringt

Es geht um ein kollektives Gefühl, ein gutes und wichtiges Gefühl, plötzlich aufgetaucht und schon fest in den Köpfen und Herzen sitzend. Die Menschen lieben es und wollen es auf keinen Fall verlieren, komme, was wolle, ihretwegen auch die Wirklichkeit. Das Gefühl ist stark, so stark, dass es aus schlecht gut macht. Es hat für angenehme Zeiten gesorgt, die ersten hier in mehr als hundert Jahren. Für einen Aufschwung. Es ist wahrscheinlich, dass der Schein trügt. Aber das wollen sie nicht wahrhaben, die Bewohner Palermos, sie lieben ihren Boom, also gibt es ihn. Sie haben die guten Zeiten herbeigehofft und herbeigeredet. Sind nun optimistisch. Und sie packen jetzt an. Für Sizilianer ist das eine besondere Leistung, denn sie haben die Neigung, Schicksal zu akzeptieren, Widrigkeiten zu ertragen, einen geradezu masochistischen Drang zu dulden. Immer war die Insel besetzt, von Normannen, von Arabern, von Byzantinern, von Staufern, von Franzosen, von Spaniern und von der Mafia, die den Leuten anfangs gegen die Mächte von außen half, für Regeln und Ordnung sorgte, dann aber zum Unterdrücker und Abkassierer degenerierte. So lernten die Sizilianer ertragen.

Aber plötzlich wollten sie nicht mehr, und Palermo schwingt sich nun auf. Jede Kleinigkeit wird zum Symbol: Der Bürgermeister hat keine Leibwächter mehr nötig. Man kann um zwei Uhr nachts durch die Stadt gehen, auch als Frau. Dass im Zentrum bald eine große Stefanel-Boutique aufmachen wird, ein Body Shop eröffnet wurde: wow! Vor zehn Jahren einfach undenkbar. Überall wird restauriert und saniert, Palermo ist eine Stadt der Baustellen. Die beiden großen Querverbindungen, die Via Roma und die Via Maqueda, entwickeln sich zu Prachtstraßen, ein Laden neben dem anderen. Und die Viale della Libertà erst: Designershops, Carrier. Überall Kneipen, Cafes, Speiselokale. Dass die ersten Busse mit japanischen Touristen unterwegs sind, hurra! Große Banken mit Hauptsitz in Norditalien eröffnen Filialen auf Sizilien, fantastico! An der Autobahn am Rand der Stadt: achtstöckige Neubauten, direkt aneinander, mit folgenden Neonschriften: Ericsson, Alcatel, Nortel Networks, Cities On Line, Internet + TLC Company, LTS Telecomunicazioni & Servizi. Und die Menschen ändern sich. Früher galten die Sizilianer als ruhig, nicht so laut wie andere Italiener, nicht so lebhaft. Inzwischen aber ist Palermo mit seinen 720 000 Einwohnern schreiend wie Neapel oder Rom. Und seit mehr als vier Jahren habe es keinen Mafia-Toten mehr gegeben, sagen sie.

Der wirkliche Beginn des Wandels aber war früher, und auch er hatte mit der Mafia zu tun. Im Mai 1992 explodierte eine Bombe unter dem Konvoi des Untersuchungsrichters Giovanni Falcone. Er war der Mann, der die Mafia knacken sollte, der soundsovielte, aber der Erste, der voranzukommen schien. Die 500 Kilo schwere Bombe tötete ihn, seine Frau, drei Polizisten, es gab viele Verletzte und einen 30 Meter großen Krater. Ein Zeuge erzählte damals: „Vor uns tat sich die Hölle auf. Eine Szene wie aus der Apokalypse. Und dann eine unwirkliche Stille.“ Jeder in Palermo hatte das Gefühl, die Mafia sei diesmal zu weit gegangen. Sie ging noch weiter. Zwei Monate später explodierte die nächste Bombe: Paolo Borsellino, ein weiterer Mafia-Ermittler, starb. Mit ihm fünf Polizisten.

Mafiakriege, 300 Tote im Jahr. Aber: Die Mafia schaffte Arbeitsplätze, und damit war sie ganz okay

Ein bisschen Historie als Hintergrund: Die Mafiosi bekriegten sich in den achtziger Jahren untereinander. Die aus Corleone gegen die aus Palermo. Fast 300 Tote jährlich. Aber das lief am Rande, die Leute sagten: Das sind Interna. Die Mafia tötete damals schon Staatsanwälte, Polizisten, Politiker, egal, sagten die Sizilianer, das betrifft uns nicht wirklich. Die Mafia hatte von den fünfziger bis in die siebziger Jahre die Sacco di Palermo durchgezogen, milliardenschwere staatliche Sanierungsprogramme abkassiert, doch was soll’s. Autobahnen und Wohnviertel wurden zwar bezahlt, nicht aber gebaut. Egal, der italienische Staat ist doch auch nicht gerade heilig. Noch heute sagen Sizilianer einfach Italien, wenn sie Festland meinen. Sie beginnen jetzt erst, sich dazuzuzählen, bis vor kurzem waren sie noch so etwas wie eine Kolonie. Wenn sie sich selbst herabsetzen wollen, und dazu haben sie eine Neigung, dann sagen sie: Hier ist Afrika. Oder: Wir sind Afrika. Noch 1986, als mal wieder ein Mafia-Prozess in Palermo begann, die damals übliche, lächerliche Veranstaltung, weil Urteile sowieso von einem höheren Gericht in Rom kassiert wurden, das war ein Naturgesetz, 1986 also demonstrierten Arbeiter vor dem Rathaus mit Plakaten wie: „Mit der Mafia gibt es Arbeitsplätze, ohne Mafia keine“ und „We want Mafia“. Das stimmte. Noch vor sechs Jahren sagten Parlamentsabgeordnete ernsthaft: Wenn eine Mafia-Firma geschlossen wird, muss sie spätestens fünf Tage später wieder geöffnet werden, sonst sage die Bevölkerung: Mit der Mafia ist es besser.

Camilla Piadimonte ist 28 und arbeitet als Anwältin. Als die Bombe explodierte, war sie Studentin, spielte Tennis im Club La Favorita, nicht weit von der Via D’Amelio, der Straße, in der Borsellino starb. Camilla war am Gewinnen. „Ich hörte die Explosion, sah den Rauch. Der Gegensatz war schrecklich, es war ein schönes Gefühl zu spielen, es machte Spaß. Dann das. Wie jeder andere wusste ich sofort, was passiert war ein schneller Schub von Depression. Wie mir ging es der ganzen Stadt.“ Sie verklärt den Augenblick, spricht von einer kollektiven Erfahrung der Bevölkerung. Wie alle anderen ging sie auf die Straße. „Zuvor hast du die Mafia im normalen Leben nicht wahrgenommen.“ Gut, „Palermo was a wild zone“, aber man kannte es ja nicht anders. Ich war in den Achtzigern mal dort, um acht Uhr abends war die Stadt tot, nichts passierte mehr, nichts. In Süditalien! Wo Leute mit mediterranem Temperament leben! Alles war verfallen, hässlich. Viele Häuser waren zugenagelt, es war schwer, ein Hotel zu finden. Ganze Barios, Viertel, waren noch in dem Zustand, den die Bombenangriffe der Alliierten 1943 geschaffen hatten. Fließend Wasser gab es ab und zu. Und, so las ich später, nur für die, die neben den Wasserwerken auch die Mafia bezahlten. Heute hat die ganze Stadt rund um die Uhr Wasser. ,Ja“, sagt Camilla, „ich kann mir gut vorstellen, was ein Besucher damals empfand. Alles Leben fand zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen. Aber für uns war das einfach Palermo, nicht Folge der Mafia, wir haben das anders wahrgenommen.“ Dann die Bomben, und plötzlich sei allen klar geworden: Es muss sich etwas ändern. So kam die Renaissance von Palermo, doch, so einfach ist das.

Wer ernst genommen werden will, muss viel aushalten: Todesangst und Strapazen, jeden Tag neu

Jahrelang herrschte Belagerungszustand. Überall Polizisten mit Maschinenpistolen, 7000 kamen in den Tagen nach dem Borsellino-Mord in die Stadt. Überall der Staat, freudig begrüßt mit vielen Demonstrationen in den Schulen und an der Uni. Simona Vicari, 34, seit fünf Jahren Bürgermeisterin in Cefalù, nahe Palermo, und - Frau, jung, vorlaut und risikofreudig anti-mafia, bis in die Neunziger hatten Politiker in Sizilien das Wort Mafia nie im Mund - so etwas wie das Megasymbol für die sizilianische Renaissance: „Klar versteht das ein Deutscher nicht, bei Ihnen hat der Staat sich rechtzeitig gewehrt“, sagt sie und meint Deutschland im Herbst der siebziger Jahre mit RAF und Polizeikontrollen. “ Mag also sein, dass Polizisten mit Maschinenpistolen Ihnen Unwohlsein bereiten. Ich sehe die hier als Boten der Freiheit.“ Simona Vicari arbeitet jeden Tag zwölf Stunden und fährt eine Stunde in die Gemeinde, die sie leitet, und eine zurück. Das tut sie, damit sie dort nicht zum Klüngel gehört, nicht den Hauch von Mafiösern an sich haften hat. Sie ist alleinerziehende Mutter zweier Töchter, eine Kämpferin, hat Ringe unter den Augen, bittet am Anfang des Gesprächs um zwei Minuten, um durchzuatmen. Aber als sie von der Renaissance Siziliens spricht, da geht es ihr gut. In zehn Tagen Palermo haben mir 15 Leute von sich aus erzählt, wie damals der Bewusstseinsschub kam, das plötzliche Aufbäumen nach den Bomben. Die Renaissance von Palermo, von Sizilien, das sind die Worte, die alle benutzen, in jedem Gespräch fallen diese Worte. Und der Name Leoluca Orlando. Er war in den achtziger Jahren Bürgermeister, wurde aber von der Democrazia Cristiana, der Regierungspartei, ausgebootet. 1993 kam er wieder, mit einer eigenen Partei, die einen wichtigen Programmpunkt hatte: nieder mit der Mafia. Oder kürzer: Città Normale. Er wurde gewählt. Stand auf der gleichen Todesliste wie Falcone und Borsellino, aber bevor er an der Reihe war, gab es die Mafia in ihrer alten Form nicht mehr, Paten waren festgenommen worden, Auftragskiller auch.

Orlando lebt. Er hatte das erste wichtige Symbol geboten. Denn er ließ in kürzester Zeit das Teatro Massimo restaurieren und eröffnen. Palermo war Anfang des vergangenen Jahrhunderts die Kulturstadt Italiens, in diesem Zusammenhang sehen sie Sizilien dann doch als Italien. Das Teatro Massimo war wichtiger und besser als die Scala in Mailand, sagen sie. Dann die dunklen Zeiten. Das Theater, eine Riesenkuppel im Zentrum, war 23 Jahre lang geschlossen. Die ganze Zeit Restaurationsarbeiten. Das Geld versickerte. Es wurde nicht wirklich restauriert. Orlando setzte hier an, das Theater war plötzlich doch saniert, eröffnet, und „es ist immer noch offen, das ist ein wichtiges Zeichen für uns“, sagt Attilio Carioti, Chef der Sanierungsbehörde. Er und seine Leute pumpen Geld in Massen in die Restaurierung der vielen alten Gebäude der Stadt: umgerechnet 170 Milliarden Mark für öffentliche Gebäude, 90 Milliarden Mark als Subventionen an Privatleute, innerhalb von vier Jahren. Die Wirkung ist simpel: „Die Leute sind jetzt stolz, Bürger von Palermo zu sein.“ Und: „Die Idee war: Das dauert 20 Jahre, aber jetzt ist klar, es wird schneller gehen. Die Leute investieren inzwischen ihr eigenes Geld. Niemand hätte das früher gedacht, niemand. Das ist neuer Geist.“ Als er von Bürgermeister Orlando eingesetzt wurde, feuerte Attilio Carioti erst mal alle, dann schuf er eine neue Behörde, holte sich 30 Leute aus anderen Ämtern, „nur die besten“, sagt er. Inzwischen arbeiten 120 Leute in seinem Amt. „Früher wurden Planungen und Objektleitungen nach außen vergeben. Selbstbedienungsladen. Wir machen heute alles selbst. Es geht um Kontrolle.“ Sein letzter Satz des Interviews lautet: „Ich bin wieder stolz.“ Patrizia Lendinara ist an der großen Uni von Palermo Leiterin des Fachbereiches Geisteswissenschaften, 12000 Studenten, die größte Fakultät. Insgesamt hat die Uni Palermo 60 000 Studenten. Die Professorin stammt aus Norditalien, kam vor mehr als 30 Jahren, hatte öfter die Möglichkeit, wieder zurückzugehen. „Aber ich mag diese Stadt, und inzwischen muss ich mich dafür nicht mehr schämen.“ Sie spricht von der Renaissance. Und wie die meisten von dem Moment, in dem Borsellino starb, mitten in der Stadt. „Ich hörte die Explosion. Drei Uhr am Sonntag, danach war die Stadt still, komplette Ruhe, ein schreckliches Geräusch.“ Sie hat Temperament, zappelt beim Erzählen. „Die erste Frage war: Wo sind meine Tochter und mein Sohn? Man konnte nicht mehr sagen, das geht mich nichts an. Ganz plötzlich betraf es dich. Die Leute wollen einfach nicht mehr. Früher wollten alle weg, heute nicht mehr. Inzwischen ziehen Leute aus Italien her. Früher lebten die Leute in Luxuswohnungen, die von außen völlig heruntergekommen aussahen. Niemand durfte sehen, was drinnen ist, und draußen war egal. Heute sanieren die Leute, sie kümmern sich um den Bürgersteig vor dem Haus, um die Eingangstür.“ Wichtig für den Wandel seien die Schulen gewesen und die Uni. „Keiner wollte mehr etwas über Sizilien im 13. Jahrhundert hören, alle wollten über die Mafia sprechen. Ich bin stolz auf die jungen Leute. Auch in den Schulen begannen die Lehrer mit den Schülern darüber zu reden.“ Früher wollten alle weg, wenigstens bis Mondello, ein Edelort in der Nähe. Jetzt ist Ouattro Canti, Vier Ecken, die Gegend um die Piazza Vigliena in. War mal völlig heruntergekommen, mitten in der Stadt, praktisch ein Schuttplatz, heute eine Gegend der Baustellen. Da wollen die Jungen hin. Camilla lebt in einem Hinterhof, wunderschön, auf zwei Stockwerken, wie in der Zeitschrift „Schöner Wohnen“. Wie ihre Nachbarn. „Tolle Gegend jetzt, eine gute Mischung, alte Leute, viele Studenten, reiche, arme, Asylanten aus Afrika. Hier brodelt es wunderbar.“ Auf der Straße erzählen die Menschen Mafia-Witze, sie ähneln deutschen Ostfriesen-Witzen, nicht wirklich lustig, aber sie machen die Männer, über die man früher nicht mal sprach, lächerlich.

Wie wunderbar können normale Probleme sein, etwa Parkplatzmangel und zu viel Bürokratie

Interview mit dem Bürgermeister. Das ist nicht mehr Leoluca Orlando, der hat vor einem halben Jahr aufgehört, denn er wollte so etwas wie Ministerpräsident von Sizilien werden, hat gerade Wahlkampf. Die Verfassung sagt, dass man als Amtsinhaber nicht kandidieren darf. Viele sagen, sein Schritt sei clever, denn als Bürgermeister war Orlando auf dem Zenit. Inzwischen gilt er als Sonderling, jetzt beginnen die Leute nach Jobs zu fragen, überhaupt alles zu hinterfragen, es deuten sich Krisen an, Gerüchte gehen um, Orlando, der strahlende Held, wird inzwischen kritisch hinterfragt. Er hat an Guglielmo Serio übergeben. Der war Richter am höchsten Gericht Siziliens, macht den kommissarischen Bürgermeister bis zur nächsten Wahl im November. Der alte Mann mit dem edlen Gesicht, der grandiosen Stimme und dem gewinnendem Humor wird normalerweise mit Exzellenz angesprochen. Was zu ihm passt, er strahlt das aus. Sitzt in seinem tiefen Polstersessel in einem schönen Amtszimmer in der wunderschönen alten Villa Nisecemi, in einem unglaublich schönen Park. Im zu bequemen Sessel sitzt Bürgermeister Serio und sagt leicht empört: „Natürlich bin ich kein Politiker, Gott bewahre.“ Er sagt, was alle zur Renaissance sagen, ergänzt noch: „Die Leute kümmern sich plötzlich um die Probleme, sie arbeiten mit der Verwaltung zusammen.“ Hätte es früher nie gegeben. Das war der Feind. „Die Leute kümmern sich, damit meint der Bürgermeister wohl so etwas wie das, was mir zwei Tage vorher an der Statua di Florin passiert ist. Da saß ich auf einer Bank und aus einem Hahn in der Nähe lief Wasser. Ein alter Mann, alte Männer sind in Palermo meist würdevoll im Anzug unterwegs, kam mit seinem Pudel vorbei. Er sah das fließende Wasser, beschimpfte mich, eilte weg, holte den Mann vom nahen Zeitungskiosk herbei, der drehte mit einer Rohrzange das Wasser ab, beide meckerten mich an, weil ich nichts gegen die Wasserverschwendung getan hatte.

Bürgermeister Serio sagt: „Die Mafia existiert noch, ganz sicher, aber die Mafia gehört nicht mehr zu uns, wir haben jetzt eine andere Kultur.“ Das ist der entscheidende Punkt, die Hoffnung. Die Geschichtsbücher erzählen: Schon zweimal, unter den Faschisten und Anfang der sechziger Jahre, war die Mafia in Palermo am Boden. Aber sie kam wieder, erlebte noch mal eine Blütezeit. Natürlich, der Wirtschafts-Boom sei wackelig, sagt Serio, die Arbeitslosenquote extrem hoch. Nein, Zahlen habe er keine, doch sie sind hoch, richtig hoch. Nur, die Leute hier wissen sich zu helfen. Er meint die auf dem Markt, die Kellner in den Restaurants, die Menschen, die an den Ampeln Autoscheiben putzen, aber wohl arbeitslos sind. “ Jetzt kommen die Jobs, Nortel Networks ist seit kurzem hier, dann die vielen Calicenter. Aber, um ehrlich zu sein, so viel, wie alle immer tun, ist das gar nicht.“ Nein, Zahlen habe er keine. Er kennt nicht mal den Etat der Stadt, die er regiert. Dann fällt ihm noch ein: „Wir haben jetzt vor allem ein Problem: die Bürokratie. Die stört, sie ist gerade das größte Hindernis, hat die Angst vor der Mafia abgelöst.“ Und ihm fällt noch ein Problem ein: „Parkplätze. Wir haben gerade in deutschen Zeitungen Anzeigen geschaltet, wir suchen Investoren, die Parkhäuser bauen.“ Von Deutschen erwarte er da viel, das könnten die sicher. Effektivität und Organisation, das brauche Palermo. Wichtig sei der Tourismus, der habe enorme Steigerungsraten, bringe Jobs und Geld. Am Ende erzahlt Guglielmo Serio, dass seine erwachsenen Söhne in Palermo leben, dass man heutzutage nicht mehr weggeht von hier. „Das ist eine schöne Stadt, eine intellektuelle Stadt, auch in der Mafia-Zeit war sie das.“ Man könne sie genießen. Hätten Sie auch vor zehn Jahren dieses Amt übernommen, Signore Serio? Er ignoriert die Frage, antwortet einfach nicht, erzählt weiter über die Schönheit der Stadt.

Seine Pressesprecherin erklärt draußen im Park: “ Das mit den kleinen neu gegründeten Firmen, nach denen Sie ihn gefragt haben, das ist ein Mythos, mehr nicht, alle reden darüber, aber wenn Sie nachfragen, werden Sie merken, so etwas gibt es hier nicht. New Economy in Sizilien, hahaha, was uns hochzieht, ist der Tourismus.“ Tatsächlich finde ich nur eine Kleinfirma, die junge Leute gegründet haben. Sie bieten Führungen für Touristen, gehören zu einer Kooperative, die mit Staatsgeld eine Werkstatt für Behinderte unterhält, und eine für Dauerarbeitslose. Immerhin 50 Arbeitsplätze im Augenblick. Der besondere Witz: Der Tourismus-Ableger Sotto Sopra, das heißt Auf und Ab, sitzt in einem Haus, das früher einem Mafiosi gehörte. Die Staatsanwaltschaft hat es beschlagnahmt, der Verwaltung gegeben, die hat es den jungen Leuten weitergereicht. Die Verwaltung habe viele Häuser, Wohnungen und Grundstücke neu verteilen können, erzählt eine Mitarbeiterin von Sotto Sopra.

Der Tourismus boomt, die EU fördert - Palermo hat es geschafft. Oder?

Tourismus! Sparen wir uns die Zahlen, die Steigerungsraten, ignorieren wir die Busse mit Amis, Japanern und Deutschen, die vielen Franzosen, die Leute aus Norditalien. Die Hotels jedenfalls sind immer voll, es gibt zu wenige, die Preise für Zimmer - Angebot und Nachfrage - steigen ins Astronomische. Jetzt sollen möglichst schnell vier neue Hotels mit EU-Fördermitteln gebaut werden. Jetzt kommt massenhaft Geld nach Palermo. Fördermittel, geschickt von der EU und der Regierung in Rom. Die Menschen hier glauben an die Zukunft, der Tourismus bringt Geld, da sind Baustellen, auf denen wirklich gearbeitet wird. Nur: Was vor allem da ist, ist der Spirit. Ein Boom, wie in Europa normalerweise ein Boom definiert wird, gibt es aber noch lange nicht. Es habe auch schon eine kleine Krise gegeben, sagt die Pressesprecherin. Weil viele Firmen der Mafia gehörten und in finanzielle Schwierigkeiten kamen. Aber das habe man überstanden, weil die Menschen heute einfach alles anders sehen.

Jetzt die Zahlen, präsentiert von zwei Leuten. Zuerst zusammengestellt vom Ressortleiter Wirtschaft des “ Giomale Di Sicilia“: 1998 bis 2000 kamen umgerechnet 60 Milliarden Mark aus Europa, 2001 werden es 18 Milliarden Mark sein. Dazu kommt noch das Geld aus Brüssel für die Sanierung der historischen Altstadt. Rom gibt dafür ebenfalls. Umgerechnet 670 Millionen Mark wurden seit 1997 in die Sanierung gesteckt, davon gingen mehr als 100 Millionen Mark als Subvention an Privatleute. Auch Giuseppe Costanzo, Präsident der Assindustria Palermo, Associazione degli Industriali della Provincia di Palermo, nennt gleich noch ein paar beeindruckende Zahlen. Er hat vier eigene kleine Firmen, stellt Schaumstoffverpackungen her und füllt Gasflaschen ab. Seit 1999, also definitiv post Mafia, leitet er den Verband, der etwa dem BDI entspricht. Costanzo sitzt an einem großen Tisch und zählt zufrieden lächelnd die Zahlen auf: „Unser Vorteil sind die Lohnkosten, viel niedriger als in Norditalien, die Gehälter der Arbeitnehmer sind niedrig.“ Damit nicht genug: „Die EU übernimmt für die nächsten fünf Jahre sämtliche Lohnnebenkosten, in Italien sind das etwa 60 Prozent der Lohnkosten. Die Region Sizilien zahlt sämtliche Ausbildungskosten, also auch die Lehrlingsgehälter. Boden gibt es für neun Mark den Quadratmeter.“ Im Augenblick werde ganz Sizilien verkabelt, moderne leistungsfähige Leitungen zur Datenübertragung. Das ist ja paradiesisch. ,Ja, wenn alles funktioniert, ist das toll.“ Eigentlich müssten sich noch mehr Firmen ansiedeln bei den Bedingungen, oder? „Es geht voran, gerade hat die Deutsche Post in der Nähe von Palermo 3000 Quadratmeter gemietet, für Speditionsgeschäfte. Die großen Telekom-Firmen sind im Anmarsch. Es tut sich etwas.“ Vor allem bei Familie Giglio, sie profitiert vom Boom. Der Urgroßvater eröffnete vor langer Zeit ein kleines Stoff-Geschäft. Der Großvater machte weiter. Papa Michele und Mamma Maria Teresa haben vor langer Zeit den nächsten Schritt gewagt, eine Boutique eröffnet. Vor vier Jahren kamen Federico und Giuseppe, die Söhne, beide Anfang 30, ins Geschäft. Sie legten richtig los, inzwischen gehören den Giglios sieben Modeläden in Palermo. Von jedem Designer mit großem Namen auf dieser Welt gibt es dessen Mode in den Giglio-Läden, an den besten Adressen Palermos, in der Viale della Liberia und anderen Prachtstraßen.

Hier scheint Palermo manchmal schon ein wenig wie Florenz oder Mailand. Federico hat eigentlich Politik studiert, heute macht er aber den Einkauf und das Design der Läden. Er sagt: Nächstes Jahr wird es zehn Giglio-Läden geben. Die Räume sind schon angemietet. Der und der bereits existierende Laden wird außerdem vergrößert. Er sagt, was alle sagen: Renaissance, seit fünf Jahren, junge Leute bleiben inzwischen hier und: „Diese Mafia-Mentalität, die ist bei den jungen Palermoitanern nicht mehr da. Jeder denkt heute, jeder, den ich kenne: We can do it!“ Die Lähmung sei weg. Er sagt auch, innerhalb von drei Jahren habe sich der Umsatz der Modeläden fast verdoppelt, und die Aussichten seien gigantisch. Es ist auf jeden Fall ein Markt da, denn die Leute Palermos haben bei weitem noch nicht den Schick Norditaliens oder Roms, noch ist hier etwas anders. Das ist das Giglio-Potenzial. Und: „Zurzeit kaufen Touristen etwa ein Prozent unserer Waren, in Rom und Mailand sind es mehr als 50 Prozent. Jetzt kommen die Touristen, ich meine, sind das Zukunftsaussichten? Wow! Palermo hat es geschafft, wirklich. Das ist kein Geschwätz.“ Simona Vicari, Bürgermeisterin von Cefalù, sagt: Es komme jetzt darauf an, dass eine Generation durchhält, so lange, bis sie in die wichtigen Ämter kommt, mit dem Geist, den sie heute hat. Dass sie sich nicht kaufen lässt, ergänzt später Camilla in ihrer schönen Wohnung. Es sei doch so: „Wir, die neue Generation“ - mehrmals bezeichnet die 28-Jährige ihre Generation als die neue, die jüngere Generation nennt sie nur die andere - „wir haben die Bombenattentate mitbekommen, wir sind aufgestanden. Die andere Generation, die heute 18-, 20-Jährigen, die kümmert sich doch nur noch um Geld, um Designerklamotten, um den eigenen Vorteil. Das ist eine große Gefahr, das bedeutet, es könnte wieder losgehen.“