Atacama
William Garnier, Franzose, ist Physiker und bei ESO in Chile. ESO steht für European Organisation for Astronomical Research in the Southern Hemisphere. Man kann auf der südlichen Halbkugel andere Sterne sehen als im Norden, Myriaden andere. Ein Himmel für Astrologen. Garnier hat ein Büro in Santiago de Chile. Er sagt am Telefon: nein, nein, kommen Sie nach Paranal, unbedingt, da müssen Sie hin. Es sei beeindruckend, in der Atacama. Er erklärt den Weg: Immer nach Norden fahren, bis Tatal, dort der Küste entlang zu einem kleinen Dorf namens Paposo. Weiter. Vier, fünf Kilometer hinter Paposo rechts ab in die Anden, die Wüste, 40 Kilometer Piste, bis man auf die Asphaltstraße stößt. Dort dem Schild „ESO“ folgen. Unbedingt Wasser mitnehmen, lieber zuviel. Eine Mütze. Sei wichtig. Kein Handyempfang. Auto volltanken.
Santiago de Chile, dortiger Sommer: Jenny Blamey, Director Research & Development von Biociencia, einem Institut im Stadtteil Nunoa, sagt: es gebe nichts Beeindruckenderes. Nichts. Man könne sagen oder besser, sie könne sagen, Schöneres. Aber da müsse man – sie, strenge Naturwissenschaftlerin, lächelt, sagt betont: „ich“ - vorsichtig sein: Es gebe Menschen, die empfinden die Wüste im Norden Chiles nicht als schön. Aber auf jeden Fall, objektiv, sei sie beeindruckend. „Egal, wo sie schon waren. Es ist ein heiliges Erlebnis. Der eine Moment.“ Klingt pathetisch. Sie weiß es, wartet lange, sagt dann: „Wenn Sie irgendwie können, gehen Sie da hin.“ Jenny Blameys Institut erforscht und züchtet Kleinstlebewesen, sogenannte Extremophiles, Enzyme für Waschmittelkonzerne, klitzekleine Lebewesen, die nicht mal im Mikroskop zu sehen sind. Aber Ketchup oder Senf wegfressen. Die extreme Bedingungen lieben: Kälte der Antarktis beispielsweise, sie sei da öfter, um welche zu suchen. Oder: Trockenheit, ja, sogar die Trockenheit der Atacama-Wüste, mögen die Kleinen. Sie sei dort so oft sie könne. „Ich liebe diese Dinger.“ Und die Atacama. Es sei richtig heiß dort, vor allem trocken.
Der Termin mit Bernd Haller, einem Architekten in Santiago de Chile, fällt aus. Er habe sich freigenommen, sei das Wochenende im Norden, in der Atacama-Wüste. Seine Frau sagt: er brauche das nach all der Hektik. Entschuldigung, sagt sie, aber Hektik, Stress, Arbeit. Sie sollten sich das auch gönnen. Sie werden sowas noch nie erlebt haben. San Pedro de Atacama. Gehen Sie hin, sich zuliebe, sagt sie.
Riesige Atacama-Wüste, trockenste der Welt. Der kalte Humboldtstrom des Pazifiks und die Anden sorgt dafür, dass sich kaum Regenwolken bilden. Wenn doch: die trockene Hitze der Wüste halte die ab. Der Humboldtstrom drückt die Temperatur und sorgt für Nebel an der Küste. Nächte bitterkalt in der Wüste, tagsüber ist die Luft heiß und extrem trocken. Erschreckend lange Abstände zwischen Orten. Die Atacama ist die perfekte Wüste. Reicht bis ans Ufer des Pazifiks. Sogar einige Orte dort, an der Küste, haben noch nie Regen erlebt, nur Nebel vom Meer. Die Wüste habe zuwenig Feuchtigkeit, um menschliches Leben möglich zu machen. Der 5916 Meter hohe Gipfel des Licancábur habe keine dauerhafte Schneekappe. 5916 Meter hoch, keine Schneekappe: eigentlich unmöglich.
Blick in den Atlas: die Atacama-Wüste ist etwa so groß wie Bayern und Baden-Württemberg, vielleicht noch das Saarland dazu.
Der chilenische Reiseführer „Destinos Touristicos“: es gebe durchaus mal Regen, nur nicht überall und halt wenig. Im Durschschnitt 35 Millimeter pro Quadratmeter im Jahr. Die Wüste, 15 Millionen Jahre alt, liegt im Regenschatten der Anden, bekommt laut Statistik nur ein 50stel der Regenmenge, die im Death Valley in den USA fallen. Doch etwa alle zehn Jahre, wenn der Humboldtstrom mal länger ausbleibt, regnet es, dann richtig und die Wüste blüht ein paar Tage. Wie ein Rausch. Ein Phänomen. Die Luft ist trocken, etwa 39 Prozent Feuchtigkeit, also sehr trocken. Temperaturen gehen bis 40 Grad hoch, nachts bis unter null. Die Mitte der Wüste liegt 2438 Meter über dem Meer. Sagt der Reiseführer. Und: Sonnenschutz, Wasser mitnehmen! Nichts riskieren! Volltanken, Sprit-Kanister mitnehmen! Ersatzreifen! Wasser!
Paposo ist klein, runtergekommen, vertrocknet, hängt am Meer, ist an die Berge geklebt, hat vielleicht ein paar hundert Einwohner, Fischerboote, Spiegelungen auf dem Ozean, die Häuser wirken wie Ruinen. Der Ort ist verschrumpelt. Kinder spielen auf der unasphaltierten Hauptstraße, Babys sitzen im Staub. Steil hoch in die Berge. Wüste. Stundenlange Fahrt durch Staub auf schlechten Pisten in glitzernder Sonne. Abzweigungen ohne Schilder. Langsam krabbelt Panik hoch. Da, Erlösung, die asphaltierte Straße, das Schild „ESO Paranal Observatory“. Noch eine halbe Stunde. Eine Hochebene. Harte Natur, keine Pflanzen, nur Staub und Stein und dazwischen modernste Technik. Space Age. Science Fiction. Future Edition. Zwei Extreme ganz nah beinander, nichts dazwischen, Wüste und Technik sind eins. Eine seltsame neue Welt: riesige Gebäude in Formen, die sonst Häuser oder Hallen nicht haben, die Teleskope, metallumgebene, glitzernde Riesen auf Bergen. Leblos wirkend, wüst, unmenschlich. Tags: alles scheint sich aufzulösen, alles schwirrt und flimmert. In der Höhe bleibt oft der Atem weg. Die Augen können nichts festhalten, alle Formen sind fraglich. Es ist zu trocken. Die Teleskope sind hier, weil es in der Trockenheit, in dem Windschatten wenig Wolken gibt, keine Menschen hier leben, es also auch wenig Staub gibt. Deshalb auch die Asphaltstraße, damit es keinen Staub gibt. Auch kein Licht in der Nacht, wenn die Teleskope arbeiten. Nicht mal das Standlicht darf hier an sein des Nachts im Auto. Plötzlich, ein poetischer Moment, in der Dunkelheit öffnen sich die Riesenluken der Teleskope, sie wirken nun wie silberne Monster. Schlachtszenen aus Science Fiction Abenteuern. Es sind vier VLT, Very large telescopes, Riesen eben. Auf einem Berg nahe bei das neue VISTA, ein anders geformtes Teleskop, mit einer 67 Millionen Pixel Infrarot Kamera. Es gibt Zahlen, Daten, wissenschaftlicher Overkill für jeden Laien. Technische Meisterleistungen von Menschen in einer unmenschlichen Umgebung.
In ihrer Mitte, etwas tiefer, die Residensia, in derselben Farbe wie die Wüste: rötlich. Es leben Menschen hier, Wissenschaftler. Das Gebäude ist unter der Erde, tagsüber bekommt es Sonnenlicht durch die Glaskuppel mit 35 Meter Durchmesser, außerdem ein paar Fenster hin zum Pazifik, der, sagt William Garnier, 12 Kilometer weit weg, aber manchmal zu sehen sei. Optik hier oben, in dieser Luft, sei anders, besser. Wenn die Sonne untergeht, schließen die Kuppel und alle Fenster automatisch mit surrenden Geräuschen lichtdicht. Wer rausgeht, geht durch Schleusen. Kein Lichtstrahl darf raus. Würde die VLTs stören. Die Residensia hat einen Dschungel als Foyer unter der Kuppel und einen großen Swimming Pool. Damit die Luftfeuchtigkeit erträglich ist. Entworfen wurde dies Raumschiffähnelnde von Dominik Schenkirz, einem Münchner Architekten, die Innenausstattung von der Chilenin Paula Gutierrez. Es ist eine jamesbondige Welt, bondiger geht es nicht, bondigst, künstlicher als die Filme. Die Wirklichkeit ist hier stärker, besser, weil wahr und doch künstlicher als Filme. Verrückt hier. Ja, sagt William Garnier. Wir einigen uns auf „Wie ein Drogenrausch“. Und das sei noch steigerbar. Er empfehle San Pedro de Atacama weiter im Norden. Salzwüsten, Salzseen, ausgetrocknete, spiegelglatte, ohne Risse, mit Rissen und noch feuchte, Moon Valley, Blick auf die Anden. Er arbeitet für ESO, erzählt also von anderen ESO-Standorten, alle in der Atacama-Wüste, einer in La Silla weiter im Süden, einer weiter oben zwischen Antofagasta und San Pedro de Atacama, auf dem 5100 Meter hohen Chajnantor-Platau. Er erzählt, und am Ende sagt er ciceroähnlich: „Im Übrigen empfehlt ich, unbedingt nach San Pedro.“
Ein Tag Fahrt nach Norden, auf einer perfekten, leeren Autobahn, manchmal dreißig Kilometer geradeaus, ohne auch nur eine Andeutung einer Kurve, vorbei an Minenstädten. Hier wird Gold und Kupfer abgebaut, alle siebzig, achtzig Kilometer ein Ort, keine Oasen, meist nur Container und große Bagger und Raupen, kaum Menschen. Dann von einem Pass aus sichtbar, in einer Ebene unten, umgeben von Bergen San Pedro. Mittendrin, wie eine Oase.
Nur Würfel, einstöckige Pueblos. Wie mexikanische Dörfer in Western. 3000 Einwohner, in den letzten Jahren noch viele Touristen. San Pedro ist hip, die Hotels sind teuer, die Kneipen ähneln denen Ibizas früher. Es geht viel um Stil, um Darstellen. Cameron Diaz sei schon dreimal da gewesen. Gleiche Zeitzone wie New York, weshalb viele von dort für ein Wochenende ranfliegen. Leute, die schon überall waren, die kommen nun hierher. Calama, eine Stunde Fahrt, hat einen Flughafen. Man sieht den Licancábur im Osten. Das ist ein Wort aus einer schon lange nicht mehr gesprochenen Indiosprache, das einzige Wort, das übrig blieb. „Heißt heiliger Vulkan“, sagt Paula Valdez. Sie stammt aus dem Lake District im Süden, einer Gegend voller Wald und Seen. Dort hat sie Forellenfischen gelehrt. Dann kam sie zufällig her. Vor zwölf Jahren. Blieb. „Ging nicht anders“, sagt sie.
Paula Valdez, die aussieht, wie man sich eine Südamerikanierin vorstellt, mit schwarzem glänzenden Haar, hat spanische und italienische Vorfahren, legt Wert darauf, dass sie, wenn auch weit zurück im Stammbaum, indianische Vorfahren hat. Sie betont das mehrmals und vermutet, das sei der Grund, warum sie „der Wüste verfallen ist, diesem Extrem“. Sie sorgt dafür, dass alle warme Sweater dabei haben, hat für jeden noch einen Parka im Kofferraum. Und ein paar Flaschen Wasser für das Valle de la Luna, das Mondtal. Ist ganz leicht zu beschreiben. Sieht aus wie die Mondoberfläche. „Unterschätz das nicht. Das hier ist alles Salz mit Staub darauf.“ Salz? „Ja, 2000 hat es hier geregnet, viel und lang. Etwas ganz besonderes. Der Staub wurde abgewaschen, alles war weiß. Mach die Augen zu, dann wieder auf und stell Dir alles, was Du siehst, weiß vor, nur die Farbe weiß.“ Überhaupt: man brauche ein paar Tage, um Details zu erkennen, man müsse öfter hinschauen, sonst sieht man nur Wüste, eindimensional. Jeder dieser Tags ist heiß und trocken, jede Nacht bitterkalt. Der Himmel ist immer klar und blau oder schwarz, Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge wirken hier anders, werden wie Gottesdienste zelebriert. Menschen stehen im Freien und warten. Das wirkt gekünstelt, übertrieben. Die Luft ist trocken, man schwitzt seltsam anders. Und nachts sieht man die Sterne. Schon anders als bisher. Aber: ist es dieses Frieren und Schwitzen wert?
Man kann sich beschäftigen: sandsurfen oder sandboarden beispielsweise. Richtig: mit Boards Sanddühnen runterrauschen. Naja, zuerst zwanzig Mal hinfallen in den Sand. Es gibt heiße Quellen zum baden. Es gibt Salzseen, in denen man nicht untergeht, sie haben viel mehr Salz als das Tote Meer, aber noch ohne dessen Ruf als Nicht-Untergeh-Wasser. Man kann in die Berge wandern, wilde Lamas sehen. Es gibt Flamingos, mehr als in jedem Zoo der Welt. Es gibt viele Kneipen mit Innenhöfen, alles hier hat den Hauch von Ibiza in den 80er Jahren, wirkt etwas hippiehaftes, dennoch ungekünsteltes. Die Hotels sind richtig teuer, das Awasi verlangt 800 Dollar die Nacht, gut, dafür kann man zum Essen einladen, wen man auf der Straße trifft, hat einen eigenen Betreuer. Luxus eben. Es gibt ein paar Hostelerias, die sind bezahlbar. Und es gibt junges Nachtleben, Traveller-Style. Leute von überall her, tagsüber entspannt in der Hitze, abends wild in der Kälte.
Horacio Cichero, klein, lustig, mit zu großer Brille, ist Argentinier, hat lange in Ushuaia in Feuerland, ganz im Süden Argentiniens gearbeitet. Sein Onkel besitzt im südlichsten Ort Südamerikas ein Hotel. Aber jetzt ist er hier, in San Pedro de Atacama. „Es ist einfach etwas besonderes. Man sieht das Leben, alles, ganz anders, wenn man hier ist.“ Er arbeitet in einem Hotel, ja, im Awasi und geht oft über Nacht in die Wüste, legt sich auf den Boden und schaut die Sterne an. Dieselben, die er in Süd-Argentinien gesehen hat. Aber: „Kann ich nicht erklären, ist anders hier. Liegt wohl an der klaren Luft.“ Man sehe mehr, anders, besser. Und: „So was gibt es nur hier, ich werde das nur hier hören.“ Hören? Er meint das Knirschen der Salzplatten. Und noch einen Satz mit dem Wort „Besonderes“, dem Wort, das alle benutzen, die die Atacama beschreiben.
Francesco Rencoret ist Investor, er baut Hochhäuser, Hotels, Appartmenthäuser, Büroberge in Santiago de Chile, früher in New York und London, nun nur noch in seinem Heimatland. Ach ja, hat er vor ein paar Tagen in Santiago erzählt, er habe noch ein kleines Projekt im Norden, das Awasi, ein Hotel mit acht Betten, in San Pedro de Atacama. Sein Lieblingsprojekt, seine Liebhaberei. Für die acht Häuser hat er nur Holz der Gegend verwendet. Es gibt kein Holz in der Gegend. „Ja, wir haben 19 alte Häuser aufgekauft, sehr teuer, haben sie abgerissen und das Holz, teilweise hundert Jahre alt, hier verwendet. Ja, Liebhaberei. Wir wollten nur Materialien von hier.“ Es sei ein besonderer Ort: Gehen Sie unbedingt in die Wüste in der Nacht. „Ist was Besonderes. Alles, was ich sagen kann, würde schaal klingen. Gehen Sie hin! Erleben Sie es! Gehen Sie eine Nacht in die Wüste!“
Nacht in der trockensten Wüste der Welt. Es ist bitterkalt. Und die Kälte wirkt wegen der Hitze des Tages noch kälter. Die Sterne sind schön, ja, doch, etwas besonderes, beeindruckend und nach zwanzig Minuten oder so, langweilig. Was für schlechtes Gewissen sorgt. Vielleicht eine Stunde noch, dann könnten wir doch zurück ins Hotel, ok? In dem Moment das Geräusch: ganz nah, ganz schrecklich, nein schön. Etwas noch nie Gehörtes, ein Geräusch, das keinem anderen gleicht. Alles lässt sich doch irgendwie vergleichen, zur Not mit einem Film oder einem Rausch. Aber das Geräusch und das Gefühl, das es auslöst, ist eigen, hört sich an wie ein großes jammerndes Tier, weit weg, laut, aber durch Entfernung gedämpft. Dies Knirschen, es kommt von den sich bewegenden Salzschichten, die aneinanderreiben. Hier stoßen tektonische Erdkrusten zusammen, deshalb die Vulkane und deshalb das Jammern, dieses Schreien der Erde und das Gefühl: Du bist klein, nur ein Sandkorn in der Wüste. Der trockensten, der kältesten der Welt. In einer irrealen.