Archipelago New York

Reportage
2007
New York, die Metropole der Welt, besteht nur aus Inseln. Einige sind klein und unbewohnt, einige groß und übervölkert. Auf einer waren lange Atomraketen stationiert, auf einer anderen war ein Irrenhaus. Eine entstand, weil die US-Army einen neuen Sprengstoff testete. Einige der Inseln sind künstlich, andere inzwischen verschwunden. Eine Rundreise über die Islands of New York.

Hinauf den East River, entlang der östlichen Flanke Manhattans. Vom Boot aus zu sehen sind: blauer Himmel, graue regenschwere Wolken und darunter nur noch eines, das Meer der Wolkenkratzer, verschieden hoch, statisch und doch unruhig. Sie wirken wie Wellen. Oder, einige Minuten später, von weiter nördlich anders wahrgenommen: wie eine Steinwüste, ein von Menschenhand geschaffener Himalaya. Bei genauerem Blick: Rechtecke, auf denen manchmal geformte Spitzen sitzen, sonst nichts. Manhattans Skyline der Skyscraper wird von Miesepetern als Friedhof riesiger Grabsteine gesehen, als grotesk verschrien. Von Le Corbusier, einem der bedeutendsten, einflussreichsten und umstrittensten Architekten des 20. Jahrhunderts, wurde sie zwiespältig wahrgenommen, wohl bei Sonnenaufgang: „Die rosa gefärbten Türme New Yorks erscheinen, eine Vision, deren Härte durch die Entfernung besänftigt wird.“ Auf jeden Fall: Stein, Beton, Klötze. Die links, in Manhattan sind höher, massiger, dichter als die auf der anderen Seite des Flusses. Der East River trennt Manhattan, die Insel, das Herz der Stadt New York, das von vielen, eigentlich von allen, mit New York gleichgesetzt wird, vom viel größeren Stadtteil Brooklyn und vom noch größeren Queens, beide auf Long Island gelegen. In Manhattan leben 20 Prozent aller New Yorker, aber Manhattan gilt als New York. Der East River ist salzig, kein Fluss, sondern eine Meeresenge zwischen dem Atlantischen Ozean und dessen Long Island Sound, dem Meeresarm weiter nördlich. Also hat der East River Gezeiten, wenn auch kaum wahrnehmbare.

Links ist Manhattan, rechts teilt der Newton Creek das Ufer. Brooklyn liegt im Süden und Queens im Norden Long Islands. Dort war mal Furman’s Island, eine der vielen verschwundenen Inseln New Yorks. Eine derer, die sieben, acht Namen hatte, je nachdem, wem sie gerade gehörte. Garrit Furman lebte hier luxuriös. Lud Dichter und Maler in sein großes Haus, sorgte mit Gastfreundschaft dafür, dass es und sein Park kunstvoll verewigt wurde. Als Gedichtbände über die Natur auf Furman’s erschienen, änderte sich gerade alles, etwa um das Jahr 1860. Furman brauchte Geld, in kurzer Zeit entstanden Knochenkoch- und Seifenfabriken, eine Zuckerraffinerie, Gestank, Abfall, viel später eine Ölraffinerie. Aber viel Geld. Wann der dünne Flussarm zwischen Queens und Furmans Insel, Shanty Creek, aufgefüllt wurde, weiß niemand. Der New Yorker Historiker Vincent Seyfried sagt: „Das war allen egal, völlig unwichtig damals.“ Die Insel ist nicht mehr. Verschwunden wie Clinton Castle an der Südspitze Manhattans, der Battery, benannt nach Bürgermeister De Witt Clinton um 1820. Dort legen heute die Fähren nach Ellis Island und Liberty Island ab. Das sind eher bekanntere Inseln, welche, die die New Yorker meiden, wegen der Touristen. Clinton war, bevor die Carnegie Hall entstand, Ort der wichtigsten Konzerthalle für klassische Musik New Yorks. Zuvor als Festungsinsel bebaut, sollte hier die Stadt gegen englische Angriffe von See verteidigt werden, mit zweieinhalb Meter dicken Mauern befestigt, 28 Kanonen und einer 60 Meter langen Holzbrücke nach Manhattans Battery. Der Zwischenraum wurde gefüllt, Land gewonnen für die wachsende Stadt. Die Insel wurde Festland. Wie Fort Lafayette vor der Küste Brooklyns, das irgendwann Hafenland wurde. Wie Furman`s Island, das verschwand, weil noch eine Fabrik gebraucht wurde und heute Industriebrache am Ostufer des East Rivers ist. Aber Investoren stehen bereit, Pläne werden gemacht. Boden ist wertvoll in New York, kann nicht ungenutzt bleiben. Höchstens kleine Inseln haben Vorteile. Sie sind nicht gut genug nutzbar für Investoren, zu teuer, zu kompliziert für Wasser- und Abwasserleitungen. Solche gibt es in New York, dem Archipelago mit rund 40 Inseln, einige. Das sind Orte, die Geschichte festhalten, anders als der Rest der Stadt, wo im Schnellbauverfahren Geschichte, weil nicht rentabel, weggewischt wird. Die kleinen Inseln sind nicht verwertbar. Und so bleiben sie.

Etwas weiter nördlich im East River, Blick in die andere Richtung, nach Manhattan. Da, U-Thant Island, eine richtige Insel, aber eine künstliche. Nach U-Thant Island muss man mit dem Boot übersetzen. Was streng verboten ist, die Insel liegt nahe des UNO-Gebäudes. Aus Sicherheitsgründen ist sie völlig tabu, nicht erst seit 9/11, aber vor allem seitdem. Sean Duran, Captain der Julia, des flachen schnellen Bootes mit zwei starken Motoren, das Wasser wie schräge Fontänen spritzen lassen kann, sagt: „Wir können nicht an der Manhattan-Seite vorbeifahren, sonst schießen sie uns ab.“ Ernsthaft? „No joke“, sagt er und hält, von Süden kommend, direkt auf die Spitze U-Thants zu. Es sei streng verboten. Nichts zu machen. Von wo würden sie schießen? Er schaut auf das riesige UNO-Hochhaus, 39 Stockwerk hoch, ein heller Schrank mit kleinen regelmäßigen Mosaiken, Fenstern, wie alles in New York, der eckigen Stadt, ohne irgendeine Rundung, direkt am Ufer. Der Brocken wurde von dem Stararchitekten Lloyd Wright entworfen, wirkt heute, 50 Jahre nach seinem Bau, nicht mehr zeitgemäß, unpassend, alt, nur noch in Ordnung, weil er im Wolkenkratzermeer einer von vielen ist. Sean Duran sagt, das UNO-Haus sei groß, eindrucksvoll, also „in Ordnung für New York“. Er schaut, denkt nach, schaut wieder, drückt plötzlich den Hebel nach unten, gibt Gas. Die Julia bäumt sich auf, geht vorne weit in die Luft und fährt links vorbei. Auf der verbotenen Seite. Der Captain ruft: „Wuhhhh“, als wär er Odysseus auf dem Heimweg nach Ithaka. Dann, deutlich kleiner: „Mein Gott. Erzählt das nicht meinem Boss.“

Ein paar mal im Jahr dürfen Anhänger des Gurus Sri Chinmoy auf die verbotene Insel, „groß wie ein King-Size-Sofa, direkt vor die UNO ins Wasser gestellt“, so der Essayist Phillip Lopate. U-Thant ist ein lächerliches Stückchen Land, keine eineinhalb Meter hoch. Kaum sechs Meter lang, schmal, mit einer absurden Geschichte. Bis 1890 war sie ein kleines Riff im East River, nur bei extremer Ebbe, also nicht oft, aus dem Wasser schauend. Dann kam William Steinway, der Klavier-Produzent. Er wollte Queens mit Manhattan verbinden, um seine Fabrik in Queens besser versorgen zu können. Es war die Zeit, als es nur eine Brücke über den East River gab, die Brooklyn Bridge, weiter im Süden. Der Weg war zu lang vom Hafen auf Manhattan für das dort angelandete Holz zur Piano-Fabrik. Also ließ Steinway unter dem East River graben und den Aushub auf das kleine namenlose Riff setzen, das manchmal aus dem Fluss, nein, kein Fluss, aus dem Meerarm auftauchte. Einfach so, ohne Genehmigung. Die USA waren damals Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wenn wer einen Tunnel graben, eine Insel nehmen oder eine schaffen wollte, bitte, warum nicht?

Steinway starb, als der Tunnel nur ein paar Meter unter den East River ging. Aber Steinway Island, war da, klein, sinnlos. Jetzt kommt August Belmont, einer der großen New Yorker Unternehmer, ein Mann mit Visionen, Geschäftsinn, Geldgier, einer aus der Rockefeller-, Vanderbildt- und Morgan-Liga. Er macht die Anfänge des Steinway-Tunnels zum Belmont-Tunnel, lässt weitergraben, die Insel wachsen und schafft die Interborough Rapid Transit, seine U-Bahnlinie, ein großes Geschäft. Heute rauscht durch den Tunnel die Linie 7 der städtischen Subway. 70 Jahre lang hieß die Insel Belmont, fiel irgendwann irgendwie an die Stadtverwaltung und ragte bedeutungs- und sinnlos, weil zu klein für irgendeinen Nutzen, aus dem East River. Belmont Island ist heute noch ihr offizieller Name. Doch kein New Yorker kann mit dem was anfangen. In den Karten steht U-Thant Island. Denn 1977 kommen Anhänger des Gurus Sri Chinmoy und ändern alles. Etwa ein Dutzend von ihnen arbeiten bei der UNO. Sie pachten die Insel für einen symbolischen Dollar. Fast täglich, vor oder nach der Arbeit, setzen sie über, oft mit dem Guru. Sie meditieren, pflanzen Blumen, Sträucher, einige Bäume, von denen einer auf dem kargen Eiland überlebt und heute, kahl, kaum zwei Meter hoch, mit einem Möwennest in jeder Astgabel, die Insel beherrscht. Später installieren sie den flachen Friedensbogen aus weiß lackiertem Metall.

Die Meditierenden geben Belmont Island den Namen, der hängen bleibt: U-Thant Island. U-Thant aus Burma war 1961 bis 1971 UNO-Generalsekretär und starb 1974. Südlich des Friedensbogens, auf dem soviel Möwennester wie auf dem kleinen Baum davon sind, hat die US-Küstenwache einen Signalturm gestellt, auch er aus weiß lackiertem Metall, er aber seltsamer Weise ohne ein einziges Vogelnest. „Die scheinen da einen Trick zu haben, das sind Profis“, sagt Sean Duran, Captain der Julia, anerkennend. Er steuert das Boot auf Roosevelt Island zu. Der dürre Turm auf U-Thant, vier, fünf Meter hoch, hat ein schrill-grünes Schild mit der schwarzen, von weither lesbaren Nummer 17 darauf. Nachts blinkt ein rotes Signallicht.

Jetzt Roosevelt Island. Über jede der New Yorker Inseln gibt es Wundersames zu berichten, die Geschichtsbücher der Stadt sind voller Insel-Stories, ein Panoptikum des Wundersamen und des Beispielhaften. Roosevelt Island hat eine typisch amerikanische Geschichte, eine echte Erfolgsgeschichte, die vom Erfolg des „A New Town in Town“-Experimentes. Das liegt an den Business-Aspekten, mit der Bedeutung von Werbung. Dazu kommt das, was so beispielhaft für die kleineren New Yorker Inseln ist: Sie alle waren Krankeninseln, Aussätzigeninseln, Armenhausinseln, Gefängnisinseln, Friedhofsinseln, Inseln für die, die man nicht sehen wollte. Isoliert, also gut für alles, was man nicht als Nachbar haben wollte in der ständig wachsenden Stadt der Inseln. Nur die Bronx im Norden ist Festland. Der Rest ist Insel: Manhattan, mit dem East River rechts, dem Hudson links, dem Harlem River im Norden und der Upper New York Bay im Süden. Brooklyn und Queens auf Long Island im Osten. Staten Island, doppelt so groß wie Manhattan, aber auf den ersten Blick völlig unbedeutend, im Süden in der Bay. Und die vielen kleinen. Roosevelt Island, drei Kilometer lang, etwa 250 Meter breit, ist eine davon, wie Rikers Island, North Brother Island, Hoffman Island, Swinsburne Island, Ward’s Island, Hart Island, Ellis Island.

Roosevelt hieß im Laufe der Zeit Minnahanonck, Varkens, Manning Island, nach John Manning, einem britischen Hauptmann, der dorthin ins Exil geschickt wurde, weil er die Kolonie nicht gegen einen holländischen Angriff verteidigt, sondern übergeben hatte. England gewann den kurzen Krieg dennoch. Manning lebte bis zum Tod auf der schmalen Insel. Danach kaufte Robert Blackwell, ein Kaufmann, sie, also hieß sie Blackwell Island. Das ist ein Problem in New Yorks Geschichtsbüchern. Manchmal denkt man, es gebe Hunderte von Inseln, weil die Namen ständig wechselten. Blackwell- oder Wie-Auch-Immer-Island war eine Zeitlang, als es der Stadt gehörte, Stätte einer Irrenanstalt, dann ein Armenhaus. Später bekam Welfare Island, das war inzwischen der Name der Insel, ein allgemeines Krankenhaus. Dessen Ruine steht noch, wird immer wieder mal in Hollywood-Filmen gezeigt, wenn die was benötigen, das alt, gespenstisch, schottisch, spannend wirkt. Stuart Miller, Autor von „The Other Islands of New York City“ nennt die Ruine „gothisch“, was nicht stimmt, architekturhistorisch, aber den dunklen Aspekt gut beschreibt. Man sieht die Ruine und ahnt, dass die Natur sich irgendwann mal sogar New York zurückholen wird. Manhattan auf der anderen Seite mag zeitlos wirken, vor lauter Wolkenkratzer, Schnellbau, Geldgier, Vorwärtsdrängen keine richtige Geschichte, nur gut versteckte Vergangenheit irgendwo in der Modernität haben. Jedes Riesenhochhaus wird durch ein noch größeres ersetzt, es geht nur noch neuer, besser, größer weiter. Aber hier, auf Roosevelt, zeigt sich die Vergänglichkeit von Menschgeschaffenem. Vier Stock fast schwarzer Stein, pflanzenumschlungen, ohne Dach, mit ausgebrochenen Steinen, Fensteröffnungen, durch die man nachts die Sterne sieht und schaudert, weil Eulen kreischen. Ratten, Eichhörnchen, Gewusel im Unterholz. Mehr Natur als Bauwerk.

Roosevelt Island wurde Roosevelt Island im Jahr 1973. Roosevelt ist ein guter Name in Amerika, zwei Präsidenten, auf die das Land stolz ist, damit müsste sich die Insel vermarkten lassen. Das war die Idee, die Insel ist nicht zu klein für Business, lasst uns was mit ihr machen. 1976 war es soweit, die Werbekampagnen hatten geholfen. Und die UNO. Auf Roosevelt Island entstand eine gute Wohngegend, zwar mit Sozialwohnungen reingemischt, aber auch mit ein paar tausend Wohnungen für UNO-Mitarbeiter. Und inzwischen auch Luxus-Apartments und seit kurzem der Baustelle des Riverwalks, 15 Stockwerke edles Gemäuer. Kein Apartment wird für weniger als drei Millionen Dollar zu kaufen sein, erzählen die riesengroßen Werbetafeln. Der einzige Zugang zur Insel war mal die Zugbrücke zur anderen, der UNO abgewandten Seite New Yorks, nach Queens und ein Aufzug von der Queensboro-Brücke, die allerdings Roosevelt Island nur benutzt, um sich mit zwei Paar dicken Sandstein-Pfeilern auf ihr abzustützen bei ihrem Weg von Manhattan nach Queens. Die Folge: Roosevelt Island war offiziell autofrei. Hat heute 8.500 Einwohner aus mindestens hundert Nationen, dank der UNO. Hat fünf Restaurants, die es zusammen knapp auf einen Stern bringen, so Anwohnerin Judy Berdy. Roosevelt Island ist eine Pendler-Insel, tagsüber sei sie so gut wie tot. Wenn da nicht ein paar Touristen wären. Sie hat nun eine U-Bahn-Station und, der schönste Zugang zur Insel, die Seilbahn, an ihrem höchsten Punkt 60 Meter über dem East River. Und, Pendler-Insel, eben doch Autos. Man kann inzwischen nicht mehr ohne zu schauen über die wenigen Straßen gehen. Denn aus der alten Zugbrücke – New Yorker sind praktisch – wurde eine feste. Der Aufzug von der Queensboro, der hatte immerhin vierzig Meter Weg zum festen Boden, geschlossen. Time is money in New York. Noch immer ist ein Krankenhaus auf der Insel, ein großes und ein zweites, noch größeres, aber die beiden sind inzwischen Randaspekt, Roosevelt Island ist jetzt Wohngegend. Image ist alles. Und hat diesen Blick nachts auf Uptown New York. Der ist ein schöner Traum, den man nicht vergessen will und eine nächtliche Fahrt mit der Seilbahn gibt es als Steigerung dazu.

Die Odyssee geht weiter: Sean Duran gibt Gas. Vorbei an Mill Rock. Die Insel entstand nach einer Explosion, die, bis zum ersten Atombombentest, die größte der Menschengeschichte war. Damals war Mill Rock noch drei Inseln mitten im Hell Gate. So wurde der Teil des East Rivers, wo Hunderte von Schiffen aufliefen und zerschellten, benannt. Bis am 10. Oktober 1885 die US-Army Flood Rock, das gefährlichste Hindernis, immerhin 36.000 Quadratmeter groß, sprengt. In den Jahren zuvor jagt sie schon die kleineren Inseln Hen and Chickens, Hog`s Bag, Frying Pan, Bread and Cheese und Bald Headed Billy, in die Luft. Die Sprengungen sind nur Training für die Explosion auf Brocken Flood Rock. Hunderttausend Zuschauern stehen an den Ufern. Die Sprengmeister haben Nitrobenzol aus Öl entwickelt, neuer Sprengstoff, stärker als alle bisher. Um 11.14 Uhr die Explosion. Vom „tiefen Brummen, das zu einem satten Knall wurde. Hoch, höher und noch mal höher rauschte in die zitternde Luft ein geisterhafter Wall aus Weiß, Silber und Grau. Die Explosion erschuf 50 Geysire, drei der Fontänen schossen zweihundert Fuß in die Luft, dann regnete alles in den Fluss, eine kochende Brühe weißen Schaums“, berichtet die New York Times. Flood Rock? Weg! Felsreste werden aus dem Fluss geklaubt und benutzt, um aus Great Mill Rock und Little Mill Rock Mill Rock zu machen. Bis 1949 nutzt die Armee die 30.000 Quadratmeter Insel für Testsprengungen. Sie wird Naturschutzgebiet, nur in den 80er und 90er Jahren von einem Verein genutzt, um mit sozial gefährdeten Jugendlichen aus den rauen Nachbarschaften Harlems Tagesausflüge zu machen. Die Idee, sie auf der Insel campen zu lassen, wird aufgegeben, die wird nachts von Ratten überschwemmt. Ende der 90er hat der Verein kein Geld mehr für Sozialtraining. Mill Rock liegt verlassen. Vom Boot aus sichtbar: im Vordergrund Geröllstrand und dichter Wald. Im Hintergrund: Manhattans Skyline.

Der Schriftsteller Anthony Trollope, einer der großen der amerikanischen Literatur, sagte ein paar Jahre vor seinem Tod 1882: „Ich bin noch nie die Fifth Avenue entlanggelaufen und habe nicht über Geld nachgedacht.“ Damals schon galt: Manhattan ist Gier, Menschen dort müssen die haben, um durchzukommen. Müssen hart sein, kämpfen. Sie dürfen keine Zeit verschwenden, keine Energie. Es ist schwer genug, einfach durchzukommen. Da verliert man die ganze Stadt aus den Augen. Mill Rock? Kaum ein New Yorker kennt den Namen. Mill Rock? Wald, Geröll, Ratten, hier ist New York anders, fast Natur, sicher nicht Manhattan.

Weiter im Norden, neue Inseln, neue Geschichten: Hart Island, City Island, High Island, die früheren Inseln Twin und Hunter’s Island, viele kleine zwischen ihnen und noch viel weiter im Norden Execution Rock, heute nicht mehr auf New Yorker Stadtgebiet, inzwischen Besitz von Nassau County. Viele Inseln wechselten zwischen Stadt und Staat New York, den Nachbarcounties und dem Staat New Jersey hin und her. Seit ein paar Jahren gehört sogar ein Teil von Liberty Island, der Insel der Freiheitsstatue, zu New Jersey. Execution Rock, genau an der Grenze, nun Teil von Nassau County, ist Träger eines automatischen Leuchtturms, der die Zufahrt nach New York, vom Long Island Sound kommend, lenkt. Execution Rock ist klein, ragt nur bei Ebbe aus dem Wasser, war für die englischen Kolonialherren im Krieg gegen Amerikas Freiheitskämpfer wichtigste Hinrichtungsstätte. Englische Gesetze erlaubten zum Tode Verurteilten vor der Vollstreckung eine Rede. Es gab viele Todesurteile und Reden voll Glut der Freiheit, Aufruhrpotential. Also wurden die Amerikaner zur Ebbe auf Execution Rock gekettet. Sollten sie feurige Reden halten während der Flut. Keiner hörte die, wenn das Meer kam.

Die kleinere der beiden Brother Islands gehörte ab 1896 Jacob Ruppert, dem reichen Brauer. Dem Besitzer der New York Yankees. Er lud nach Siegen, damals feierten die Yankees viele Siege, die Baseball-Spieler in sein Sommerhaus auf der Insel zu rauschenden Festen. 1907 gab Ruppert sein Haus auf. Seitdem ist die Insel unbewohnt, wechselte zuletzt 1975 den Besitzer. Eine Investmentfirma kaufte South Brother für 10.000 Dollar, zahlt seitdem treu die Grundsteuer, inzwischen ein Vielfaches des Kaufpreises. Sonst passiert nichts. Die Geschichte der kleinen South Brother Island ist langweilig, verglichen mit der von North Brother Island. Die ist 50.000 Quadratmeter groß und war lange die Quarantäne-Insel New Yorks. Wer ansteckende Krankheiten hatte, landete hier. Das Ufer besteht aus Steinmauern, ab und zu liegen an ihm lange Betonsstreifen, um die Insel vor den Kräften der Gezeiten zu retten. Viele alte, teilweise schwarz verrottete Bäume liegen im Uferwasser, die wenigen Strände sind steinig. Wo man hinschaut, Verbotsschilder. North Brother Island ist tabu, ein Vogelparadies. Alles, was auf der Insel ist, verdeckt ein grüner Wald mit vielen großen Ahornbäumen und einigen wenigen Walnussbäumen. Der Wald wirkt wie eine grüne Halbkugel, aus der ein Schornstein ragt. Ab und zu sieht man auch Mauern und Dächer im Grün, efeubehangene Gebäude, Sonne reflektiert auf Kupferdächern. Auch hier ein Gegen-Manhattan, hier holt sich die Natur etwas zurück, zeigt die Vergänglichkeit, die Gebäude auf North Brother sind recht groß, aber so gut wie weg gefressen.

Die Anlegestelle ist völlig zerstört, Holzpfosten ragen aus dem Wasser, die Spitzen wirken angenagt. Ein Holzwall im Wasser, der die Einfahrt nach Süden schützen sollte, braucht heute selber Schutz. Einige Pfeiler sind gekippt. Dem Pier, der an ihm entlang führt, fehlen Planken. Sie liegen im Wasser, andere sind gebrochen. Keine wirkt so, als würde sie noch einen Menschen tragen können. Wer auf dem Pier läuft, ist selber schuld. An den Stränden liegt viel nasses Holz, sie bestehen aus Sand, Bauschutt, Geröll, kleinen Tonbrocken und Glasscherben. Das ist Material, das früher benutzt wurde, um Land aufzufüllen, New York zu vergrößern. Die Beton- und Steinmauern zwischen Wasser und schmalem Strand sollen ein Schrumpfen verhindern. Vogelgeschrei, sehr lautes, die vielen Seemöwen sorgen für ein Hitchcock-Gefühl, dieses Schaudern. Geröll, verschimmeltes Holz, Ruinen, Dunkelheit während des Tages im engen Wald. Der Ahorn ist, erfährt man bei den New Yorker Park Rangern, Norwegischer Ahorn, der hoch wächst und für viel Schatten unter sich sorgt, soviel, dass kaum Unterholz wächst, die Wipfel wirken wie Dächer. Bäume und Boden sind nur von genügsamem Efeu überdeckt. Es überwuchert alles, Ruinen, Bäume, Felsen. Ab und zu wilder Wein an Bäumen, die Sonne kriegen. Keine black crowned night herons, das ist eine Reiherart, die aus Kanada herunterkommt, um zu brüten. Für die wurde dieses Naturparadies geschaffen.

Die besonderen Reiher brüten am Boden, nicht in den Bäumen, weshalb kein Mensch auf North Brother darf. Die Brutzeit kommt erst noch, jetzt ist keiner da. Jetzt ist hier, an einem hellen Vormittag, nur Dunkelheit, Schaudern, Schatten und Möwenkreischen in der Lautstärke eines Rockkonzerts. North Brother Island ist Horrorinsel. Hier starben 1141 Leute beim Untergang der General Slocum 1904. Hierher wurde das Riverside Hospital von Welfare Island verlegt, in das jeder mit ansteckender Krankheit kam: Typhus, Cholera, Gelbfieber, Pocken, Windpocken, Tuberkulose und Polio. Die Verwaltung musste die Insel oft vergrößern. Hier starb Typhoid Mary, Typhus-Mary, nach mehr als 30 Jahren Gefangenschaft. Um 1900 war Typhus eine Plage in New York, allein 1906 starben 639 Menschen daran, so das Gesundheitsamt der Stadt. 1907 traf es plötzlich auch reiche Familien in den edlen Gegenden der sauberen Park Avenue.

Die Ursache: Mary Mallon, 37 Jahre alt, robust, resolut, mit großem Kinn und Kiefer, blond, blauäugig, gesunde Gesichtsfarbe, aus Irland eingewandert, eine gute Köchin, die von Haushalt zu Haushalt abgeworben wird. Sie selbst hat keine Symptome, verbreitet aber den tödlichen Virus. Allerdings: Direkt können ihr nur 50 Krankheiten, drei Tote zugeordnet werden, aber sie wird Symbol. Jeder denkt, Typhus gleich Mary Mallon. Bei tausenden Toten. 1907 kommt sie nach North Brother Island, zieht vor Gericht, startet Pressekampagnen. Wird 1910 freigelassen, verspricht, nie mehr als Köchin zu arbeiten. Taucht ab. Fünf Jahre später wieder Typhusfälle. Zwei Krankenschwestern der Sloane-Geburtenklinik sterben. In der Klinik-Küche ist Marie Breshof, sie hat zuvor in einem Hotel gearbeitet, wo ebenfalls Typhusfälle aufgetreten sind. Und bevor Marie Breshof diesen Namen angenommen hat, war sie Mary Mallon. Wieder kommt sie nach North Brother. Bleibt bis zu ihrem Tod 1938, überzeugt, Opfer eines Irrtums zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird das Krankenhaus geschlossen, bis 1966 ist auf North Brother eine Drogenentzugsklinik. Dann Dunkelheit, Vögel.

North Brother, 15. Juni 1904: „Lange Reihen von Körpern lagen auf dem Gras. Es war ein Massaker, 611 Leichen lagen auf dem Gras, 400 schwammen noch im Wasser“, meldet Munsey’s Magazin. Inkompetenz, Unwissenheit, Dummheit, die Gründe sind heute schwer nachzuvollziehen. Klar ist: Damals kann kaum wer schwimmen, die meisten Matrosen sind Aushilfen ohne Erfahrung, das Schiff ist überfüllt an dem Mittwoch Nachmittag, als 1358 Mitglieder der deutschen Gemeinde an der Lower East Side Manhattans an Bord der General Slocum, dem Ausflugsdampfer, der Todesfalle, gingen. Nur 100 Männer, der Rest Frauen und vor allem Kinder, auf dem Weg zu einem Picknick auf Long Island, den East River hoch. Auf Höhe von Ward’s Island melden Jungs Rauch. Der Kapitän jagt sie weg. Auf Höhe von Sunken Meadow eine Explosion, das Schiff steht in Flammen. Der Kapitän, 67 Jahre alt, mit viel Erfahrung, gibt den Befehl: „Volle Kraft voraus“. Eine Meile bis North Brother. Später wird ihm das vorgeworfen. Warum hat er das Schiff nicht gleich ans Ufer gesetzt? Die schnelle Fahrt sorgt für Wind, die Flammen erfassen alles. Kaum wer springt von Bord, denn kaum wer kann schwimmen. Die wenigen Rettungswesten sind 13 Jahre alt, verrottet. Johann Kircher steckt seine siebenjährige Tochter in eine, wirft sie über Bord, sieht sie wie einen Stein versinken. Keine Beiboote. Es gibt Experten, die sagen, die Entscheidung des Kapitäns sei nicht dumm gewesen, links und rechts war das Ufer damals voller in Teer getauchter Piers, Holzlager, Schuten mit Kohleladungen, Sägespänen, Brennholz. Dies Feuer wäre schlimmer gewesen. Nur: Nun brennt die Slocum, setzt auf vor North Brother. Kaum wer kommt vom drei Deck hohen Schiff durch die Flammen an Land. Der Polizist Thomas Cooney taucht elf Mal durch das heiße Wasser, rettet elf Menschen. Beim zwölften Mal ertrinkt er. Die Toten sind fast alle aus Deutschland eingewanderte Neubürger.

Ein anderer Tag. An Land. Queens auf Long Island. Raus aus der U-Bahn-Linie F, hoch ans Tageslicht. Oben, an der 21. Straße Ecke Queensbridge ist eine Haltestelle der Buslinie Q 101 R. Q steht für Queens, R für Rikers Island. Auf der Insel ist das größte Gefängnis der Welt, 1935 eröffnet als Musterstrafanstalt mit ein paar hundert Insassen. Das Leben dort ist heute härter: Manchmal sind 16.000 Insassen drin, zurzeit nicht ganz 14.000. Eine knapp 1700 Quadratkilometer große Insel, die gesamte Insel ein Gefängnis, Gefängnis der Stadt New York. Die Insel wuchs ständig, musste wachsen, wurde deshalb aufgeschüttet. Im Bus ist anfangs alles wie in anderen Bussen New Yorks: Leute steigen ein, aus, fast alle haben Knöpfe im Ohr, hören Musik. Hip-Hop. Handys klingeln, viele telefonieren. Nach fünf, sechs Stationen ändert sich die Atmosphäre. Nur noch Frauen, keine Männer, wenige kleine Kinder sitzen im Bus. Zwei Stationen vor der Brücke fangen die Frauen an, umzupacken. Sie holen ihre IDs, die Identifikationskarten, aus den Handtaschen und packen sie in die Hosentaschen. Alle schalten die Handys ab, legen sie wie die iPods oder MP3-Player in die Taschen. Viele scheinen sich zu konzentrieren, eine Frau schaut starr geradeaus. Keine Musik mehr. Ruhe. Da, die Brücke, 1966 gebaut, zuvor brachten Fähren die Besucher nach Rikers Island. Es ist eine Metallbrücke, zweispurig mit dicken Leitungsrohren an den Seiten. Ein paar hundert Meter lang, wirkt sie wie eine Pontonbrücke im Krisengebiet. Rechts sieht man den Flughafen La Guardia am Wasser, ein Flugzeug kommt direkt herunter, zu nahe, zu laut, die kirchliche Ruhe im Bus störend. Nun Drahtzäune, Stacheldraht. Einige Frauen schlucken. Eine klopft einmal hart und kurz auf ihre Schenkel.

Der Bus fährt durch das Tor, hält. Endstation, alle raus. Auf der einen Seite der Long Island Sound hinter einem drei Meter hohen Gitterzaun, auf der anderen Seite ein Parkplatz, eingezäunt, der Zaun oben mit Stacheldraht unüberwindlich gemacht. Den Rest des Gefängnisses, eigentlich sind es sieben verschiedene, sieht man nicht. Die Insel ist flach, die Gebäude sind gleichhoch, nicht zu sehen von hier. Eine Frau erzählt: wenn sie hier durch ist, bringt ein anderer Bus, ein gefängnisinterner, sie weiter zu den jeweiligen Besucherräumen der Knäste. Ja, sie sei schon oft hier gewesen, besuche ihren Sohn, habe auch schon ihren anderen Sohn besucht, ihren Bruder, schon lange her, da habe es hier noch anders ausgesehen. Sie lächelt, wirkt wie eine humorvolle Person, fehlbesetzt in einem tragischen Stück: ihrem Leben. Alle beeilen sich, denn es gibt nur wenige Metallfächer, in denen die Frauen ihre Taschen einschließen können. Kurze Streits. Oder kurze Freundschaftsszenen, wenn sich mehrere, routiniert, zusammentun, ein Fach belegen. Schnell bildet sich eine Schlange zwischen halb hohen, tragbaren Metallabsperrungen. Ein Wächter, massig, groß, gefährlich wirkend, in schwarzer Uniform, ohne Feuerwaffe, ruft – nein, er singt fast, zählt auf, was nicht hinein darf. Elektrogeräte, Handys, Flüssigkeiten, Kameras, Kugelschreiber, kein Glas, keine Waffen, keine Messer. Alles geht schnell, durch das nächste Tor, in ein Haus, das wirkt wie ein Container, obwohl es gemauert ist. In der Wand ein Fenster, gesichert mit dickem Glas, eine Sprechanlage. Man muss den Namen desjenigen sagen, den man besuchen will. Bekommt eine Codenummer. Ohne Namen keine Nummer. Weiter geht es nicht ohne. Der Code ist wie ein Schlüssel, mit dem kommt man bis zu demjenigen oder derjenigen, bis in die Besucherzellen. Man müsse angekündigt sein, sagt der Wärter. Fragt: „Was wollen Sie hier?“

Zurück zum Bus, warten, abfahren, wieder über die Brücke, vorbei an dem Schild „Have a save trip home“. Im Bus sind jetzt viele Frauen und Männer in Uniform, die Wächter hatten Schichtwechsel. Mehr gibt es nicht von Rikers Island, nicht für jemanden, der nicht wen kennt dort, im Long Island Sound, am Nordrand Queens. Wächter, Rikers hat mehrere tausend, können mit dem Auto kommen. Was die Untersuchungen nach dem Diebstahl von Salvador Dalis surrealem Jesus am Kreuz, einem 1,2 auf 1,5 Meter großen Gemälde, so schwer machte. Dali hätte 1965 einen Vortrag im Gefängnis halten sollen, war morgens mit Fieber im Hotel aufgewacht. Er malte ein Bild, schrieb an den Rand „For the dining room of the Prisoners Rikers Ysland – SD“. Den Rechtschreibfehler Ysland ignorierte er, als seine Frau Gala ihn darauf hinwies und schickte sie als Botin nach Rikers. Das Bild zierte jahrzehntelang die Cafeteria des Männergefängnisses, wurde aber vor ein paar Jahren aus Sicherheitsgründen in eine Eingangshalle gehängt. Zu der nur Wärter Zugang haben. Und war 2003 verschwunden, ausgetauscht gegen eine von Laien gemalte Kopie, immerhin so gut, dass nicht festgestellt werden konnte, seit wann der Dali weg war. Das Bild, wohl mehr als eine halbe Million Dollar wert, ist verschwunden, auch wenn inzwischen vier Wärter von Rikers für den Diebstahl verurteilt sind. Wie das Bild die Insel verließ, ist unbekannt. Im Bus wäre es zu eng gewesen.

Duke Ellingtons Klassiker „Take the A-Train“ beschreibt, ohne Worte, aber mit viel Swing und einem treibenden Rhythmus, die Subway-Fahrt nach Harlem, in der Linie A, dorthin, wo in den 20er Jahren das Leben tobte. A-Train, blaue Linie, aber in die andere Richtung. Nicht zum Nordrand der Insel Manhattan, sondern nach Süden, über den East River, durch die Bronx, durch Queens. Weiter, dahin, wo das Leben ruhig und entspannt ist. In das Dorf New York. Kurz vor der Endstation Rockaway Park Beach auf dem Riff vor Long Island liegt Broad Channel Island, ein Stadtteil mit 2500 Einwohnern. Einer Grundschule. Einer katholischen Kirche. Einer protestantischen. Einer Subway-Station. Kurz zuvor sieht man, die Subway ruckelt auf Stelzen über dem Wasser durch die Jamaica Bay, viel Schilf und kleine Bäume, man ahnt Sumpf. Kaum wer steigt aus in Broad Channel Island mit den holzverkleideten, zweistöckigen, schindelgedeckten Häusern. Wohin man schaut, weiße oder hellgrüne Holzzäune um kleine Gärten mit wenigen Blumen und langweiligen Rasenflächen. Basketballkörbe an fast jeder Wand. An jedem zweiten Haus eine amerikanische Flagge. Ab und an hört man Flugzeuge am nahen John-F.-Kennedy-Airport. Vor allem aber hört man Vögel, viele, laut. Broad Channel, von Kanälen durchzogen, fast jedes Haus steht am Wasser, wird Venedig New Yorks genannt. Überall Enten, Schwäne, man sieht Kormorane nach Fischen tauchen, Great Blue Herons, eine Reiherart. Natur. Man riecht Seeluft, denkt an Urlaub, an Angeln, an Segeln, denkt nicht „New York“. Auf der Straße Katzen. Kaum Menschen. In New York, eine Stunde 15 Minuten U-Bahnfahrt entfernt von Manhattan.

Die Häuser sehen abgewetzt aus. Der Atlantik-Wind setzt ihnen zu. Ein paar Schritte in Richtung der Hauptstraße, es ist die einzige richtige Straße, wie in der Stadt des Western-Films: eine Straße, an der alle wichtigen Gebäude liegen, Schule, Kirche, Rathaus, nur kleine Seitenwege mit Wohnhäusern. Im Westen ist die Skyline Brooklyns zu sehen, bei gutem, nur bei gutem Wetter, einige Spitzen der Wolkenkratzer Manhattans. Heute nur das Empire State Building. Früher, erklärt Michael Tubridy, der hier aufgewachsen ist und heute, mit 57 Jahren noch gerne lebt, ja, früher, vor 9/11, habe man das World Trade Center gesehen. Tubridys Haus steht auf Stelzen am Ende eines Piers, man geht 30 Meter auf schwankendem Holz über Wasser zu ihm durch Schilf, sieht fünf, sechs verschiedene Fischarten, Schwärme und große einzelne. Tubridys Neffe wohnt nebenan, sein Bruder eins weiter. Michael Tubridy fährt nicht mit dem Auto zum Supermarkt, er nimmt sein Motorboot. Naja, sagt er, „im Winter friert das Wasser, dann fahre ich mit dem Auto.“ Er erzählt gerne von seiner Kindheit, als noch keine Subway, nicht mal eine Straße, hierher führte, als man ein Boot brauchte. „Wasserski sind wir gefahren, wir waren ein Haufen Kinder, eine richtige Nachbarschaft, sind gesegelt, hatten Boards. Man wäre nie auf die Idee gekommen, das man New York war.“

Kommt man immer noch nicht. „Stimmt, das ist das besondere hier. Eigentlich ist das ein Dorfleben, jeder kennt jeden. Es gibt zwei kleine Läden, zwei Restaurants, seit kurzem wieder einen Drugstore, eine Grundschule, mehr nicht. Jeder kennt wirklich jeden. Genauso wie früher, als ich hier groß wurde.“ Sie lebten an der Hauptstraße, dem Cross Bay Boulevard, „sieben Kids, mein Großvater, meine Eltern. Im Sommer sind wir immer 300 Meter weiter ins Sommerhaus auf die Piers gezogen.“ Er lacht, weil er mal wieder von früher schwärmen kann und wer zuhört. Es sei schön, in Broad Channel nostalgisch zu sein, weil es hier noch so sei wie damals. „Die meisten Leute in New York wissen gar nicht, dass es das hier gibt, kennen das nicht. Gut für uns. Ja, wir sind eine Idylle geblieben.“ Die Insel ist 300 Meter breit. Er kann sich noch erinnern, als es drei Inseln waren, aber nach und nach wurden Zwischenräume gefüllt. Fast jedes Jahr werden die Häuser gestrichen. Er klopft an die Wand, „nichts ist mehr, wie es war, alles Täuschung. Das hier ist Faserzement, sieht aus wie Holz. Aber unter dem Zement ist noch altes Pliwood-Holz, das aus meiner Kindheit.“ Ein Blick nach Westen, in die Jamaica Bay, die Bucht voller Inseln. Wann er zuletzt im Zentrum von New York war? „Jahre her. Wenn ich was einkaufen muss, fahre ich nach Rockaway oder Howard Beach.“ Wenn man ihn fragt, wo man hier ist, sagt er „Broad Channel Island, Queens“. Dass Queens ein Stadtteil New Yorks ist, unterschlägt er.

Take the A-Train weiter nach Süden, über eine Brücke, vorbei an verrotteten, leeren Hütten auf Stelzen nach Rockaway, ein dreihundert Meter breites, bewohntes Riff. Ein kilometerlanger Sandstrand. Einige Surfer in Neopren, wenige Schwimmer, ein Boardwalk aus dunklem Holz, voller Verbots- und Warnschilder. Weit draußen auf dem Meer große Containerschiffe, Tanker. Auf der Promenade Jogger, Skater, Spaziergänger. Alte Männer spielen Raket-Ball. Dahinter Ferienhäuser und noch weiter hinten vierzehn- bis sechzehnstöckige Häuser mit Sozialwohnungen. Die sind, wie überall in New York zu erkennen an roten Fassaden, kleinen Fenstern und daran, dass immer drei, vier Häuser, die identisch scheinen, nebeneinander stehen. Rockaway hat Karriere gemacht, ist groß genug dafür. Es kann sich rentieren, hier was zu ändern. Vor dreißig Jahren war es noch eine der Inseln, auf die New York Probleme abschob. Deshalb die Sozialbauten, Low Income Houses. Rockaways Bevölkerung war mehrheitlich schwarz. Aber da ist der Strand, lang, schön, da sind die Möwen, die flach über ihn gleiten, sich in den Sand setzen, Urlaubsgefühle hervorrufen. Rockaway wurde Ferienort, die Bevölkerung von heute ist auf der Nordseite, weg vom Meer, schwarz, auf der Seite mit Blick auf den Atlantischen Ozean weiß. Hier werden neue Ferienhäuschen gebaut, in Siedlungen, mit Mauern drum, zu Hunderten. Ein großes Schild wirbt für „New Yorks New Beachfront“ auf New Yorks südlichster Insel. Elend und Reichtum liegen, wie oft in den USA, nahe beieinander, getrennt durch Zäune und Tabus.

Wieder im Norden, in der Bronx, dem einzigen Stadtteil auf dem Festland. Der East River erreicht den Long Island Sound, die nächste Insel des Schreckens, der Trauer. Hart Island, die Insel der Toten. Nähern wir uns ihr von der anderen Seite, vorbei an Orchard Beach, über City Island, einem New Yorker Paradies. Eines der Piers an der Long Island Sound Seite. Hier legt viermal die Woche die Fähre ab in den Hades, nicht bewacht von einem Cerberus, sondern von Wärtern der Gefängnisinsel Rikers Island. Von dort kommen die Totengräber, Insassen, die wenig auf dem Kerbholz haben. Totengräber auf Hart Island zu sein, gilt als gute Arbeit im Gefängnis. Sie hat den Hauch von Freiheit. Morgens, die Sonne geht gerade auf, der Laster fährt auf das Pier. Hinten drauf die Leichen. Hart Island ist inzwischen der Armenfriedhof der Stadt, das sogenannte Potter’s Field. Der Begriff leitet sich aus der Bibel ab, Matthäus 27, 5 bis 7. Die Häftlinge und die Wärter sitzen in zwei Reihen vorne im Laster, eng aneinander. Drei Wärter, fünf Häftlinge, ein Fahrer. Die Häftlinge in dunkelblauen Uniformen, die Wärter auch, allerdings in noch dunkleren, mit Metallabzeichen auf der Brust. Die Häftlinge sind schwarz, die Wärter weiß. Die Häftlinge schauen dir nicht in die Augen, die Wärter umso härter, wenn sie sagen: „Weg hier, hier gibt es nichts für euch.“ Sie beeilen sich, reden mit niemandem, dürfen es wohl nicht. Wenn City Island erwacht, die noble Wohngegend, die Touristengegend, sollen sie drüben sein, auf Hart Island. Die Fähre mit zwei Park Rangern legt ab zur kurzen Fahrt über den Hades nach Styx, das Reich der Toten. Im amerikanischen Bürgerkrieg als Ausbildungslager genutzt, wurde Hart Gefängnis für Südstaatensoldaten, Soldatenfriedhof, Armenfriedhof, Grabstätte, für die, die ohne Angehörige sterben. Der erste Aidstode der Stadt liegt hier, man wusste damals nicht, was machen mit ihm. Viele Babys, gefunden in Mülltonnen, erfrorene Obdachlose, unbekannte Junkies, Tote, die man nicht zuordnen kann im Moloch. Die niemanden hatten, haben, heute noch werden die Grabsteine mit Nummern und Buchstaben versehen, nicht mit Namen. 1999 allein wurden die Reste von 1011 Erwachsenen und 671 Babys hier begraben. 800.000 Leichen liegen hier, schätzt Stuart Miller, der Autor, der auf City Island geheiratet hat. „Viele davon sind aber kompostiert, keine Körper mehr. Anfangs waren auf Hart nur Massengräber.“ Gar eine Million Leichen seien hier, so Melinda Hunt in ihrem Buch über Hart Island. Die Zahl ist ohne Bedeutung, denn alle neun Armenfriedhöfe New Yorks wurden hier zusammengelegt, das heißt, die Körperreste, oft nur noch Erde, hertransportiert. Und früher wurde nicht genau Buch geführt.

Eine Zeitlang war auch ein Heim für Obdachlose auf Hart, kurz auch eine Besserungsanstalt für kriminelle Jugendliche. Um 1925 sollte ein Vergnügungspark entstehen. Wohin sonst mit den vielen Schwarzen in Harlem, die damals nicht in die Amüsierparks der Weißen durften? Die Stadtverwaltung entschied dagegen, das Jugendgefängnis wäre wohl nicht mehr so sicher gewesen mit dem Vergnügungspark am Zaun. Alles immer neben New Yorks Potter’s Field. Die Toten wurden lange untergebracht in sieben Lagen in großen Gräbern, ohne Grabsteine. Wenn man heute nah rankommt an die Insel, sieht man aber an der Südseite der Insel Felder voller weißer Steine, Einzelgräber. Sie sind alle mit Nummern und Buchstaben versehen, ohne Namen aber. 1955 im Kalten Krieges baute das Militär sieben Abschussbasen für Pershing-Raketen auf Hart, leerte die Anfang der 70er Jahre. Man sieht die Metallklappen der Silos vom Wasser aus. Die Insel trägt Ruinen, Schornsteine des alten Kraftwerks, einer ist zerbröselt, einer scheint glatt abgeschlagen. Schilder am Ufer: „Keep Off!“ Und: „Prison“. Bäume, wohl Pappeln. Im Süden vor allem Felder mit Grabsteinen. Dreht man sich jetzt um, sieht man Manhattans Skyline, zwar weit entfernt, aber deutlich. Da das Chrysler Building, da das Empire State. Am Nordufer Harts liegen acht, neun Wracks von Motor- und Segelbooten. City Island ist der Jachthafen New Yorks. Durch den Long Island Sound kommt oft Sturm, der Boote losreißt. Sie zerschellen auf Hart Island, das man nicht betreten darf.

City Island gegenüber: Man muss bis zur Endstation der Subway in der Bronx, also in den höchsten Norden New Yorks, um den Bus BX 29 zu bekommen. Dessen Entstation ist City Island, die Zwischenstation zur Toteninsel und die ganz andere Welt, die Insel mit den Jachtclubs, den schönen Häusern am Wasser mit großen Gärten, den Privatpiers, dem Gefühl von allgemeinem Luxus. Die Bewohner sind, wie die von Broad Channel Island, Patrioten, haben alle mindestens ein Boot im Garten stehen. Allerdings: Sie sind keine Pendler wie die Bewohner von Broad Channel Island. Tagsüber ist auf City Island mehr los. Von der Straße aus, von wo aus man kaum Boote sieht, wirkt City Island wie ein kleiner Ort im Mittelwesten, mit den Häusern und Gärten von damals, als die amerikanische Welt noch heil war. Nur: ständig hört man Nylonseile an Metallmasten der Segelboote klackern, hört scheinbar ein Xylophon-Orchester. Auf City Island gilt Tempo 15 M.P.H. Alle Straßen, die von der Hauptstraße wegführen, sind Sackgassen, haben am Ende rote Ampeln. Damit niemand ins Wasser fährt. Zusätzlich sichern Betonpoller und starke Drahtzäune. Diese übertriebene Sicherheit ist ein Zeichen von Reichtum. Broad Channel, eine ärmere Gemeinde, kann sich sowas nicht leisten. City Island: Eichhörnchen sind unterwegs, viele amerikanische Flaggen wackeln im Seewind. Das Meer um die Insel ist voller Fische. Der Süden eine Kette von Seafood Restaurants, eines neben dem anderen: Neptune Inn, Sammy’s Fish Box, Lobster Box, Shrimp Box, Johnny’s Reef Restaurant. Von deren Terrassen sieht man kleine Segelschiffe im Long Island Sound. Die Leute erzählen gerne und stolz von den fünf hier gebauten Jachten, die den America’s Cup gewannen. Vom Luxusschiff, das die Rockefellers hier bauen ließen. Von Harry Carey, der auf der Insel aufwuchs, auf der Hauptstraße Reiten lernte, in Hollywood Karriere machte ab 1910. Er war Nebendarsteller in vielen Western, aber auch in „Mr. Smith Goes To Washington“ mit James Stewart. Bei Careys Beerdigung 1947 trug John Wayne ein Gedicht zu Ehren des Mannes aus City Island vor.

Die Insel ist ein Idyll, die Menschen hier wissen es, kultivieren, zelebrieren diesen Traum. Früher war ein Ort wie City Island vielleicht normal. Heute ist er Luxus, eine heile, kleine Welt. In New York. Sie sagen oft, „wie Connecticut“ oder „wie Vermont“. Viel wird auf City über Kunst gesprochen, viel Kunst, wenn auch eher für den Hausgebrauch, wird hier gemacht, so gefällt ihnen das, es gibt ihnen das Image, das sie haben wollen für ihre Insel. Aber auch der Glamour, Hollywood, mag die Insel, vor allem das letzte Haus an der Tier Street, zweistöckig, mit dunklen Holzschindeln verkleidet, am Wasser Richtung Bronx. Sidney Lumet verfilmte hier Eugene O’Neills “Long Days Journey Into Night” mit Katharine Hepburn. Vor ein paar Jahren wurde da „The Royal Tennenbaums“ gedreht. Vincent Pastore, der in „The Sopranos“ mitspielt, hat sich ein Haus auf City Island gekauft. Was teuer ist, denn die Gegend sei gut, sagt Ron Terner, einer der 4500 Einwohner. Wobei: Die Preise sind nichts, verglichen mit Manhattan. Ein-Zimmer-Appartments gibt es für 350.000 Dollar, einige der kleineren Häuser am Wasser kosten 650.000 Dollar. Es werden aber nur kleine, baufällige verkauft. Wer hier was Schönes hat, behält es. Man bezahlt vor allem den Boden, die Lage. Die Häuser aber sind hier hölzern, wirken provisorisch. Ron Terner: „Man kann hier ein low profile haben, muss nicht zum Einkaufen von der Insel, es ist idyllisch, grün, ruhig, voller Künstler.“ Es gibt keine Polizeistation auf der Insel. Bei Terner, dem Hochzeitsphotographen, auf City Island, in den Jacht-Clubs wird viel geheiratet, ist Malkurs. Laury Hopkins, die den älteren Damen zeigt, wie man Schilf malt, ruft laut: „City Island kommt in „Rise and Shine“ von Anna Quindlen vor, ich glaube, auf Seite 140. City Island sei Brigadoon.“ Sie sagt, ich glaube so, dass man weiß, es ist genau Seite 140. Die Damen erklären, Brigadoon, das Broadway Musical, das jahrzehntelange lief, erzählt von dem Dorf, das nur einmal alle paar Jahrzehnte aus dem Tiefschlaf erwacht für kurze Zeit. „Oh ja“, sagt Laury Hopkins. Hier sei Idylle, weshalb kaum wer sein Haus verkaufe und wenn, dann richtig teuer. Das sei eine der besten Gegenden New Yorks. Terner erzählt, während die anderen nicken, dass die Insel sich seit 1974, als er herzog, zwar verändert habe, „ein paar neue Häuser, keine Schiffswerften mehr, aber irgendwie ist alles so geblieben wie es war. Was für New York was ganz besonderes ist.“ Schüsse, oh, lachen die Ladies, das sei vom Schießübungsgelände des NYPD, der New Yorker Polizei, drüben, auf dem Festland. Das störe das schöne Leben auf City Island, „im Paradies der Bronx“. Sie lachen alle darüber.

Den Norden der Insel beherrschen die Riesenantennen der Nachbarinsel High Island. Die, klein, ist seit 1967 im Besitz von CBS, dem Fernseh- und Radiosender. Radio und Fernsehen für New York wird hier ausgestrahlt. 541 Fuß ist der Turm hoch, etwa 180 Meter. Er schwankt ziemlich. City und High werden mit einem langen Metallsteg verbunden. Der hat noch auf City Island ein stacheldrahtverhangenes Tor, auf High Island steht ein Wächter. Die Insel ist wirklich tabu, Hart Island, die Friedhofsinsel, Kleinkram dagegen.

Von der Südspitze Manhattans, fünf Minuten mit der Fähre bis Governors Island. Von dort ist, passender Abstand, guter Winkel zur Spitze Manhattan, der Blick auf die Skyline perfekt. An diesem Punkt, gilt, was in der „New York Times“ stand: „Wie viele natürliche Schönheiten ist New York schön, ohne sich anzustrengen.“ Governors Island war bis vor drei Jahren off limits, belegt als Sommerresidenz der britischen Gouverneure, danach in der Hand der US-Army, dann der Coast Guard. Michelle Marquez ist Vice President Community and Government Affairs der Governor’s Island Preservation and Education Corporation. Wenn Namen so lang sind, heißt das Behörde. Eine neue, sie soll dafür sorgen, dass die New Yorker die Insel annehmen. Die Fähren fuhren diesen Sommer, Juni bis September, kostenlos. „Nur Minuten entfernt eine andere Welt“, ist der Werbespruch. Fasanen laufen herum, schwarze Eichhörnchen, Gänse. Narzissen schmücken grüne Wiesen. Man fühlt sich auf dem Land, „ja, wie in Connecticut“, sagt Michelle Marquez. Alles ganz nah bei New York, alles so fern wie der Mond. Weshalb die Behörde kämpfen muss, um dieses Freilichtmuseum zu füllen. Die Bürger sollen her. Sie kommen nicht, denn fast 300 Jahre durften sie nicht. „Das ist amerikanische Geschichte zum Anfassen“, wirbt Michelle Marquez, betont die Picknick-Möglichkeiten, führt durch das Militärmuseum, zeigt den Blick auf Manhattans Südspitze oder auf Brooklyns Hafen, auf die Freiheitsstatue, auf die Natur Governors Islands. Sie hat heute, Sonntag, ihren Mann, ihre Kinder, ihre Cousine, deren Freund mitgebracht. Die sollen die alten Festungen sehen, das alte Casino, im dem Burt Bacharach während seiner Army-Zeit Klavier spielte. Die Arrestzellen, in denen Box-Weltmeister Rocky Marciano einsaß, wenn er drüben in Manhattan, 600 Meter entfernt, den Ausgang überzogen hatte. In der Army, auf Governors, hatte er zu boxen begonnen. Im Ersten Weltkrieg kam Soldat Walt Disney wegen Zu-spät-Kommens in die Arrestzelle. Jetzt, nachdem die Bundesregierung die Insel der Stadt für einen Dollar abgekauft hat – mit der Auflage, hier darf niemand wohnen, darf kein Casino hin–, wird geplant, überlegt. Weg sollen die neueren Militärgebäude, her soll Natur. Der Blick nach Manhattan soll sich auszahlen.

Ellis Island, Liberty Island, die zwei offiziellen Inseln, die mit dem Einwanderermuseum, die andere mit der Statue und deren Museum im Sockel. Sie, ein Geschenk Frankreichs, die den Neuankömmlingen eine Fackel entgegenstreckt, hat ein Gerüst im Inneren, das Gustave Eiffel entwickelte. Dessen Gerüstidee war wie ein Startschuss für den Wolkenkratzer-Bau. Ellis und Liberty, beide gehören New York und dem Staat New Jersey, sind zusammen eine Tour, drei, vier Stunden mit der Fähre. Heute mit einer Gruppe aus Carthage, Texas. Die Jugendlichen sind Klischee, meist zu dick und erfreut, dass man, aus Sicherheitsgründen, nicht mehr auf die Statue of Liberty darf. Die hat keinen Aufzug, sagt Cathy. Auf der Fähre läuft ein Band, durch die Lautsprecher erklärt eine Frau die Bedeutung der Inseln, ständig fällt das Wort Symbol oder symbolisch. Wichtig ist allen, Fotos mit sich im Vordergrund und der Freiheitstatue dahinter, deren Flamme glänzt gülden, zu machen. „Auf Ellis Island wurde ich wiedergeboren“, sagte Emanuel Goldberg, der 1903 aus Rumänien kam und wie alle Einwanderer zwischen 1892 und 1954, zwölf Millionen Menschen auf der Suche nach Zukunft, hier durchgeschleust, auf Krankheiten untersucht wurde. Goldberg nannte sich später Edward G. Robinson und wurde Hollywood-Star. 40 Prozent aller Amerikaner können ihre Wurzeln nach Ellis Island zurückverfolgen. Die Gruppe aus Carthage geht heute noch, wie die meisten Gruppen, nach Coney Island. Coney Island, an der Südspitze Brooklyns, ist schon lange keine Insel mehr, aufgefüllt, ist der große Vergnügungspark, war es schon immer. Die größte Rutsche, die längste Rutsche, die höchste Rutsche, die blauste Rutsche, die amerikanische Welt des Superlativs. Und Little Odessa. Um die Vergnügungsstätten, wo Leute wohnen, ist russisch Umgangssprache. Ein paar Albaner leben hier, aber sonst nur russische, ukrainische Einwanderer.

Staten Island ist anders, größer als Manhattan, ohne Wolkenkratzer. Nein, flache Häuser stehen an den Hänger der Insel zwischen Manhattan und dem Atlantik. Sie wirkt wie eine englische Seestadt. Und im Kontrast zu Manhattan wie ein Dorf. Lange war Staten der grüne Garten, aus dem Obst und Gemüse für die Stadt kam, die Gegend, die nicht richtig dazugehörte und das auch nicht wollte. Der Stadtteil ist der einzige New Yorks, der immer mehrheitlich republikanisch wählt. Immer wieder mal gibt es Initiativen, sich von New York loszusagen, endlich selbstständig zu werden. „Von drüben“ kommt nichts Gutes, ist der alles zusammenhaltende Gedanke auf Staten, das von 1948 bis 2001 die Müllkippe der Stadt war, Fresh Kills, die größte der Welt, bekam 13000 Tonnen täglich vom Moloch, der damit die Bucht auffüllte. Sean Duran, stammt von hier, er mag Staten Island, hat so seine Probleme mit New York. „Es gibt inzwischen zuviel Brücken zu der Insel, du kannst dich hier nicht mehr verstecken. Zum Glück ist der Brückenzoll so hoch, neun Dollar für eine Überfahrt. Aber die Immobilienpreise steigen. Wir werden jetzt umarmt, unsere Eigenheiten gehen verloren.“ Er zeigt was Besonderes, Shooter’s Island. Die Insel liegt in den engen Gewässern zwischen New Jersey und Staten Island, ist klein und tot. War früher ein Dockgelände, ist heute Industrieromantik pur, alt verfallen, schön. Von der Julia aus sieht man den Kontrast, New Jerseys Küste, Riesen-Containerkräne. Große Metalltiere, hellblau und weiß, mit 30 Meter hohen Beinen und den langen halsartigen, giraffenartigen Auslegern, die sich ruckartig bewegen. Als wäre das eine Szene aus Star Wars. Sind an der Küste mal keine Kräne, sind da große runde Tanks, Raffinerien, Hallen, Werften, Industrie. Ganz anders Shooter’s Island: angefaultes Holz, Docks aus Holz, die zerfallen, Stumpen im Wasser. Das Zeug stammt aus den 30er Jahren. Shooter’s ist auf der Landkarte viereckig, was heißt: künstlich. „Nein, sicher nicht“, das sei eine echte Insel, sagt Sean Duran.

Shooter’s wurde vergrößert, aufgefüllt, aber Shooter’s ist Natur, von Menschen aufgegeben, von der Natur zurückgenommen, hat eine zerstückelte Küste, Wald, aber eben auch die Ruinen am und im Wasser. Es ist heller als vor North Brother Island, es gibt auch keine traurigen Geschichten über Shooter’s. „Nur Trockendocks“, sagt der Captain. Shooter’s wirkt alt, versteckt, geheimnisvoll, grün, nicht trist. So klein, dass die Insel nicht mehr sinnvoll nutzbar war, wurde auch sie Revier für einige seltene Vogelarten. Und für Menschen verboten. Nein, er sei noch nie auf der Insel gewesen, sagt Sean Duran, der auf Staten Island, vierhundert Meter entfernt, aufwuchs. Er lächelt, als er das sagt. Und auf die Frage, warum, lächelt er noch mehr. Denn: Männliche Jugendliche auf Staten Island haben so was wie eine Mutprobe zu absolvieren, so mit vierzehn, fünfzehn Jahren. Auf der Insel finde man immer wieder Reste von Lagerfeuern, leere Bierflaschen, amerikanische Flaggen, erklärt Paul Kerlinger von der städtischen Naturschutzbehörde: „Die Jungs campen da, leider treiben sie so die Vögel fort“.

Es ist Nacht, die Lichter sind an, die Milliarde Lichter. Die Lichter Brooklyns, das fünftgrößte Stadt der USA war, als es 1898 mit New York zusammenging. Die Lichter Manhattans, das, obwohl damals zugebaut und ohne Boden zum Weiterwachsen als Verlierer des Zusammenschlusses galt, aber einfach nach oben wuchs, in vorher nie dagewesene Höhen. Die Lichter New Jerseys. Die Lichter Queens. Die wenigen von Governors, wo, so will es das Gesetz, niemand wohnen soll. Lichter, nur Lichter. Auf dem dunklen Wasser, Blick auf Manhattan, zur wahren von Menschen geschaffenen Schönheit. Beton, Stein ist nicht zu sehen, nur Licht. Elektrizität scheint für New York erfunden worden zu sein. „Hundert Mal habe ich gedacht, New York ist eine Katastrophe, und fünfzig Mal, es ist eine schöne Katastrophe“, sagte Le Corbusier. Nachts, vom Wasser auf die Stadt der Inseln schauend, ist sie nur schön, keine Katastrophe. Nachts, ohne Lichter, ist es die Natur, die North Brother, Hart Island, die Südspitze Roosevelt Islands, Mill Rock vom Menschen zurückgeholt hat, die Furcht einflösst. Manhattan gehört den Menschen. Nachts blendet die Insel, ist eine würdevolle Königin.