Diamanten

Reportage
zuerst erschienen 2001 in The Mini International Nr. 1, S. 34-35
Fassung des Autors

Das hier fängt an wie eine Drogendealer-Geschichte. Lässt sich nicht vermeiden, weil immer wieder weisse Papiertütchen auftauchen. Gleich zu Beginn, in Didier Van der Lindens kleinem Büro in der Hovenierstraat in Antwerpen, liegen etwa fünfzig auf dem Tisch, zu kleinen Hügeln zusammengeschoben, einige einzeln, alle etwa drei auf fünf, sechs Zentimeter groß. Briefchen. Es dürfte etwa eine halbe Million Euro hier rumliegen. Didier trägt eine schwarze, ausgewaschene Jeans, ein graugrünes Poloshirt, er hat Krauselhaare und sich heute morgen gar nicht und gestern schlecht rasiert. Er, lebenslustig, kommunikationsfreudig, schnappt eines der Tütchen, wirft es in die Luft, fängt es und sagt dabei: „So wird das Zeug verkauft, wurde es schon immer, schrecklich, als wären es Drogen.“ Er lacht. „Na ja, hat große Ähnlichkeiten mit dem Kartoffelhandel gehabt, aber jetzt ändert sich was.“ Didier, 40, wirkt wesentlich jünger und ist Diamantenhändler, einer von 1500 in Antwerpen, der Welt-Diamanten-Metropole.

Das Diamantenbusiness war eigentlich immer eine Altherrenwelt, doch jetzt kommt der Umbruch. Didiers Firma, J&D Diamonds, hat ihr Firmenlogo auf die Briefchen drucken lassen. Bis vor kurzem nutzte J&D wie alle anderen nur weißes Papier. „Unser Logo drauf, das ist richtig neu, wegweisend für die Branche, denke ich.“ Er nennt es Marketing und geht ins Detail: seine Firma hat sich ein besonderes Schleifverfahren entwickeln lassen, es ist patentiert. Die Diamanten, die aus der Werkstatt hinter der schweren Stahltür kommen, sie brechen das Licht anders, sehen anders aus als andere Diamanten. So wie Nikes anders aussehen als Adidas oder Converse. Diamantenhandel ähnelt inzwischen dem Turnschuhhandel, es kommt auf das Markenprofil, das vor fünf, sechs Jahren noch völlig unwichtig war, an. Damals ging es um Steine, jetzt geht es um Marketing.

Didier schiebt Tütchen beiseite, um auf dem Schreibtisch Platz für seinen Ellebogen zu schaffen: „Das Internet hat die Welt klein gemacht, früher konnte man nur an einem Ort verkaufen, heute weiß ich, was in Indien, Japan oder China los ist, ich maile rum, kann Preise vergleichen.“ Diese Länder sind gerade die großen Märkte, da wird am meisten Geld verdient. „Marketing wird immer wichtiger, war früher egal, jetzt muss das alles nachgeholt werden.“ Sogar De Beers, der Koloss, hat das kapiert. Das ist die Firma, die lange ein Diamantenmonopol hatte, die überall Diamanten förderte, die alles aufkaufte und nur an etwa 150 sogenannte Sideholder, Zwischenhändler, weitergab. Das hielt die Preise stabil und hoch, De Beers verdiente prächtig, der Marktanteil lag oft bei um die 90 Prozent, inzwischen aber ist er gerade noch über 50 Prozent. Die Australier, deren Diamanten früher nicht gut genug waren für den Markt, haben als erste eine Werbekampagne gestartet und eine Nachfrage nach Champagne oder Cognac kreiert. Die australischen Steine sind nun mal dunkler und wegen des geschickten Werbefeldzugs plötzlich chic: Champagne und Cognac – neue Diamantenmarken. Die Kanadier zogen nach und prägen auf ihre Diamanten mit Laser inzwischen ein Polar Bear-Markenzeichen. De Beer macht jetzt auch mit, die Sideholder mussten gerade Verträge unterzeichnen, die sie zur  Werbung verpflichten.

Alles ändert sich: in Asien wird Diamantschmuck nicht mehr nur an reiche, alte Damen verkauft, die jungen, neureichen, markenverliebten Geschäftsleute verschenken Diamanten, nicht ganz so teure wie früher die Amis und Europäer, aber mehr und öfter. In den Ländern stimmen die Umsätze. Das wird auch nach Europa kommen, sagen alle in der Branche, die sich plötzlich doch verjüngt. Allerdings nicht überall. In der Hovenierstraat, nahe bei J&D, ist auch eine der vier Diamantenbörsen von Antwerpen. Die Hovenierstraat ist eine Art Fußgängerzone, gepflastert, nur ein paar gepanzerte Transporter stehen rum. An der Strasse sind nur Läden und Büros, die mit Diamanten zu tun haben. Diamantenschleifereien, Diamantenbroker, Diamantenbörsen, Diamantenbanken, Diamantenversicherungen, Diamantencafes, Cafes, in denen nur Diamantenleute sitzen. In Antwerpen arbeiten 30000 Menschen in der Branche, die meisten in der Hovenierstraat oder nahe bei.

Die Börse, rechts von J&D, an ihr wird mit Roh- und Industriediamanten gehandelt, hat einen schönen Parkettboden, ein großes Sicherheitssystem, wie alle Gebäude hier, sieht aber sonst aus wie eine Mensa. Die Nordwand ist aus schrägem Glas, weil man im  Nordlicht am besten Diamanten anschauen kann. An langen Tischen viele orthodoxe Juden mit schwarzem Hut und Schläfenlocken, andere mit Käppis und Vollbart, einige Inder und Chinesen, wenig andere Nationalitäten. Keine Frau. „This is a men’s world“, sagt Jenny Baeten vom Hohen Rat für Diamanten, der Dachorganisation der Branche in Antwerpen. Jenny, in den frühen Dreißigern, sehr quirlig und juvenil, darf rein, jeder kennt sie, sie gehört hierher, ist aber ein Fremdkörper. „Inwischen gibt es manchmal ein paar Israelinnen, die handeln. Werden die Girls genannt, sind so um die 40, 50.“ Hier im Saal, etwa 100 Männer und Jenny sind da, ist sie die jüngste. Beim Hohen Rat sei sie aber bei den älteren Mitarbeitern. Damit ist klar: die Diamantenbranche wird woanders jung.

Jenny zeigt, wo genau. Drei Häuser weiter, im Gebäude des Hohen Rats, hinter einigen Stahltüren mit Sicherheitsschlössern, für die man Codekarten, Zahlenkombinationen braucht, bevor man durch sogenannte Man Traps, Menschenfallen, kann. Das sind kleine Räume zwischen Sicherheitstüren. Die eine geht nur auf, wenn die andere zu ist. Dahinter sind massenhaft Diamanten, in der Grading-Abteilung. Hier wird der Wert eines Diamanten geschätzt und bestätigt, von jungen Augen. Ein großer Raum, was hier selten ist, denn jede Schleiferei, jeder Händler hat Platzprobleme, die Büros sind klein, alles eng, jede Treppe platzsparend steil. Nicht die Grading-Abteilung: auf zwei Stockwerken sitzen je vierzig Leute an Tischen, vor sich weiße Tütchen zu hunderten. Die Leute sind jung, Frauen eindeutig in der Mehrzahl. An einer Wand hängt ein Chippendale-Stripper-Plakat, die Jungs hatten mal einen Auftritt in Antwerpen. Halt, da ist noch eine große Metalltafel: Auf der ist zu lesen, dass am Dienstag 328 Steine reinkamen, 318 rausgingen, insgesamt 930 hier waren. Am Mittwoch kamen 338 rein, gingen 420, am Donnerstag kamen 323, gingen 350.

Überall liegen Tütchen. So viele Tests, so viele Gegenchecks, so viel Sicherheit, doppelt, dreifach alles, hier geht es schließlich um Millionen. Die Schätzer sind alle jung, kaum einer ist über vierzig. Wenn die Händler und Schleifer ihre Steine bringen, werden sie zuerst gewogen, auf fünf Stellen hinter dem Komma genau, Maßeinheit Karat. Ein Karat ist ein fünftel Gramm. Der Diamant landet im Tütchen und wandert durch zwei Stockwerke, tagelang, fast eine Woche dauert es, einen Diamanten zu bewerten. Jeder wird von drei Leuten auf Klarheit untersucht. Die drei kennen die Urteile der anderen nicht. Wenn alle drei zum gleichen Schluss kommen, ok. Wenn nicht, muss der nächste ran, bis zu acht Leute untersuchen einen Diamanten, nur auf seine Klarheit. Die Diamanten werden woanders im Raum mit Hitze aufgeladen, je nachdem wie schnell er heiß wird, bestimmt ein Sensor: echt oder nicht. Er kommt auf ein Plättchen, dessen Mitte blaues Licht abstrahlt. Schimmert der Stein bläulich: echt. Seine Farbe wird getestet, unter einer besonderen Lampe, er wird verglichen mit Mustersteinen. Alle fünfzehn Minuten machen die Tester Pause, die Augen brauchen die.

95 Prozent der Steine sind, sagen wir mal, weiß, obwohl, erklären die Fachleute entsetzt, weiß ist das falsche Wort, capes sei besser, sagt Jenny. Das hieße farblos, kristallen, mit einem leicht gelben Touch, je schwächer, desto teurer. Das Volumen des Diamanten wird gemessen, mit einer Kamera, nur der Umriss ist auf dem Bildschirm zu sehen, es geht um seine Proportionen. Mittelpunkte werden gesucht, Spitzen, Linien und, und, und. Ein Test nach dem anderen, noch ein paar dazu. Die Diamanten wandern durch Labors, wo Maschinen, die eine viertel Million Euro kosten, kontrollieren, ob Risse und Brüche künstlich verschönert oder gefüllt wurden. Wird ein Händler mit einem bearbeiteten Diamanten erwischt, verliert er seinen Ruf, ist an den Börsen gesperrt. Mehr Ärger kann es in Antwerpen nicht geben. Auf die Diamanten wird mit einem Laser das Logo des Hohen Rats gebrannt, manche Kunden wollen Koransuren dazu, Bibelzitate, das Profil eines afrikanischen Königs wurde schon draufgebrannt, andere bekamen den Namen von Frauen, das gehöre zum branding, werde immer wichtiger, sagt die junge Frau an der Lasermaschine.

Nach fünf Tagen hat der Stein eine Urkunde, die auf Mikrofilm mit dem Stein in einen kleinen durchsichtigen Plastikbehälter verschweißt wird. Öffnet man den, zerstört sich das Zertifikat als wäre das eine Episode in einem Bond-Film. Ohne Zertifikat ist der Diamant so was wie ein Stück Dreck, man kann nicht mit ihm handeln dann. Früher war Vertrauen wichtig, heute ist es das Zertifikat.

Die Diamantenschätzer werden hier ausgebildet. Theorie, Praxis unter Aufsicht, erste eigene Tests, langsames Reinwachsen in den Job. Der Hohe Rat für Diamanten wächst schnell. Vor ein paar Jahren arbeiteten hier 150 Leute, inzwischen sind es 300. Angestellt werden junge Leute mit guten Augen. Und ein paar neue Marketing-Experten. Wir sind inzwischen eine Promoting Machine, sagt Jenny Baeten. Bald werden wohl alle Tütchen mit Logos bedruckt sein.