Wie ich die Karre in Kasachstan verscheuerte
Er schaut nur kurz. Tut so, als habe er nicht verstanden und geht weg. Zwei Minuten später steht er wieder da. Stellt eine Schale Chips auf die Theke und sagt: „Wird schwer hier. Atyrau ist eine Öl-Stadt, mitten im Boom. Keiner wird hier einen Gebrauchtwagen kaufen. Vergiss es.“ Frag bitte ein bisschen rum, sage ich. Er, etwa 30 Jahre alt, asiatische Ausstrahlung, aber nicht zu einem Lächeln fähig, viele Fitness-Studio-Muskeln, nickt nicht mal.
Das „Guns and Roses“ hat einen dunklen Dielenboden und eine lange Bar. Ich hatte ein „Sprite“ bestellt. Der kasachische Barkeeper mit dem Emblem einer unbekannten Biermarke in kyrillischer Schrift auf dem T-Shirt, spricht englisch. Endlich einer. Also los: „Ihr Barkeeper kennt doch immer alle. Folgendes: Ich habe draußen ein gutes Auto stehen, einen VW Sharan, Made in Germany. Den will ich verkaufen. Das ist mein Auto. Völlig legal. Ich hab die Papiere. Nur die Zolldokumente fehlen. Was es komplizierter macht. Aber vielleicht auch billiger.“
Die Kneipe, die wirkt wie ein Salon in Dodge City in einem Western, steht auf der östlichen Seite des Flusses Ural. Südlich des gleichnamigen Gebirges. Nördlich des Kaspischen Meeres. In Kasachstan. Zentralasien. Das „Guns and Roses“ ist der Treffpunkt für Ölarbeiter, Atyrau reich, weil hier Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer umgeschlagen wird. Um die Stadt herum stehen Riesentanks und Raffinerien. In der Steppe gibt es keine Bäume, keine Büsche. Sie ist voller Pipelines.
Durch Atyrau fahren große SUVs. Es gibt viel Marmor, viel Glas, Hochhäuser, die Las Vegas imitieren und richtig breite Straßen. Über den Schaufenstern steht Armani, Max Mara, Mango, Adidas, Esprit. Ich bezahle das Sprite, sag dem Barkeeper, dass ich in den nächsten Tagen wiederkommen werde und: Frag bitte einfach mal rum. Wie ich es in den anderen Kneipen auch gemacht habe.
Der Wagen, den ich hier verkaufen muss, ist ein VW Sharan, 1.8 5V Turbo Family, blauer Lack, tiefergelegt, getuntes Sechs-Gang-Getriebe, Baujahr 2001. Ich muss ihn verkaufen, weil ich heim will. Zuhause hätte ich 2000 Euro für gekriegt. Ich dachte, hier in Kasachstan gibt es mehr. Aber habe inzwischen kapiert, dass ich wegen der illegalen Einreise mit dem Wagen jetzt mit einem großen Problem, das mich viel Geld kosten könnte, in der Steppe stehe.
Es ist der Vormittag desselben Tages, als Tatyana in ihrem Büro am Rand der Stadt an dem großen Schreibtisch sitzt und telefoniert. Sie ist angestellt bei einer deutschen Firma, die als Dienstleister den großen Ölkonzernen zuarbeitet. Tatyana, hübsch, Damenhaft, biestig und etwas von oben herab, ist die Fachfrau für Zollangelegenheiten dieser Firma. Die holt viele Ölbohrköpfe ins Land und hat deshalb viel mit dem Zoll zu tun. Tatyana kennt die richtigen Leute.
Sie legt auf und sagt: „Du hast ein Problem. Das Auto kannst du hier nicht verkaufen. Das wäre illegal. Da ist nichts zu machen.“ Nach mehr als 4000 Kilometern von Hamburg durch Polen, die Ukraine, Russland nach Kasachstan? Übel. Ich muss den Wagen verkaufen, weil … Es gibt viele Gründe: Die Strecke von Astrachan in Russland nach Atyrau in Kasachstan, immer entlang am Nordufer des Kaspischen Meers war so übel dass ich sie nicht zurück fahren will. Ein Bad im Schlaglochmeer. Noch einmal über diese Pontonbrücken im Wolga-Delta? Die vermittelt das Gefühl, auf Schienen zu fahren. Und gleich kommt Gegenverkehr. Muss nicht sein.
Nicht noch mal so einen Grenzübertritt. Von der Ukraine nach Russland dauerte es vier Stunden, bevor ich östlich von Lugansk um Mitternacht auf die andere Seite, die russische des Stacheldrahts kam. Inzwischen gibt es wahrscheinlich gar keinen Weg mehr durch den Osten der Ukraine.
Die Grenzer behandelten mich schon auf dem Hinweg als wäre ich unterwegs um illegal ein Auto zu verscheuern. Sie hatten Spaß dran, diesen Typen aus dem Westen zu demütigen. Anfangs gab es Formulare nur mit kyrillischen Buchstaben. Irgendwann murmelte mir ein Usbeke, der einen kleinen Peugeot über die Grenze bringen wollte, auf Englisch zu: „Nicht lächeln, du musst Demut zeigen.“ Fiel mir leicht, nachdem ich zum achten Mal zugeschaut habe wie ein Uniformierter das von mir ausgefüllte Formular in zwei Teile zerriss und mir ein neues gab, in zweifacher Ausfertigung.
Vier Polizeikontrollen habe ich über mich ergehen lassen. Vier mal ist nichts passiert. Aber: Diese Paranoia, diese Vorurteile im Kopf sorgen dafür dass jedes Mal der Gedanke aufblitzt jetzt bist du dran! Es ist nie etwas passiert, die Polizisten waren freundlich. Wollten immer nur das Zollpapier sehen, und den Namen darauf mit dem im Pass vergleichen. So haben sie überprüft, ob der Sharan nicht ein geklautes Auto aus Deutschland ist. Was er nicht ist, nur eine alte Karre.
Das Baujahr ist das Problem, erklärt Tatyana. Seit zwei Jahren gibt es die Zollunion Russland-Weißrussland-Kasachstan. Die erlaubt nicht, dass alte gebrauchte Autos nach Kasachstan eingeführt werden. Früher war es normal, dass Deutsche mit ihren alten Autos kamen, um noch ein paar Euros zu machen. Jetzt geht das nicht mehr. Offiziell.
Tatyana schüttelt den Kopf. Wäre das Auto neuer, sagt sie, „könntest du den Zoll nachzahlen, 40 Prozent des Neuwerts“. Das wären 11200 Euro. Tatyana lächelt mitleidslos. Hinzu käme: Beim Grenzübertritt von der Ukraine nach Russland habe ich „Transit“ eingetragen in die Formulare des russischen Zolls um die 40 Prozent des Neupreises zu vermeiden. Die Beamten in den Containern westlich von Wolgograd haben eine Datei angelegt mit meinem Foto, Kopien meines Passes und meines Visums und dem Formular, das ich ausgefüllt habe für das Auto. Immer wieder wiederholt Tatyana die drei Gründe, warum ich den Sharan nicht verkaufen könne: Transit steht in den Papieren, das Auto ist zu alt und egal, was ich mache, da ist noch der Zoll.
Ich frage Tatyana vorsichtig, ob es andere Wege gebe? Kasachische? Zentralasiatische? Postsowjetische? Sie schaut gespielt entsetzt. Natürlich keine illegalen Wege, aber einfach einen, der aus diesem Problem herausführt. Tatyana lächelt und wählt die nächste Nummer. In der folgenden Stunde führt sie fünf Telefonate mit Leuten im Finanzministerium, beim Zoll und bei der Polizei. Dann mit wem anders beim Zoll und noch mit einer Nummer in Russland. Am Ende sagt sie „Für das Auto gibt es nicht mal einen illegalen Weg. Du musst heimfahren.“
Zu Tatyana kam ich über Gulmira und zu Gulmira über den deutschen Honorarkonsul. Den hatte ich angerufen und angelogen: Ich habe ein Auto verkauft, für das ich keine Zollpapiere hatte, habe ich ihm gesagt. Er: „dann sind sie jetzt ein Kleinkrimineller. Das war absolut illegal.“ Ja, klar, das weiß ich inzwischen, ich habe nun mal eine Dummheit gemacht. Wie komme ich aus dieser Lage wieder raus? Der Honorar-Konsul, ein Deutscher aus dem Ölbusiness, sagt, „ich gebe ihnen eine Telefonnummer, rufen sie da in einer halben Stunde an, die Frau kann ihnen vielleicht helfen. Wenn das wer kann in Zentralasien, dann sie. Ich kündige sie an.“
Gulmira, eine Juristin, hört sich alles an im Foyer des Hotels Renaissance in dem ich rumlungere weil es dort kostenloses WLAN gibt. Ich lebe am Stadtrand in einem Hotel mit vielen kleinen Tieren. Nachts tanzen die in der Duschwanne, ziemlich laut. Das Hotel Renaissance aber hat fünf Sterne und ist voller stiernackiger Amis, die hier auf den Öl- und Gasfeldern arbeiten. Gulmira kapiert sofort, dass ich das Auto noch nicht verkauft habe, es aber machen will und wiederholt ständig: „Mach das nicht, fahr wieder heim“.
Um mich zu überzeugen, bringt sie mich zur Zollexpertin Tatyana über die große Brücke ins Büro auf der östlichen Seite des Flusses. Gulmiras Augen sind schmal. Sie ist klein, zierlich, hat schwarze Haare und eine gefährliche Ausstrahlung. Diese Frau kann hassen. Man muss ihr nur zuhören, wenn sie von ihrem Ex-Mann spricht, dann weiß man das. Das Büro liegt in einem Hinterhof auf dem viele weiße SUVs stehen. Mein Sharan ist das einzige vollgestaubte Auto.
Zwar kann ich mir das nicht leisten, aber nur mal als Notfallplan, wie wär es, wenn ich den Wagen einfach irgendwo in der Steppe abstelle und heimfliege? Tatyana schaut in meine Dokumente, die vor ihr auf dem Tisch liegen: „In sechs Wochen blinkt es am Bildschirm eines russischen Computers. Der Zoll sieht dann, dass du nicht mehr in der Zollunion bist. Das Auto aber schon. Sie werden nachschauen und erkennen, dass du mit dem Auto in Kasachstan gereist bist. Sie fragen den Zoll hier an und irgendwann kapieren sie, was du gemacht hast.“ Und wenn? „Du kommst auf die Interpol-Fahndungsliste.“
Nicht dein Ernst, Tatyana. Oder? Sie lächelt über den Tisch. Komm Tatyana, Du hast doch nur Spaß gemacht? „Nein“, sagt sie. „Vielleicht schicken sie eine Rechnung. Bestenfalls. Selbst wenn sie dich nicht suchen sollten, wirst du nie mehr nach Russland, Kasachstan oder Weißrussland reisen können. Vielleicht lassen sie dich ins Land. Aber wenn du wieder raus willst, musst du 40 Prozent des Neuwerts zahlen. Und Zinsen.“ Auch wenn du die Karre für 3000 Dollar verkaufe, sagt sie und schaut mies lächelnd aus dem Fenster zu dem Sharan hin.
In Atyrau fährt man ein SUV oder ein Luxusauto. Ich sehe an einer Kreuzung einmal einen Ferrari und immer wieder mal neue Porsche. Einen Maserati, einige Jaguars und viele große japanische SUVs, meist in weiß. Was bedeutet, die Besitzer waschen sie regelmäßig, denn hier in der Steppe ist eigentlich alles staubig.
Die Straßen, so habe ich erzählt bekommen, wenn ich das denn richtig verstanden habe, sollen nach Norden besser sein. Der Rückweg über Uralsk, Ufa, Samara, Saratov, Wolgograd, Moskau, Minsk, Warschau dürfte zwar viel länger aber auch einfacher sein, weil die russischen Straßen bisher immer gut waren auf dieser Reise. Und ich keinen Meter durch die Ukraine müsste. Nach Atyrau kam ich von Wolgograd über Astrachan um drei bis vier Tage Fahrt zu sparen. Was wichtig war, weil ich mit dem Transit-Visum nur sieben Tage in Russland sein durfte und ich drei Nächte in Wolgograd verbrachte, um mich zu erholen. Ich fuhr also die kürzere Strecke. So gelangte ich auf diese Straßen, deren Schlaglöcher zusammen so groß sind wie das Meer im Süden.
Tatyana, in sieben Tagen fahre ich doch nicht durch halb Russland. „Stimmt“, sagt sie. „Die Zeit reicht nicht. Du wirst noch ein Visum brauchen. Kostet.“ Sie lächelt. „Außerdem, Saratov, das ist so eine Stadt, die gilt als gefährlich. Uralsk auch. Viele Gangster.“ Ich merke, ihr Lächeln ist böse, sie ist auch auf diesem Gulmira-Trip, den es in Russland und seinen Satelliten-Staaten oft gibt: Blöde Männer brauchen kluge Frauen, um hier durchzukommen. Du solltest demütig sein, Junge.
Die Strecke von Astrachan hierher mit den toten Kühen links und rechts in der Steppe, die ihre Beine senkrecht hoch strecken zum Mond - und da war auch noch Vollmond - die will ich nicht noch mal fahren. Auch nicht mehr auf der Straße stehen, durch die Frontscheibe auf dieses riesige Kamel starren, das drohend Kontakt sucht. Quasi ein Kamelüberfall. Will auch nicht noch mal Reifen wechseln nach einer Schlaglochpolka. Nicht noch mal auf fünfzig Kilometern etwa 30 ausweidete oder ausgebrannte Auto am Rand stehen sehen. Da war der Laster auf der falschen Straßenseite, der ein Rad verloren und mit dem Ende der Achse den Asphalt etwa zehn Zentimeter tief aufgekratzt hatte, die Narbe in der Straße war hundert Meter lang. Diverse Achsenbrüche, die ich bestaunen konnte. Der Tankwart mit dem Revolver im Halfter an der Hüfte und diesem Tatyana-Lächeln, der sich auf meine Kosten noch einen kleinen Kanister füllt. Ich will einfach nicht mehr zurückfahren.
Also ins „Guns and Roses“. Und ins „Hugos“ und in diese namenlose Pizzeria in Agip City. Das Viertel heißt so, weil zu Beginn des Öl-Booms Agip hier die höchste Welle ritt. Agip wurde inzwischen aber von ENI geschluckt. Außerdem wurde ein Konsortium mit Chevron Nummer Eins in Kasachstan. Die amerikanischen Ölarbeiter leben im Renaissance für 360 Dollar die Nacht oder in Gated Communities. Das heißt, in Häusern mitten in der Stadt mit hoher Mauer drum herum und bewaffneten Wächtern an den Toren. Mit Spiegeln an Stangen schauen sie unter jedes Auto, das reinfährt.
Die Amis sind Klischee. Kompakte, stiernackige, laute Männer mit dicken Bizepsen. Die haben sie nicht aus dem Fitnessstudio sondern von harter Arbeit. Sie setzen täglich fünf bis sechs Meter lange Stahlstangen senkrecht in die Vorrichtungen, damit die den Bohrkopf tiefer in die Erde rammen. Diese Muskel-Männer dürfen nicht alleine einkaufen gehen, sie dürfen auch nicht Auto fahren. Das steht in ihren Arbeitspapieren. Wenn sie ins „Guns and Roses“ kommen bringt sie immer ein einheimischer Fahrer der sie auch Heim fährt. Die Amis werden wohl kaum einen Gebrauchtwagen kaufen.
Der Sharan hat gelitten auf dem Weg hierher durch die Steppe. In Charkiw in der Ukraine fuhr mir ein Taxifahrer hinten drauf. Er hatte Angst vor der Policia, ich keine Zeit, er nahm 200 Euro und war sofort weg, obwohl die Front seines Autos wirklich schlecht aussah. Der Sharan hat eine Macke in der Stoßstange. Hinzu kommt: in der Felge vorne rechts ist eine Riesendelle. Seit dem besonders tiefen Schlagloch kurz vor Ganyushkino in dunkler Nacht nach dem Grenzübertritt nach Kasachstan fehlt vorne ein kleines Teil der Verkleidung. Die hinten hing schon zweimal runter, ließ sich aber problemlos festdrücken.
In Kasachstan ist das Benzin billig, wird immer billiger je weiter ich nach Osten komme. Die letzten Male habe ich für umgerechnet 50 Cent getankt. Aber es gibt meist nur Benzin mit 92 Octan. Der Sharan fährt noch, klingt aber nicht mehr so gut. Anfangs hat er gehustet, inzwischen würgt er manchmal. Zwei Mal ist er während der Fahrt ausgegangen. Er beschleunigt nicht mehr so wie am Anfang.
Was ist das Auto noch wert? Die Schwacke-Liste kann nicht wirklich helfen. Die Website sagt: Für Autos, die vor 2002 zugelassen wurden, können wir keinen realistischen Preis mehr sagen. Wenn ich das Auto zwei Jahre neuer mache, kommen 3150 Euro raus. Der Libanese in Hamburg, der mir ein Visitenkärtchen an den Scheibenwischer geklemmt hatte, wollte nach Stunden harten Verhandelns 2000 Euro bezahlen. Der Gebrauchtwagenhändler ein paar Straßen weiter sagte, kein Interesse, null. Als ich ihn bat, mir einfach eine Hausnummer zu nennen, schüttelte er den Kopf, brummte: „wird schwer, das Auto überhaupt zu verkaufen“.
„Guns and Roses“, kurz vor Mitternacht. Ron, der Ölarbeiter, mit dem ich mich am Vorabend unterhalten habe hat seinen Kopf schon auf der Theke gelegt und schläft. Ein anderer sieht mich, ruft viel zu laut: „Hey, der Verrückte.“ Der Typ aus Gera, der in Saratov lebt und hier wochenweise arbeitet, sagt: „Ich werde dich nicht im Knast besuchen.“ Der Barkeeper sieht mich, hebt den Daumen. Ich setze mich an einen Tisch zu zwei Ölarbeitern. Die erklären mir noch mal ganz genau, dass ich hier nie ein Auto verkaufen kann. Sie benutzen Worte wie Öl-Boom und Reichtum, sagen: „Hier will niemand Gebrauchtwagen. Das war mal.“
Da steht plötzlich ein Mädchen am Tisch - eine der Bedienungen. Klein, hübsch, dunkelhaarig, hilflos. Sie sagt, ihr Bruder würde gerne das Auto anschauen. Ich mache mit ihr eine Probefahrt durch Agip City. Danach ruft sie ihren Bruder Oleg an. Eine Stunde später ist der mit vier Freunden in der Bar. Wir versuchen zu reden. Wir gehen raus. Sie schauen unter die Motorhaube, ich zeige ihnen die Zentralverriegelung, die ihnen sehr gefällt. Der Kilometerstand 161 724 interessiert sie überhaupt nicht. Ich fahre Oleg und zwei der Jungs durch Agip City.
Wieder ins „Guns and Roses“. Lange verhandeln. Ich fordere 4000 US Dollar, Oleg und seine Freunde bieten 1000 Dollar. Wobei wir uns kaum verstehen. Einer kann ein paar Worte deutsch, ein anderer etwas Englisch. Das größte Verkaufsproblem ist ihre Angst, dass ich ihnen ein gestohlenes Auto andrehe. Dagegen fürchte ich, dass sie mir Falschgeld geben. Jeder am Tisch wird mal laut. Jeder steht mal auf. Immer wieder kommen irgendwelche sylvester-stallonesken Öl-Männer und sagen: „Don’t do that, boy“ oder „Wouldn’t do that“. Ein besonders stabiler Typ sagte sogar: „That’s dangerous.“
Meine potentiellen kasachischen Kunden studieren die Papiere genau. Ich muss schwören, dass ich das Auto nicht morgen als gestohlen melde. Wir verhandeln weiter und erreichen den Preis 3000 US-Dollar. Am Nachmittag hatte ich Websites des deutschen Zolls studiert und mit einer Juristin hin- und her gemailt die sich auskennt. Sogar vom Renaissance aus eine Infostelle des Hamburger Zollamts angerufen. Ein Riesenakt. Ich habe gelernt, ich darf nicht zu viel Geld verdienen, sonst muss ich deutsche Mehrwertsteuer bezahlen. Probleme würde ich aber, wenn überhaupt, nur mit der Zollunion Russland-Weißrussland-Kasachstan bekommen. Die Frau vom Zoll sagt ihre Kollegen hätten „höchstwahrscheinlich“ wichtigeres zu tun als einem verkauften Auto, Baujahr Anfang des Jahrhunderts, hinterher zu recherchieren. „Höchstwahrscheinlich“ macht mich etwas nervös. Aber …
Die fünf Kasachen und ich, wir gehen wieder raus, ich nehme die Nummernschilder ab. Wieder rein. Sie geben mir die Dollars. Ich zähle langsam und reibe die Scheine. Scheinen echt zu sein. Damit komme ich heim. Wir schütteln die Hände, während wir erneut rausgehen. Die fünf Jungs setzen sich ins Auto. Sie hupen und fahren los ohne Nummernschilder. Zwei Polizisten, die gerade die Papiere betrunkener Teenager kontrollieren, schauen her. Scheint sie nicht zu interessieren.
Zwei Tage später nehme ich den Zug nach Moskau und fahre 38 Stunden in Eiseskälte, anfangs ohne Heizung. Am zweiten Tag hält der Zug kurz auf freier Strecke. Zwei Schaffner steigen mit Beilen aus, fällen eine Birke und hacken die in meterlange Stücke. Ab jetzt gibt es Heizung. Ein kleiner Ofen füttert Rohre, die durch den Wagon gehen, mit Wärme. Die Suppe im Speisewagen schmeckt. Eine Gruppe aus Usbekistan zwingt mich, mit der orientalischen Köchin zu tanzen und viel Wodka zu trinken. In Moskau lungere ich 14 Stunden auf dem Flughafen Domodedovo rum und atme erst wieder richtig, als ich im Flugzeug sitze. Dem Zoll war ich völlig egal.
Hab ich was vergessen? Ja, klar. In kasachischen Supermärkten gibt es Milch mit 4,5 Prozent Fett. Schmeckt toll. Und Stutenmilch, die konnte ich nicht trinken, zu sauer. In Hamburg bin ich zur KFZ-Meldestelle das Auto abmelden. Den Fahrzeugbrief hatte ich noch, den Schein hat Oleg. Die Fotos der zerbrochenen Nummernschilder wirkten nicht. Musste eidesstattlich versichern, dass ich nicht weiß, wie Oleg heißt und wo er wohnt. Fiel mir nicht schwer.