Leben und Tod in Nikel

Reportage
erschienen 1998 in Natur 4/1998, S. 30-42
Fassung des Autors
Die Stadt Nikel lebt vom Nickel, die Bewohner sterben daran. Das Erzkombinat ist der größte Arbeitgeber der Region Murmansk und der ärgste Umweltverschmutzer in ganz Russland.

Der Friedhof von Nikel: schwarze Grabsteine, mit grünen oder hellblauen Blechrohren umzäunt. Auf vielen ist ein Porträt der Toten graviert, junge Gesichter. Die Aufschriften einer Reihe:

Alexander Filatov, 22.7.62 – 31.1.95

Nicolai Beljak, 6.12.70 – 9.7.94

Vladimir Subanov, 1.2.61 – 8.7.91

Andreyi Achenjev, 4.9.64 – 14.4.95

Sergej Geratchov, 16.2.61 – 6.5.96

Roman Gorobitzin, 25.7.75 – 9.9.96.

Keiner wurde älter als 40.

„Ja, Wodka und Zigaretten bringen die Leute um“, brummt Igor Blatov, der Herrscher der Pechenga-Region. Er sitzt in seinem Saal hinter einem braunen, zehn Quadratmeter großen Schreibtisch, ein fleischiges Machtsymbol im weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, die Krawatte schnürt den dicken Nacken ein. Der Herr des Kombinats, des größten Nickelproduzenten der Welt, hat den Händedruck eines Gorillas.

Die Frage nach so vielen jungen Toten ist ein Sakrileg. Ein Mitarbeiter auf der Ledercouch blickt erschreckt auf, hüstelt verlegen. Der andere schaut blitzschnell zu Boden, und der Dolmetscher zischt. „Solche Fragen sind ungeschickt hier.“

Die Audienz ist beendet. Unvermittelt sagt Blatov, er habe keine Zeit mehr, ruft aber vom Schreibtisch zur bereits geöffneten Doppelflügeltür: „Ja, wir haben ein Umweltproblem. Schau dich um! Schlimm! Aber wir zahlen die Löhne. Wir müssen erst die ökonomischen Probleme lösen, dann sind die ökologischen dran.“ Er wird noch lauter: „Ohne das Kombinat gäbe es die Städte Nikel und Zapolyarnyi nicht. Wir füttern die Menschen hier.“ Ein letzter Blick auf den mächtigen Mann und das kleine gerahmte Ölbild an der Wand hinter seinem Schreibtisch: Birken am Rand eines Tümpels.

Ich war in 19 Wohnungen und Büros in Nikel und Zapolyarnyi, 16 der Räume waren mit Fototapeten dekoriert. Auf allen war idyllische Natur zu sehen. Meist Birken mit schöner weißer Rinde, saftig grünes Gras, allerbunteste Blumen, ab und zu Nadelbäume, einmal eine knorrige Eiche. Nur in den Büros von Igor Blatov und seinem Stellvertreter hängen andere Abbildungen von Natur: in Öl und mit Rahmen.

Nikel, eine Stadt in schwarzem Schnee, 22 000 Einwohner, nur Plattenbauten, sechs- bis achtstöckig, heruntergekommen, dreckig. Eine Stadt in Russland, beherrscht von drei großen Schornsteinen. 300 Kilometer nördlich des Polarkreises, 25 Kilometer zur norwegischen Grenze im Westen, 150 Kilometer nach Murmansk im Osten. Hier geht die Sonne nicht unter im Sommer, im Winter nicht auf. Rund um Nikel ist Wüste, im Umkreis von acht Kilometern gibt es nur tote Bäume. Dann tauchen kleine Birken auf. Je weiter man wegfährt, desto höher und dicker werden sie. An der norwegischen Grenze sind sie mannshoch.

Die einzigen lebenden Pflanzen, die ich in der Umgebung von Nikel gesehen habe, waren Kartoffeln, von Arbeitern neben dem Friedhof auf kleinen Äckern mit viel Kunstdünger hochgepäppelt. Man müsse sie kochen, dürfe sie auf keinen Fall braten, warnen staatliche Stellen.

Den Schnee bedeckt eine schwarze Staubschicht. Es gibt viele große, schwarze Flächen, aus denen krumme Telefon- und Strommasten ragen. Sonst ist da nichts, nur ab und zu ein schneefreier Fleck zerstörten braungrauen Bodens. Geia, ein kleine russische Umweltorganisation, hat im Frühjahr versucht, Gras zu pflanzen. Vergeblich. Wo man auch geht und steht in Nikel, sieht man die Schornsteine, die schwarzen Rauch spucken.  Der Wind zieht ihn auseinander und verschleiert den Himmel. Wenn es warm ist, verändern die Wolken ihre Farbe, manchmal leuchten sie orange. Der Schleier im Hintergrund ist dann hellgelb. Es stinkt nach Schwefel.

In Nikel und Zapolyarnyi produziert das Kombinat „Pechenga Nikel“ Feinstein, ein Vorprodukt, das weiter südlich in Monchegorsk zu Nickel verarbeitet wird. Nickel wird dann anderen Metallen zugesetzt, um zu verhindern, dass sie rosten. Die knapp 9000 Arbeiter von Penchenga Nikel bauen Erze über und unter der Erde ab und verarbeiten sie in mehreren Schmelzhütten.

Das Kombinat ist mit Abstand der größte Arbeitgeber der Region und der größte Luft- und Bodenverschmutzer Russlands. Es spuckt Unmengen von Schwefeldioxid aus, farbloses Gas, das bereits in kleinen Dosen Pflanzen schädigt, in höheren Konzentration Schleimhäute reizt, Lungen kaputt macht, Hautausschläge verursacht und im schlimmen Fall zum Tod durch Ersticken führt.

In Westeuropa sinkt der Ausstoß von Schwefeldioxid seit Beginn der achtziger Jahre, weil Kohlekraftwerke und Industrie per Gesetz verpflichtet sind, Filter einzubauen. Das giftige Gas, Hauptursache für den Sauren Regen, der Europas Wälder bis hinauf in den hohen Norden Skandinaviens schädigte, spielt als Luftschadstoff kaum noch eine Rolle. Die Grenzwerte der Europäischen Union, 80 bis 130 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, werden heute in Skandinavien und Deutschland weit unterschritten.

In Nikel nicht. Das Svanhovd Environmental Centre, dessen Mitarbeiter im norwegischen Svanvik, direkt an der Grenze, die aus Nikel herüberwehende Luft testen, haben zwischen Januar 1989 und September 1995 oft mehr als 1500 Mikrogramm Schwefeloxid gemessen. Die Spitzenwerte lagen knapp unter 2500 Mikrogramm. Eine Statistik der regionalen Gesundheitsbehörde zeigt: In den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der Toten im Bezirk Murmansk verdoppelt, in ganz Russland stieg sie im selben Zeitraum um ein Drittel.

Es gibt besonders viele Lungenkranke in Nikel. Kinder leiden überdurchschnittlich oft an Atembeschwerden, berichtet die Lokalzeitung. Zahlen nennt sie allerdings nicht. „Es gibt keine“, sagt Redakteur Jefgenij Marnchok. Olga Schochina, die 18 Jahre bei der staatlichen Umweltmessstelle Hydromet in Nikel arbeitete: „Wenn viel Schwefeldioxid ausgestoßen wird, schnellt die Zahl der Arztbesuche jedes mal drastisch in die Höhe.“ Sie wundert sich noch heute, „dass wir alle Zahlen von allen Stellen bekamen, nur keine Spezialstatistik der Sterblichkeit für die Pechenga-Region.“

Jury Suchin, Blatovs Stellvertreter, ist Technischer Direktor und fragt provozierend: „Sollen wir einfach zumachen?“ Er antwortet selbst: „Ohne uns wäre hier nichts.“ Dabei schnellen seine Hände in die Höhe und vollführen besitzergreifende Gesten. Er, der stolz darauf ist, sich im Kombinat hochgearbeitet zu haben, hat helle Flecken auf der Haut. Besonders auf der linken Hand ist ein großer, von Cortisonsalbe verursacht, einem Mittel gegen Neurodermitis. „Ohne das Kombinat wäre hier nichts, nichts, nichts.“ Jury Suchin sitzt unter dem Gelände in seinem Büro und lacht.

Am besten gefällt mir die Fototapete in Vladimir Tjejovs Büro. Er ist der Staatsinspekteur für Ökologie in Nikel und nicht da. „Krank“, sagt Andrej Trost, sein Mitarbeiter. Während er Kaffee holt, schaue ich durch das Fenster auf schwarze Wolken, dann auf die Fototapete: Nadelbäume, Moos, Sträucher, ein kleiner, sprudelnder Bach, die untergehende Sonne knallrot, und mitten hinein in die zwei auf vier Meter große Kunstnatur sind mit rostigen Reißnägeln drei Poster gepinnt: ein Tiger unter Palmen, ein Birkenwäldchen und ein riesiges Feld mit roten und gelben Blumen.

„Was das für welche sind? Keine Ahnung. Blumen eben“, sagt Andrej, während er die Tassen auf den Tisch stellt. „Wir kontrollieren, dass die Gesetze für Umweltschutz befolgt werden. Wer Natur verbraucht, muss in die Fonds zahlen. Es gibt 35 Naturnutzer in der Region, das Kombinat ist größer als die anderen 34 zusammen.“ Umweltprobleme? „Kann man nicht leugnen.“ Er ist 32 Jahre alt, sieht aus wie 40, hat Flecken im Gesicht, ist dick und stöhnt erbärmlich, als er sich hinsetzt. Immer wieder hustet er. Gesundheitsprobleme? „Nein, nein, ich bin jung, keine Probleme.“

Hier sterben so viele Leute in seinem Alter. Warum geht er nicht weg? „Wohin? Warum? Mein Vater hat 30 Jahre direkt am Schmelzofen gearbeitet, er ist heute 70 und lebt. Es gibt keine Statistik, die belegt, dass die Leute hier früher sterben.“ Ist sein Vater im Altenheim? „Nein, nein, in Nikel gibt es kein Altenheim. Es gibt hier nicht so viele alte Menschen?“ Warum so wenig alte Menschen? „Keine Ahnung, wahrscheinlich Wodka, Zigaretten, schlechte medizinische Versorgung, könnte auch sein, dass die Alten wegziehen.“

Was zahlt das Kombinat als Naturverbraucher in die Umweltfonds? „Das weiß Veronika besser, aber ich glaube 40 Milliarden Rubel pro Jahr.“ Das sind nicht ganz zwölf Millionen Mark.

Veronika sitzt im Zimmer nebenan, hinter dem Fenster die drei Schornsteine und die schwarze Wolke. Veronika hat ein Birkenwäldchen auf ihrer Fototapete, zwei Töpfe mit Plastikblumen auf dem Schreibtisch und daneben ein leeres Terrarium. Dreimal hat sie Mäuse in Murmansk gekauft und ins Terrarium gesetzt. „Hat irgendwie nicht geklappt, wohl wegen der Luft hier.“ 40 Milliarden Rubel pro Jahr, reicht das? Sie lacht. „Das ist die offizielle Zahl. Letztes Jahr hat das Kombinat 140 Millionen davon gezahlt.“ Knapp 42000 Mark.

Kombinatschef Igor Blatov hatte zackig und übertrieben laut mitgeteilt: „Zahlen sind Betriebsgeheimnis. Keine Umsatzzahlen. Kein Gewinn. Keine Produktionszahlen.“ Und auch keine zum Schwefeldioxidausstoß. Ab 1000 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft riecht es schwefelig. Als ich in der Pechenga-Region war, roch ich immer Schwefel.  Fünf Tage und Nächte.

Folgende Horrorwerte hat die Umweltbehörde der Region Murmansk, in  der die Pechenga-Region liegt, mir auf Anfrage mitgeteilt: 1985 habe das Kombinat 365000 Tonnen Schwefel ausgestoßen, 1986: 325000 Tonnen, 1987: 346500 Tonnen. Danach lagen die Werte niedriger, weil die Nickelproduktion sank. Von 1988 bis 1993 wurden zwischen 254000 und 300000 Tonnen pro Jahr freigesetzt. Für 1994 und 1995 meldet die norwegische Umweltorganisation Bellona, die im russischen Murmansk ein Büro hat, einen leichten Anstieg auf jeweils 276000 Tonnen. Sergej Philipov von Bellona sagt, die Zahlen seien offiziell von russischen Behörden genannt worden. Ganz Skandinavien, also Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland zusammen, setzt nicht so viel Schwefeldioxid frei wie das Pechenga-Nikel-Kombinat.

Schuld hat vor allem das Erz, das auf dem knapp 2000 Kilometer entfernten Norilsk in Sibirien stammt. Zwischen 300000 und 350000 Tonnen in den vergangenen Jahren jährlich. Ende der Achtziger, als die Nachfrage höher war, kamen in manchem Jahr eine Million Tonnen über das Eismeer aus Norilsk. Für den Transport müssen von September bis März atomgetriebene Eisbrecher eingesetzt werden. Das nimmt das Kombinat in Kauf, denn das Erz aus Norilsk enthält mehr Nickel als das aus Nikel und Zapolyarnyi, aber auch viel mehr Schwefel.

Ein Besuch in der großen Schmelzhütte von Zapolyarnyi: Um zu den Öfen zu kommen, muss ich unter schwarzen Rohren mit fünf bis sechs Meter Umfang durch, die in drei Meter Höhe die schwarzen Gebäude verbinden. In die Mauern sind große Löcher gebrochen. Sie dienen als Tore und Lüftungen. Wolken dringen heraus.

Durch eine Maueröffnung sehe ich glühendes Metall, das aus einer riesigen Kelle im dritten Stock nach unten in ein Becken im Erdgeschoss fließt. Ich erkenne im Licht der Glut fünf Arbeiter mir rußschwarzen Gesichtern. Alle haben einen Schlauch im Mund. Es sieht aus, als würden die Arbeiter an einem Staubsaugerschlauch nuckeln. Das andere Ende des Schlauchs steckt in einer Blechdose am Gürtel, in der sich der Filter befindet.

Der Chef der Hütte, Vladimir Sabri, hat sein Büro in einem brüchigen, zweistöckigen Haus, das sich an den hohen Industriekoloss lehnt. Die Wände des Büros sind mit dickem rotem Leder gepolstert, die Fenster haben zwei doppelverglaste Scheiben und davor lichtdurchlässige rote Vorhänge. Dennoch dringen Lärm und Schwefelgeruch von außen herein. Sabris Büro war der einzige Raum, in dem ich weder eine Fototapete noch ein Ölbild mit einem Naturmotiv sah. Man könnte sie nicht auf dem Leder befestigen.

Sabri hat eine ungesund rote Gesichtsfarbe. Als erstes stellt er klar: „Ich weiß Bescheid über die Arbeit hier. Zu allem anderen kann ich nichts sagen. Wenn sie was über Umweltverschmutzung wissen wollen, schauen Sie sich doch einfach draußen um.“ Er nimmt einen Klammerhefter in die rechte Hand und streicht mit der linken mehrfach zärtlich über das Metall an der Unterseite, als würde er die glatte Fläche liebkosen. „Stahl“, sagt er, nimmt den Hefter in die andere Hand und streicht mit der rechten darüber.

„Das Ding hier ist acht oder neun Jahre alt.“ Er gibt mir den Hefter. „Makellos, kein Rost.“ Ich stelle den Hefter auf den Schreibtisch, der nimmt ihn in beide Hände. „Das macht Nickel“, sagt Sabri voll Stolz. Damit ist für ihn alles geklärt. Er ist dafür zuständig, dass Stahl nicht rosten muss, um den Rest sollen sich andere kümmern. „Teilweise geht Schwefeldioxid in die Atmosphäre“, bestätigt er. Wie viel? „Der größte Teil.“ 50 Prozent? „Mehr, viel mehr.“

Wieviel mehr? Er könne das nicht sagen. Was durch die Schornsteine rausgehe, sei nicht ganz so schlimm. Gefährlicher sie, dass viel durch die Löcher in der Decke oder in den Wänden nach draußen dringe, unkontrolliert und in Bodennähe. „Deshalb ist es draußen so neblig“, sagt Sabri. Ja, in der Schmelzhütte zu arbeiten, sie ungesund. Aber es gebe Lohnzuschläge. Dann sagt er das, was jeder Offizielle des Kombinats sagt: „Das Kombinat zahlt noch regelmäßig den Lohn, als einziger Betrieb in ganz Russland.“

1995 sollte die Schmelzhütte saniert und auf den neusten Stand gebracht werden. Verträge mit drei norwegischen Firmen waren unterzeichnet. Norwegens Regierung hatte mehr als 40 Millionen US-Dollar Zuschuss versprochen, die Russen sollten 200 Millionen Dollar zahlen. Einige Tage bevor die norwegischen Spezialisten über die Grenze kommen sollten, blies das Kombinat die Sanierung ab. Kein Geld! Im ersten Quartal dieses Jahres habe das Kombinat 82 Milliarden Rubel Verlust gemacht. Knapp 25 Millionen Mark.

In der Bank von Zapolyarnyi: Sie sieht aus wie ein übergroßer Container, der an einen sechsstöckigen Plattenbau geklatscht wurde. Drinnen drängen sich mindestens 150 Menschen. Keine zehn gingen mehr zusätzlich hinein. Die Leute stehen in langen verwinkelten Schlangen vor vier Kassen. Zahltag: Das Kombinat gibt umgerechnet etwa 750 Mark Lohn, 100 Mark mehr als die wenigen anderen Arbeitgeber der Region.

Alexander, 32, sitzt in seinem Wohnzimmer im sechsten Stock eines Plattenbaus und zählt seine Scheine. Er arbeitet im Tagebau und ist stolz auf seine Arbeit. „Sie ist hart.“ Dann: „Hier wird keine Umwelt zerstört.“ Er grinst. „Die ist doch schon kaputt.“ Als er das sagt, hustet Dennis, sein neunjähriger Sohn, in dem abgewetzten grünen Sessel, direkt unter der Natur auf der Fototapete.