Der Spitzel

Portrait
zuerst erschienen im Oktober 1999 in Spiegel Spezial Nr. 10, S. 94-101
Fassung des Autors

Zuerst kündigte Herbert Paschke beim Verfassungsschutz, kurz darauf auch seinen Arbeitsplatz als Kalkulator in der Logarithmenabteilung bei
Daimler-Benz, Werk Mannheim. Nach zehn Jahren als Spitzel wurde der Mann Staubsaugervertreter.

Ein erfolgreicher Staubsaugervertreter, darauf legt er Wert: Nicht mal drei Jahre später, im August 1967, bekam er von der Firma Vorwerk die silberne Kobold-Nadel. Die gibt es für den Verkauf von 250 Elektrogeräten. Es folgte die goldene, die goldene mit Brillanten, kurz vor der Rente sogar die goldene Armbanduhr. Solche Beweise von Erfolg sind für Herbert Paschke wichtig. Die Kobold-Nadeln hat er mir dreimal gezeigt.

„Am Ende war ich immerhin Vorwerk-Vertriebsinspektor“, sagt er, als er sie über den Tisch schiebt, mit geradezu perversem Stolz, wie bei seinem Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse, „mit Schwertern, mit Schwertern“ oder seinem Ostkreuz. „Ostkreuz, das hieß bei uns Gefrierfleischorden.“ Herbert Paschke reicht mal wieder den Holzkasten mit Glasdeckel herüber. Wie immer sind vier Orden drin.

Er hat ein Doppelkinn, dünne, graue Haare, geplatzte Adern auf Stirn, Nase und Wangen, trägt eine leicht getönte Brille. Sein Gesicht ist käsig. Herbert Paschke hat nicht mal Farbe in den Lippen, wenn er innerlich kocht. Der alte Mann ist sehr dick, seine Ohrlappen sind sehr lang, seine Wut ist riesengroß. Oft wird er laut, meist, wenn er auf die Bundesrepublik, die Politiker, die Welt, das Leben, den Verfassungsschutz, auf Diehl, Hellmut Wollmann und Hans Filbinger, den früheren Regierungschef Baden-Württembergs, schimpft.

Er hat eine weiße Windjacke und einen weißen Rollkragenpulli mit Kaffeeflecken am rechten Ärme an, seine blaue Hose wird von einem Gummibund gehalten. An jeder Hand trägt er einen dicken Ring. Vor der Brust hängt sein großes goldenes Kreuz an einer goldenen Kette. Er sagt, er sei religiös. Aber nur einmal nimmt er das Wort Gott in den Mund: „Wenn Gott mir nicht diese geistige Frische gegeben hätte, die ich, so glaube ich, heute noch habe, hätte ich dieses Geld nicht zusammenbringen können.“ Er spricht über seine dreizehn Genossenschaftsanteile. „Die Wohnung ist quasi gekauft.“

Herbert Paschke ist 84 Jahre alt, residiert in seinem kleinen Wohnzimmer in einem großen Plüschsessel in Ladenburg. Der Sessel und Paschke gehören zusammen. Bei meinem dritten Besuch steht er auf und sagt: „Gehen wir kopieren.“ Während ich neben ihm durch das Kaff trotte und einen seiner vielen dicken Ordner trage, kommt mir der Spaziergang irreal vor: Ich sehe Herbert Paschke ohne seinen Sessel! Das kann nicht sein. So stelle ich mir einen Trip vor: Man nimmt etwas wahr, das man noch nie wahrgenommen hat, man traut der Wahrnehmung nicht, hat Schwierigkeiten sie einzuordnen.

Ein andermal, Wochen später, geht er in sein kleines Arbeitszimmer. Wieder erschrecke ich, als er aufsteht. Im Arbeitszimmer zeigt er mir Bilder, die an der Wand hängen: Paschke in Wehrmachtsuniform, Paschkes Vater in einer Uniform aus dem Kaiserreich, Kaiser Wilhelm, ein Pseudo-Kupferstichs von Königsberg hinter Glas. Paschke wuchs dort auf, er kommt aus einer Beamtenfamilie, alle in der Familie außer ihm waren Beamte, sein Vater starb im Ersten Weltkrieg, Paschke war kein Jahr alt. Auf dem Tisch steht die Torpedo, die Schreibmaschine, die der Verfassungsschutz zahlte. Auf der er all seine Berichte schrieb.

Paschke sagt feierlich: „Das ist sie, eine gute Schreibmaschine, tip-top. 1953 gekauft, einmal habe ich die Walze abschleifen lassen.“ Er mag die Schreibmaschine, hat oft von ihr gesprochen. Die Abdeckung ist verstaubt, ich nehme sie ab, die Maschine in beide Hände und drehe sie um, weil ich den Markennamen suche: „Torpedo Werke AG“. Ich drücke eine Taste und habe Angst, Herbert Paschke zu ärgern. Gleichzeitig hoffe ich, daß er sich ärgert. Er hat manchmal so seltsame, übertriebene Reaktionen.

Einmal, ich habe zu ihm gesagt, warum wundern Sie sich, daß Daimler sie los werden wollte? Die wußten doch, daß sie für den Verfassungsschutz gearbeitet hatten, kreischt er hysterisch: „Na und? Ich war zwei Monate vor meinem Zehnjährigen, dann hätte ich Anspruch auf Betriebsrente gehabt.“ Paschke schweigt minutenlang, brummt dann: „Alles Kriminelle!“ Ich spüre, er zählt mich dazu.

Ich darf diesen alten Spitzel nicht zu arg ärgern, zuerst muß ich seine Spitzelberichte gesehen haben. Er hat sie im Keller, holt sie aber nicht rauf. Die Berichte sind ein Schatz, den es zu heben gilt. Paschke hat jeden Tag Berichte geschrieben für den Verfassungsschutz. Jeden Tag. Seine Decknamen waren Kardinal, Faust und Dietrich.

„Ich war Agent, das kann man so sagen“, grunzt er in seinem Plüschsessel, „aus Überzeugung, für Deutschland. Ich hatte einen Kopf wie ein Eimer, abends auf Versammlungen, dann bis zwei an der Schreibmaschine. Und um sechs zu Daimler an die Arbeit.“ Mehr als 3000 Meldungen schrieb er für den Verfassungsschutz. Der wollte das Original und zwei Durchschläge. Paschke machte eine dritte Kopie für sich, verbotenerweise. Außerdem sammelte er alle
Anweisungen seines Führungsoffiziers, Tarnname Diehl. Das war natürlich auch verboten. Die Sachen will ich lesen. Herbert Paschke schrieb auch die Spitzelberichte seiner Frau Charlotte. Die konnte nicht mit der Torpedo schreiben, arbeitete aber auch ein bißchen für den Verfassungsschutz. Deckname: Smaragd.

In den 50ern machten Organisationen aus der DDR westdeutschen Arbeiterfamilien ein Angebot: In den Schulferien werden die Kinder in Landheimen an der Ostsee kostenlos betreut, die Eltern in Westdeutschland können problemlos arbeiten. Den Transport organisierte Smaragd im Raum Mannheim und meldete dem Verfassungschutz alle, die das Angebot annahmen.

Mit einem Druck lasse ich die Walze von ganz rechts nach ganz links rasen. Kling! Klarer Fall, ich will, daß er sich ärgert, und weil keine Reaktion kommt, drücke ich noch eine Taste, ganz sicher, daß das Paschke ärgern wird. Gleich nochmal, richtig fest. Ich werde mich rausreden. Weil Paschke, bei all seiner Hysterie, seiner Verrücktheit, durchaus normal funktioniert. Ich würde „Entschuldigung“ sagen, er würde akzeptieren, weil er wüßte, man kann niemandem einen Vorwurf machen, der eine Taste einer Schreibmaschine so mal drückt.

Keine Reaktion von Paschke. Ich drehe mich um. Er ist weg. Sitzt wieder in seinem Plüschsessel im Wohnzimmer. Die Wände um ihn herum sind voller Zierteller. Neben der Kommode stehen alte Spazierstöcke in einem Holzgestell an der Wand, überall liegen Zierkissen mit Spitzen und Borten. Die Ränder der Tischdecke sind mit roten Schleifchen versehen. Es muffelt leicht in der Wohnung, im Wohnzimmer nicht ganz so arg wie im Arbeitszimmer.

Auf dem Fernseher sitzt ein Porzellanengel, die Füße hängen ins Bild. Beim ersten Mal, als ich Paschke besuchte, lief eine amerikanische Soap. Der Spitzel schnappte sich die Fernbedienung und drehte den Ton ab. Er war nervös. Jetzt gilt es! Herbert Paschke muß der Welt klarmachen, wie schlecht sie ihn behandelt hat. Beispielsweise hat er keine Ansprüche auf Betriebsrente an Daimler-Benz, obwohl er fast zehn Jahre dort arbeitete.

Wiedermal mal kommt Smaragd ins Wohnzimmer, deutet auf die Porzellankanne mit dem Schaumstoff-Tropfenfänger am Ausguß und sagt mit ganz brüchiger Stimme: „Schenken Sie sich noch Kaffee ein, ich bin zu alt dafür.“ Sie zittert. Eine alte, zierliche, zerbrechliche Frau mit einem schönen Gesicht. Sie erzählt gerne von ihrem jeweils letzten Arztbesuch und schimpft auf die Mediziner. Die haben von nichts eine Ahnung. Als ich mal kurz vor Ostern komme, hat sie einen kleinen blauen Milkahasen auf meinen Platz, links auf der Couch, gelegt. Ich saß bei Paschkes immer dort, bei Paschkes läuft alles ritualisiert ab. Immer gleich.

Diesmal sagt Charlotte Paschke: „Essen sie noch ein Hörnchen, da ist noch eines mit Nußfüllung.“ Herbert Paschke, der seine Frau nicht besonders nett behandelt, redet einfach weiter: „Mein ältester Sohn schrieb seine Berichte selbst. Sein Deckname war Pinguin.“ Der stapfte in der Schule und in Jugendgruppen rum und meldete, was wer wann da so sagte.

Ich will die Spitzelberichte! Nach dem ersten Besuch wußte ich: Herbert Paschke wurde 1953 vom Verfassungsschutz angeworben, 1954 wurde er bei Daimler in Mannheim, mit Wissen der Geschäftsleitung, installiert, bis 1962 spitzelte er dort, 1964 kündigte er bei Daimler. „Ich bekam 480 Mark Gehalt und etwa das gleiche vom Geheimdienst als Salär, steuerfrei. Und Spesen. Der Vertrag hatte eine Geheimhaltungsklausel. Mein Deckname war Kardinal. Berichte in dreifacher Ausfertigung.“

Aber Kardinal machte diesen zusätzlichen Durchschlag. Das Zeug liegt in seinem Keller. Nur wenn ich die Berichte sehe, könne ich ihm trauen, es gehe um seine Glaubwürdigkeit, sage ich ihm. Er verspricht, mir beim nächsten Mal ein paar zu zeigen. Tut dann so, als hätte er vergessen, was er gesagt hat. Doch irgendwann mal liegt ein zusätzlicher Ordner auf der geblümten Tischdecke. Durchschläge. Dünnes Papier, vergilbt, die Buchstaben ausgebleicht und oft verschmiert. Die Blätter kleiner als Din-A-5. Er gibt mir drei:

Betr.: Herr Ernst, Mannheim, S4, 17 - Der o.G. ist nach Angaben von Eugen Straub, Mannheim- Mitglied der „DFV“ geworden.- Ernst ist Pächter des Lokals „Hoepfner-Stube“ Mannheim S4, 17-22.“

So Zeug war für den Verfassungsschutz interessant? „Alles“, sagt Paschke, „alles, ich sollte möglichst viel melden, auch Kleinkram.“

Betr.: Eduard Lannert, Mannheim, Rheinhäuserstr. 102 - Der o.G. äußerte sich gesprächsweise sehr abfällig über den Betriebsrat Alfred Dell, Lu’hafen. „Dell, der vormals Betriebsratsvorsitzender war, ist selbst schuld, daß er es nicht mehr ist,“ äußerte sich Lannert. Dell - ein Rückversicherer - und außerdem eine große Niete - Dell soll einmal geäußert haben: „Ich kandidierte einmal als kommunistischer Stadtrat in Lu’hafen, inzwischen bin ich aber von der Krankheit geheilt.“ In den Kreisen der Arbeiterschaft sei Dell gestrichen, sagte L.

Paschke sagt, „das müßte doch reichen“. Ich will mehr. Er nicht. Es ist nicht so, daß er sich schämt für das, was er tat. Nein, eindeutig nein. Wenn ich in die Richtung frage, antwortet er immer: „Wissen Sie, ich war ein Kind unserer Zeit.“ Oder: „Ich wollte verhindern, daß der Kommunismus den Fuß in die Tür bringt.“

Da er ständig über Geld redet, über Rentenansprüche, Abfindungen, Genossenschaftsanteile, da er Sätze sagt wie: „Ich wollte eine Sicherheit haben, das habe ich angestrebt“, glaube ich, er spitzelte aus Geldgier. Mehrmals höre ich von ihm: „Ich habe mein Geld ehrlich verdient.“ Oder: „Ich war bestrebt, mir den Lebensstandard zu geben, der mir vorschwebte für mich und meine Familie. Ich wollte Sicherheit, Anständigkeit und Sicherheit.“

Herbert Paschke hat bei unseren Gesprächen ein Ziel: Er will beweisen, wie übel ihm der Verfassungsschutz und Daimler-Benz mitgespielt haben. Politik und Justiz seien auch nicht besser. Keinen haßt er so wie Diehl, den er bei seinem richtigen Namen nennt. Aus presserechtlichen Gründen darf der Name hier nicht genannt werden. Diehl, schon lange tot, hat nämlich einen Sohn, der sich sonst bloßgestellt sehen könnte, sagen die Anwälte.

„Er war ein Schweinehund“, sagt Paschke über Diehl senior. Auch Hellmut Wollmann beschimpft er. Den Namen kann man problemlos schreiben. Hellmut Wollmann, selbst Paschke hat das inzwischen kapiert, Hellmut Wollmann, den gibt es gar nicht. Was ihm angetan wurde, ist wichtig, alles andere ist für Herbert Paschke Nebensache. „Es geht um Rehabilitation durch berechtigte Schadensersatzforderungen.“

Angeworben wurde Herbet Paschke im Bett. „Ich arbeitete als Desk Clerk im Schloßhotel Heidelberg für die Amerikaner. Die Arztwitwe Müller (Name geändert), die ich kannte, sprach mich an, fragte, ob ich für den Verfassungsschutz arbeiten wolle. Sie machte ein Treffen aus mit Diehl. Sie war eine gebildete Frau, wir
waren eine zeitlang liiert.“ Das war 1948 und 1949, da wußte Herbert Paschke nicht, ob seine Frau und die Kinder noch lebten. „Die holte ich erst später aus Thüringen.“ Frau Müller war eigentlich keine Witwe. Ihr Mann war in der SS ein höheres Tier gewesen und saß noch in britischer Gefangenschaft, sagt Paschke später. Als sie ihn ansprach im Auftrag des Verfassungschutzes, „muß es 1952 oder 1953 gewesen sein“. Paschke hatte in der Folge vor allem zu tun mit Diehl, seinem Führungsoffizier und mit „dem Briefträger, der die Verbindung hielt.“

Ich überrede ihn, mir beim nächsten Mal Anweisungen von Diehl zu zeigen:

Sehr geehrter Herr Paschke! Nachdem wir nun einige ruhige Tage hinter uns haben und in das neue Jahr eingetreten sind, glaube ich, daß es an der Zeit ist, daß wir wieder mit frischem Mut und neuer Kraft beginnen. Ich bitte Sie am Dienstag, den 10.1.1956 um 15.00 Uhr im Kaffee „Wasserturm“ zu sein.

Notiz (4110)
Kardinal
Bei Anforderungen von Filmstreifen durch die KP sollen nicht mehr die Namen des Films, sondern nur noch eine Tarnziffer angegeben werden. Ist dort über die Maßnahme etwas bekannt? Erkenntnisse hierüber sind zu berichten. Bitte Bericht bis 30.6.1956!

Haben Sie dazu was liefern können, Herr Paschke? „Keine Ahnung, weiß ich nicht mehr.“

Neue Ermittlungen!
1. -Unbekannter Mann, Bild hinten rechts, Aufnahme v. 25. Mai 56
2. -Herr Nickolaus, Mannheim, Erlenstraße
Personenbeschreibung: Etwa 1,75 groß, ca. 38 Jahre alt, schlanke Figur, von links nach rechts herübergekämmtes schütteres, schwarzes, lockiges Haar. Ermittlungen anstellen, wo er arbeitet, bzw. womit er sich beschäftigt.

Notiz (9632)
Kardinal
Betr.: Kurt Dittmann, Mannheim, Spelzenstr. 18, geb. 26.1.1920 in Oberheldrungen.
Wie bekannt wurde, soll der Obengenannte als Schlosser bei der Fa. Daimler-Benz, Werk Mannheim, arbeiten. Es wird um Überprüfung und Bericht gebeten. 8.10. P in Kenntnis gesetzt

Hatten Sie kein schlechtes Gewissen, Leute, die ihnen nichts getan haben, auszuhorchen? „Warum nein, ich war ein Kind meiner Zeit, das war eine andere Zeit.“

Fast zwei Jahre wurde Kardinal geschult, meist in den Hinterzimmern des Cafe Wasserturm in Mannheim oder des Cafe Kettermann. „Es kamen immer zwei, einer protokollierte, der andere erklärte, wie ich Berichte schreiben sollte. Ohne Meinung, ich sollte wie ein Automat alles zu Papier bringen, gefragt, gesagt, keine eigene Meinung.“ Zu der Zeit studierte Paschke Operngesang am Konservatorium mit einem Stipendium des badischen Staatstheaters. „Ich war lyrischer Tenor, hatte auch ein leichtes Repertoir für Auftritte und habe dafür kassiert. Ich habe einmal mit Anneliese Rothenberger gesungen. Wegen Daimler habe ich aufgehört.“

Er hat eine alte, verkratzte Platte mit Arien, die er, als Vertrauensbeweis, das macht er vorher klar, vorspielt. Spitzelberichte, pffff, die Platte ist das Privateste, was ich je von Paschke höre. Sie rauscht und knarzt. „Das bin ich.“ Warum haben Sie es nicht mit der Kunst versucht? „Ich wollte Sicherheit.“ Als Künstler Geld zu verdienen, das ist doch besser als für den Verfassungschutz zu spionieren? dränge ich mehrmals, bis er, um abzulenken, den Ordner rüberschiebt. Er weiß, den will ich unbedingt, mit dem würde ich nicht weiterfragen.

Das stimmt, ich blättere:

Betr.: Fritz Salm, Mannheim, Zeppelinstraße 33 - Der Og. erzählte gesprächsweise, daß Alfred Gerlach, Stuttgart, Person bekannt, sich für DM 20.000 im Odenwald ein Haus mit Grundstück gekauft habe, um sich dort von seinem Herzleiden zu erholen.- Gerlach hat vor, in seinem Haus auch Fremdenzimmer einzurichten und zu vermieten.- Außerdem will er sich auf seinem neuerworbenen Grundstück eine Hühnerfarm einrichten.- Seine Ehefrau soll die Farm und das Haus führen und leiten. Er selbst will weiter in Stuttgart tätig sein und nur über das Wochenende nach Hause fahren.- Salm berichtete weiter, daß auch Straub ähnliches vorhabe.-

Also Herr Paschke, das ist doch furchtbar banal, total uninteresant. „Ich sollte nur sammeln, nicht bewerten. Die Entscheidung, was wichtig ist, hatte ich nicht zu fällen.“

Kardinal den 19. März 1960
/60
A. Personen
1. - Eugen Straub, Mannheim-Waldhof, Freie Luft 12
2. - Willi Achstätter, Mannheim-Schönau, Tarnowitzerhof 3
3. - Herbert Paschke, Mannheim-Freudenheim, Hauptstr. 74
4. - Artur Rittersbacher, Weinheim, Leibengässchen 1
B. Sachverhalt
Straub, A1 hatte in seiner Privatwohnung am Samstag, den 19.3.60, zu 9.00 Uhr einige Personen eingeladen.- Die Obengenannten waren erschienen.- Gegen 10.00 Uhr erschien dann Fritz Salm. Es wird angenommen, daß er mit dem Friedrich Salm, Mannheim-Schönau, Königsberger Allee 102 identisch ist.-

Seinen Führungsoffizier Diehl beschreibt Paschke so: „1910 geboren, jugendlicher Typ, er war etwas kleiner als ich, 1,70 etwa, drahtig, dunkelhaarig, dunkle Stimme. Wir hatten ein gutes Verhältnis, er sah mich als loyalen Freund. Ich ihn auch, er hat mir ja die Stellen beim Verfassungsschutz und bei Daimler besorgt.“ Sie soffen zusammen. “ Diehl und der Briefträger hatten Vorlieben für Wiskey und Champagner. Der Briefträger war wild auf Frauen. Meine Tochter war zwanzig, ich habe sie ihm vorgestellt, er machte ihr Komplimente.“

Renate Gebhardt (Name geändert), geborene Paschke, lerne ich beim nächsten Besuch kennen. Sie kommt mit ihrem Sohn und bringt einen neuen Polstersessel für ihren Vater. Der ist skeptisch, läßt sich aber überreden und behält sich vor: „Wenn es mit dem nicht klappt, bringt ihr mir den alten wieder.“ Sie erinnert sich nicht an die Komplimente des Briefträgers, an den nur verschwommen, an Diehl gar nicht. Was ihr Vater machte, wußte sie, „ja, wir haben das mitbekommen: Papi arbeitet für den Verfassungschutz. Das hat uns nicht interessiert.“ Ihre Mutter und Ihr älterer Bruder auch. „Das ist so lange her.“

Paschke hat ein Bild vom Briefträger, aufgenommen im Cafe Wasserturm. „Ich habe einen Detektiv beauftragt, es heimlich zu machen. Das war, als ich den Verdacht hatte.“ Das abgegriffene Foto zeigt einen Tisch am Fenster, man sieht zwei Männer, keiner schaut in die Kamera. „Das bin ich, das ist er. Mit dem war ich per Du.“ Herbert Paschke holt ein kleines Stück Zeitungspapier aus dem anderen Ordner. Ein Foto aus dem Fernsehprogramm des Mannheimer Morgen Ende der 60er Jahre. Ein Schauspieler mit Hut und kariertem Jacket, ein Bild aus einem Krimi. „So etwa sah Diehl aus. Auch wenn er das nicht ist, so sah er aus.“

Daß Paschke einen Detektiv beauftragte, das Foto zu machen, ist für einen Typen wie ihn was besonderes. Er ist ein obrigkeitshöriger Deutscher, ein Mann voller Kadavergehorsam, der nie seinen Chef irgendwie in Frage stellen würde. Wir unterhielten uns einmal über seine Zeit als Soldat: Paschke schätzt, er habe „so etwa 30 Menschen umgebracht, ich war Soldat, es war Krieg, ich hatte eine Maschinenpistole.“ Er war in Rußland. Unteroffizier. Minus 40 Grad.

„Der Hauptmann sagte, ich solle das Dorf räumen. Mit sechs Soldaten und vier Hiwis. Wir jagten die Leute in den Wald. Eine Frau mit einem Säugling wollte nicht gehen. Der Hiwi übersetzte, sie habe Angst, sie würde im Wald erfrieren. Der Hauptmann sagte mir nicht: Eeschieß die beiden! Er sagte, da hinten sind Bombenkrater, fünf Meter tief. Nur das: Bombenkrater, fünf Meter tief. Wir brachten sie hin. Die Frau stand mit dem Säugling auf dem Arm am Rand. Ich habe meine Pi 38 gezogen. Sie hat verstanden, daß ich sie erschießen würde.“ Hätten Sie? „Was hätte ich tun sollen?“

Hätten Sie auch das Kind erschossen? „Ich weiß nicht, ich hatte den Befehl, das Dorf zu räumen.“ Hätten Sie geschossen? „Ich hätte müssen. Es war Krieg.“ Hätten Sie wirklich? „Ich mußte ja nicht, die Frau ging schließlich in den Wald.“ Und ist dort erfroren? „Vielleicht, aber da hatte sie noch eine Chance.“ Sie hätten also geschossen? „Ich war Soldat.“ Wenn Sie sich geweigert hätten, auf die Frau und das Kind zu schießen? „Ein anderer hätte es tun müssen, und ich wäre wegen Befehlsverweigerung dran gewesen.“ Aber es gab doch keinen klaren Befehl. „Schon, aber ich wußte, wie das gemeint war. Wie ein Befehl.“ Sie hätten den Hauptmann fragen können? „Es war Krieg, ich hatte einen Befehl.“

Nochmal erzählt er, wie es mit Daimler-Benz anfing: „Ich sollte in die Firma eingeschleust werden. Ich hatte mich bei der Familienausgleichskasse Mannheim beworben, hatte eine Zusage, aber es hieß, ich solle warten. Es dauerte eine Weile, dann sagte mir Erler, ich solle mich bei Daimler-Benz bewerben. Dann meldete sich Lind und lud mich zum Essen ins Schwetzinger Schloß. 11 Uhr Vormittags, der Direktor von Daimler-Benz werde kommen, kaufmännischer Direktor, glaube ich.“ Er nennt dessen Namen.

Dr. Günther Barié, seit 1958 kaufmännischer Direktor des Werkes Mannheim, von 1966 bis zu seiner Pensionierung 1973 leitete er Daimler-Benz Mannheim.
Er wurde mit „dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse des Bundesverdienstordens“ ausgezeichnet. Schon lange tot, teilt der Dokumentar des Konzerns mit.

Paschke war zuerst am Treffpunkt. „Da war keiner, das Restaurant war geschlossen, ein Bediensteter im Frack bat mich, ihm zu folgen, wir gingen zu einem Tisch, der mit Stoffwänden im Halbkreis abgeschirmt war. Für drei Personen gedeckt. Diehl, ich kannte ihn damals noch unter einem anderen Namen, kam zuerst. Dann der Direktor, er grüßte ‚Guten Tag, Herr … da hörte ich seinen richtigen Namen zum ersten Mal‘, Diehl stellte mich vor. Barié hat das Wort Verfassungsschutz nie in den Mund genommen. Er sagte nur, ich solle durch verschiedene Abteilungen laufen, um das Werk kennenzulernen.“

Diehl teilte ihm noch einmal mit, auf was zu achten sei: „Welche Ambitionen hat die Zielperson, welche Interessen? Trinkt er viel, was? Ist er für weibliche Einflüsse zu haben? Es hieß, sie werden in die Abteilung versetzt, versuchen sie mit dem oder dem in Kontakt zu kommen.“ Das im Schwetzinger Schloß war kein Vorstellungsgespräch? „Nein, die Direktoren wußten, was ich mache. Der Briefträger und Diehl sagten mir, Daimler-Benz bezahle den Verfassungsschutz dafür, das würden alle großen Firmen so machen.“ Paschke war nicht allein. „Es gab einige von uns. Es gab untrügliche Merkmale. Wenn einer in mehreren Intervallen wiederholte: Das machen wir schon, oder: das kriegen wir schon hin, war klar, der arbeitet beim gleichen Verein.“

Wann hatte Herbert Paschke erstmals den Verdacht? „Ich weiß es nicht mehr, irgendwann wußte ich, Diehl und der Briefträger arbeiten für drüben. Maulwürfe, Doppelagenten. Ich hatte im Hinterkopf so kleine Mosaiksteinchen gesammelt.“

So wie ich Paschke einschätze, könnte das pure Hysterie eines braven westdeutschen, den Kommunismus fürchtenden Kindes seiner Zeit gewesen sein. Er bietet nur „Intuitionen“ oder „Mosaiksteinchen, die zusammengesetzt ein deutliches Bild ergaben“. Einmal habe Diehl im Rausch gesagt: „Ich habe dafür gesorgt, daß meine Zukunft gesichert ist.“ Zweimal war Paschke für den Verfassungschutz in der DDR bei Kongressen. Einmal habe einer zu ihm gesagt: „Ihr müßt nicht denken, daß wir bei euch keine Leute haben.“

Das ist zuwenig. Paschke lacht. „Glauben sie mir, es war eindeutig.“ Paschke kündigte beim Verfassungsschutz, als Grund gab er an: Ich wirke in meinem Umfeld nicht mehr glaubhaft. „Kurz darauf ging das bei Daimler los. Ich hatte gerade eine Gehaltserhöhung bekommen, plötzlich folgte eine Abmahnung. Grundlos. Ich wurde als Kalkulator mit falschen Daten gefüttert, natürlich waren all meine Ergebnisse falsch. Heute heißt das Mobbing, früher nannte man es Betriebsjustiz. Meine Wohnung wurde gekündigt, die nächste kurz darauf auch. Ständig waren meine Autoreifen zerstochen. Jeden Tag liefen die gleichen Leute dicht hinter mir her. Es war eindeutig Observierung plus.“

Ein Fachbegriff: Das plus bedeute, der Beobachtete solle merken, daß er beobachtet wird. Das soll einschüchtern. Deshalb schrieb Paschke den Brief. „Das war meine staatsbürgerliche Pflicht. Um die besondere Dringlichkeit klar zu machen, habe ich den Brief per Einschreiben geschickt.“ An den Innenminister Baden-Württembergs, Hans Filbinger. Den Brief haben wir kopiert, als ich Herbert Paschke erstmals außerhalb seines Plüschsessels sah:

Streng vertraulich! Mannheim, den 20. Juni 1964

Hiermit erlaube ich mir, den begründeten Verdacht vorzutragen, daß im Landesamt für Verfassungschutz Bad.-Württ. in Karlsruhe mindestens eine oder aber auch mehrere undichte Stellen zu sein scheinen! Zusammen mit dem jetztigen Amtmann Adolf Erich Lind, Karlsruhe, Leopoldstraße 41 und dem Krim.-Beamten Willi Erler, Karlsruhe-Durl., Pfinzstraße 20 habe ich mit meiner Familie immerhin 8 Jahre lang für die Sicherheit des Staates gearbeitet.- Seit rund einem Jahr jedoch zeigen sich gewisse Symptome, wie Verfolgung, Druck am Arbeitsplatz, Telefonüberwachung, sowie auch das Öffnen von Briefen und vieles mehr.- Alles hat sich zur schmutzigen Provokation gesteigert. Ich bitte um eine Untersuchung!
Hochachtungsvoll

Einige Wochen später wurde Herbert Paschke von zwei jungen Männern angerempelt. Er holte eine Sprayflasche aus der Tasche, „doch, doch, sowas
gab es damals auch schon. Ich sprühte ihnen in die Augen. Ich wollte einen Prozess, ich wollte, daß alles öffentlich wird.“ Gegen Paschke wurde wegen „Groben Unfugs“ ermittelt, aber es kam zu keinem Prozess. Doch er bekam eine Ladung zu einem psychologischen Gutachter. Er schwört: „Der fragte nur meine Personalien ab.“ Das Gutachten ist inzwischen verschwunden, es existiert nur Paschkes Kopie. Die hat er in einem Ordner mit acht Gegengutachten, die er auf eigene Kosten machen ließ.

Alle acht Gutachter sagen eindeutig: Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf eine neurologische oder psychiatrische Erkrankung. „Ich bin nicht verrückt. Das hätten die nur gern.“ In dem verschollenen Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts Mannheim steht: „Herr P. leidet an einer paranoiden Schizophrenie, evtl. bleibt seine Unterbringung in einer Nervenklinik nicht ausgeschlossen.“

Seine Theorie ist: „Der Filbinger hat meinen Brief dem Diehl weitergegeben.“ Und Diehl habe die ganze Maschinerie in Gang gesetzt. Paschke suchte Hilfe beim Verein zur Wahrung der Grundrechte in Heidelberg, schickte alles hin, was er hatte: Gutachten, Protokolle, die Kopie seines Briefes an Filbinger. Und hörte lange nichts. Dann kam dieser Brief, den Hellmut Wollmann unterschrieben hat:

Sehr geehrter Herr Paschke,

im Nachgang zu meinem Brief vom 24.11.1964 muß ich Ihnen eine Mitteilung machen, die für mich in höchster Weise peinlich und unangenehm ist. Es handelt sich um die Unterlagen, die Sie mir seinerzeit freundlicherweise überlassen hatten. … mußte ich zu meiner großen Verlegenheit feststellen, daß das
Kouvert, worin diese enthalten sind, vorerst nicht auffindbar ist. …
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Hellmut Wollmann

Als die Deutsche Telekom viele Jahre später ihre Komfortauskunft einführte, fragte Paschke alle Hellmut Wollmanns ab. „Es konnte da nicht so viele geben, Hellmut mit zwei ll, das ist selten.“ Paschke sagt, er habe drei Nummern bekommen. „Eine davon in Köln. Da hab ich angerufen und bin umgefallen.“ Er will damit sagen, er sei fast aus seinem Plüschsessel, neben dem das Telefon ja steht, gekippt. „Ich hatte die Zentrale des Bundesamts für Verfassungsschutz dran.“ Er wurde nicht mit Herrn Wollmann verbunden.

Also schrieb er an Herrn Hellmut Wollmann, Bundesamt für Verfassungsschutz, Köln. Die Antwort - bei uns gibt es keinen Hellmut Wollmann, bei uns gab es noch nie einen - hat ein Herr Wepper unterschreiben. Paschke schreit: „Schauen Sie die Unterschriften an, die Ws bei Wollmann und Wepper, das ist der Gleiche. Das war ein Staubsauger, der sammelte Probleme ein.“

Ich notierte mir die drei Wollmann-Telefonnummern, die Paschke von der Auskunft bekommen haben will und rief noch am gleichen Tag bei der Auskunft an. Es gebe nur zwei Hellmut Wollmanns, keinen in Köln. Ich rief Paschkes Kölner Wollmann-Nummer an und hatte die Zentrale des Bundesamts für Verfassungschutz am Apparat. „Tut mir leid, bei uns gibt es keinen Hellmut Wollmann. Ich könnte mal nachfragen, wenn sie mir Name und Nummer sagen, rufen wir zurück. Worum geht es genau?“ Der Rückruf kam nie. In den Kölner Telefonbüchern von 94 bis 97 ist kein Hellmut Wollmann. Es gebe die Möglichkeit, daß man nicht im Telefonbuch steht, aber bei der Auskunft abgefragt werden kann. Allerdings sei das heute nicht mehr nachzuprüfen. Die Dateien würden ständig erneuert, alte nie aufgehoben.

Da ich Paschke nie bei einer Lüge erwischt habe, beschloß ich, ihm zu glauben. Als ich das nächste Mal zu ihm kam, hatte ich das Gefühl, genug über ihn zu wissen, genügend seiner Berichte gelesen zu haben. Ich wollte mich nur noch mit ihm streiten, wollte ihn endlich mal Spitzel nennen. Smaragd, zitternd: „Schenken Sie sich den Cafe selbst ein, ich bin zu alt.“ Kardinal, laut, ahnend das es Krach gibt: „Ja glauben Sie etwa, heute ist das anders? Nur weil wir gewonnen haben?“ Ich hab mir dann nochmal die Kobold-Nadeln und die Orden angeschaut und bin gegangen.

1974 wurde ein Mann verurteilt, weil er für die Stasi gegen Bezahlung spioniert hatte. Der Name kann, juristisch gesehen, weil das Urteil so lange zurückliegt und sich niemand mehr daran erinnert, nicht genannt werden, er ist zwar tot, hat aber Verwandschaft hinterlassen, die die Nennung stören könnte. Er war Organisationschef der ÖTV-Hauptverwaltung in Stuttgart, der Mann hinter Hans Klunker. Bevor ihn die Polizei festnahm, wurde sein Telefon abgehört. Und einen Anruf von Diehl aufgenommen. Der warnte Faltermeier: Vorsicht! Irgendwas ist im Gange. Diehl wurde vom Dienst suspendiert, bekam Hausverbot beim Verfassungsschutz, wurde in Rente geschickt. Seitdem prozessiert Herbert Paschke, schleppt sich durch alle Instanzen, hat eine Verfassungsbeschwerde gestartet, mehrmals den Petitionsausschuß eingeschaltet. Alles vergeblich. „Ich habe 1964 gewarnt vor Diehl. Und was war der Dank? Ich wurde rausgemobbt, kurz bevor ich Anrecht auf Betriebsrente gehabt hätte. Zehn Jahre später war klar: Ich hatte Recht. Und nichts passiert.“