Fährfahrt ins Chaos

Reportage
zuerst erschienen am 14. August 1998 in Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 33, S. 14
Hunderte von Albanern reisen an die Grenze zum Kosovo. Viele sprechen Deutsch. Sie warten auf ihren Einsatz gegen die Serben

Sie sind laut. Viele können Deutsch. Jimmy war zwei Jahre im Ruhrgebiet, ein anderer kommt aus Berlin. Einer sagt, er arbeite bei Daimler-Benz in Bremen und habe sich für den Kriegseinsatz Urlaub genommen. Sie lassen ihre Pistolen rumgehen, vergleichen sie, tauschen Magazine aus und achten darauf, dass möglichst viele Umstehende das mitbekommen. Die meisten Fahrgäste an Bord der rostigen Fähre nach Fierze im Norden Albaniens sind junge Männer, einige in Bundeswehruniformen. Oft tragen sie noch die deutsche Flagge an den Ärmeln.

Jilly sagt, er sei 29. Aber er wirkt mindestens 10 Jahre jünger. Er lächelt stolz und verkündet: „Wir gehen in den Krieg. Übermorgen sind wir im Kosovo.“ Sein Nachbar auf der langen Bank auf dem Oberdeck erzählt, sie hätten ihre Waffen selbst bezahlt. Teile ihres Einkommens in Deutschland, Italien und der Schweiz hätten sie der UCK abgeliefert.

Einer der Jungs scheint beleidigt, weil keiner seine Pistole beachtet. Sie trägt chinesische Schrift auf dem Schaft. Immer wieder lässt er das Magazin herausspringen. Schiebt es wieder rein und lässt es einrasten. Klack. Das macht er etwa dreißigmal in zehn Minuten. Klack, klack, klack …

Sie trinken Bier aus Flaschen. Die leeren werfen sie ins Wasser. Innerhalb einer Stunde hat jeder der sieben einmal gesagt: „Ich gehe in das Kosovo.“ Oder: „Ich kämpfe für meine Heimat.“ Und: „Die Serben unterdrücken uns Albaner.“ Freiheit, Vaterland, Heimat, das seien gute Gründe für den Krieg.

Deutsche sollten lieber den Mund halten „wegen Hitler“, sagt einer. Und: Die Konferenz von London 1913 habe das Problem verursacht, und da sei Deutschland auch dabei gewesen. Ein paar Diplomaten haben damals Albanien anerkannt, das von Albanern bevölkerte Kosovo aber Serbien zugeschlagen. Jimmy sagt: „Wir wollen nicht streiten, wir wollen kämpfen.“

Die Aussicht, vielleicht bald zu sterben, schreckt sie nicht? „Vielleicht sind wir bald tot, vielleicht nicht. Auf jeden Fall kämpfen und sterben wir für eine gute Sache.“

Auf der Fähre steht ein brauner, verbeulter Lastwagen. Seine Plane ist, im Gegensatz zu denen der anderen Laster, festgezurrt. „Klar, voll mit Waffen und Munition“, sagt ein Kosovo-Albaner mit hessischem Akzent. Er war acht Jahre nicht mehr in der Heimat, jetzt kommt er zurück - zum Kämpfen.

Kurz vor dem Ufer des Stausees Koman, auf der Zufahrt zur Ablegestelle der Fähre, gab es eine Sperre. Drei Polizisten schauten die Pässe an, durchsuchten ab und zu ein Auto, tasteten die Insassen ab, die sich an die Wagen lehnen mussten. Die Polizisten sorgten für eine lange Schlange, winkten aber immer wieder mal einen Wagen vorbei rein in den Tunnel, der auf einem Plateau direkt am See endet. So muss der Laster durchgekommen sein.

Dort drängten sich die Wagen dicht an dicht, warteten auf die Fähre. Mitten im Getümmel folgende Szene: Ein Mann öffnet den Kofferraum seines weißen Mercedes ohne Nummernschild. Er nimmt ein langes in weiße Plastikfolie gewickeltes Paket heraus und trägt es zur Fähre. Vorne schaut ein Lauf aus der Folie. Kurz darauf kommt er ohne das lange Paket mit einem anderen Mann zurück. Sie setzen sich ins Auto und zählen Geld. Es sind, soweit man das aus drei Meter Entfernung schätzen kann, 40.000 Lek, knapp 500 Mark.

Der aktuelle Preis für eine Kalashnikov. Das Wort steht im Albanischen für den chinesischen Nachbau der russischen Maschinenpistole. Der Deal ist perfekt. Die Albaner steigen aus dem Wagen und schütteln sich die Hände.

Die Fähre braucht drei Stunden bis Fierze. Die eine Straße dahin ist von Regenfällen zerstört, die andere gilt als zu gefährlich.

Die jungen Kosovo-Albaner steigen bei der Ankunft sofort in kleine Busse. Fünf Stunden später sind sie in Bajram Curri.

Das 2000-Einwohner-Dorf an der Grenze zu Jugoslawien war früher eine Strafkolonie. Das auffälligste Gebäude ist eine große muschelförmige Basketballhalle. Seit zehn Jahren ein Rohbau mit zwei offenen Seiten. Die Häuser am Rand des Dorfes sind fünfstöckig, aus Ziegeln, unverputzt. Im Zentrum sind sie älter, ein- oder zweistöckig, meist braun verputzt. Immer wieder Ruinen. Die Straßen bestehen aus Sand und Schutt, aus Kieseln und Löchern. Von den 300 Autos hier haben etwa 50 Nummernschilder.

Überall UCK-Leute, stets in Gruppen, zwischen 25 und 30 Mann stark. Es gibt einen Chef. Der ist fast zwei Meter groß, muskulös, hat graue Haare auf dem fast achteckigen Kopf, keinen Hals, eine futuristische Rayban-Sonnenbrille und spricht perfekt Deutsch. Seine Leute wissen nicht, wie er heißt. Sie kennen nur ihre direkten Vorgesetzten, denken sich, dass der Mann der Oberboss sein müsse. „Wohl unser General“, sagt Osman, 42 und schaut ihn neugierig aus 15 Meter Entfernung an.

Manche UCK-Kämpfer tragen Uniformen, andere sind in Zivil. Die UCK mache keinen geschlossenen Eindruck, da gebe es Rivalitäten, sagt ein Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks, der hier Unterkünfte für die erwarteten Flüchtlinge aus dem Kosovo vorbereitet. Lokale Clans geben den Ton an. Alexandra Morelli, eine Italienerin, sie leitet das Büro des UNHCR, des UN Hochkommissariats für Flüchtlinge in Bajram Curri . Sie sagt, es seien wohl drei oder vier Clans, „schwer zu sagen. Im Prinzip herrscht hier Anarchie.“

Einer von Morellis Mitarbeitern erzähtl eine Geschichte aus der vergangenen Woche: Zwei Daimler  stießen auf dem Hauptweg Bajram Curris zusammen. Die Fahrer stiegen aus, tobten und schrien. Plötzlich rannten beide zu den Autos. Einer war schneller, riss eine Pistole aus dem Handschuhfach, drückte dreimal ab und tötete den Unfallgegner.

„Ich hab es gesehen. Die sind verrückt. Ich war in Tschetschenien, in Berg-Karabach, in Bosnien und in ein paar afrikanischen Ländern. So durchgeknallt wie hier sind sie nirgends “, sagt der UNHCR-Mitarbeiter. Der Schütze fuhr heim, als er am nächsten Tag das Haus verließ, „wurde er mit einer Maschinenpistole umgelegt“, fährt der Mann fort.

Das ereignete sich zwei Tage vor dem Kinkel-Besuch. Der deutsche Außenminister kam für ein paar Stunden mit dem Hubschrauber aus Tirana, sagte Albanien dürfe nicht Aufmarschgebiet der UCK sein. „Es war lustig“, erzählt ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. „Am nächsten Tag waren die meisten UCKler ohne Uniformen hier.“

Die ganze Nacht über sind immer wieder Schüsse zu hören. Um fünf Uhr geht es richtig los: Leuchtmunition fliegt von einer Talwand zur anderen. Maschinenpistolen rattern, Granaten explodieren. „Keine Ahnung, was da los war“, sagt morgens ein Polizist. „Irgendwas internes“, sagt irgendwer vom UNHCR. Auf allen Wegen in der Stadt liegen Patronenhülsen. Kinder werfen sie herum.

Mit der Fähre waren drei Lastwagen des Technischen Hilfswerks gekommen. Zwei große Daimler und ein Unimog, alle blau, mit THW-Emblem und Kieler Kennzeichen. Der Leiter des THW-Teams, Jörg Behling, war nach der Ankunft direkt zum Polizeichef gegangen und hatte gesagt, er brauche Fahrer. Am nächsten Tag standen 30 bereit.

„Jeder wollte fahren. Die haben sich angeschrien und gezankt. Gegen uns aber zusammengehalten. Einer saß im Unimog und hat sich am Lenkrad festgeklammert. Wir haben ihn rausgezogen“, erzählt Biehling. „Plötzlich waren überall Pistolen. In einem Laster saßen zwei mit Kalashnikovs. Ich hatte Angst, aber auch das Gefühl in einem Kindergarten zu sein. Einer saß am Lenkrad und schrie: Der gehört mir. Das war richtig witzig.“

Einige Polizisten halfen. Die THWler konnten alle drei Fahrzeuge abschließen und gingen mit den Möchtegernfahrern zu Distriktchef. Der wählte drei von ihnen aus. Als sie dorthin zurückkamen, wo die Wagen gestanden hatten, sahen sie nichts mehr. Die Laster waren weg. Scheiben eingeschlagen. Kurzgeschlossen. Zwei Stunden später wurde der Unimog von Soldaten gefunden. Er hat eine komplizierte Schaltung, die Diebe kamen damit wohl nicht zurecht. Jörg Behling ging zum Polizeichef, gab ihm die Schlüssel und erklärte die Schaltung. „Um sieben, hat der gesagt, haben wir das Auto zurück.“ Behling erzählt das um 11 Uhr abends. Es ist dunkel, von überall her sind Kalashnikov-Schüsse zu hören. Wie jede Nacht.

Kurz darauf rast der Unimog durch den Ort, die Wege rauf, die Wege runter, stundenlang. Die Blaulichter rotieren. Er kommt auch am THW-Quartier vorbei, krachend. „Was macht der bloß mit der Schaltung“, ruft einer.

Am nächsten Tag. Osman sitzt im Café. Er erzählt, er habe wegen konterrevolutionärer Aktivitäten vier Jahre in jugoslawischen Gefängnissen gesessen. Nach dem Gefängnis wurde er ausgewiesen, er lebt seit einigen Jahren in der Schweiz. „Ich habe an einer Tankstelle gearbeitet. Legal. Und ich habe eine Schweizer Freundin.“ Was macht er dann hier? „Ich muss für mein Vaterland kämpfen.“ Pause. „Selbst wenn es sinnlos scheint. Ich bin bereit, dafür zu sterben.“ Peinliche Stille. „Ich hab die Geschichte studiert. Die Serben sind Schuld am Krieg.“

Inzwischen hat der Polizeichef mitgeteilt, die Autos gebe es um 3 Uhr zurück. „Das wird nichts mehr“, sagt Jörg Behling. Ganz lange Pause. „Wir sind hier in Europa. Drei Stunden Flug und du bist in Deutschland.“