Immer mehr Plastikmeer

Reportage
zuerst erschienen 2014 in Fluter Nr. 52, S. 39-41
Fassung des Autors

Charles Moore war auf dem Heimweg. Er hatte an dem von Transpazifischen Yachtclub veranstalteten 4121 Kilometer langen Segelrennen von San Pedro in Kalifornien nach Honolulu auf Hawaii teilgenommen, nicht gewonnen und wollte zurück nach Long Beach. „Als ich vom Deck aus auf die Oberfläche dessen starrte, was eigentlich unberührter Ozean sein sollte, sah ich, so weit das Auge reichte, nur Plastik. Es war unglaublich, ich sah keinen einzigen freien Fleck.“ Moore, der Ozeanograf und seine Mannschaft hatten 1997 den Great Pacific Garbage Patch entdeckte. Schwimmende Plastiktüten, Plastikflaschen, Plastikfolien, Plastikhelme, Plastikplanen.

Eine Woche kreuzte Moore durch den Müllteppich. Danach gründete er eine Umweltorganisation, die Algalita Marine Research Foundation und versuchte, Aufmerksamkeit auf das Problem Müll im Meer zu lenken. Eine Zeit lang stand er dabei im Verdacht stark zu übertreiben. Moore wurde als Öko-Schreihals und Untergangsfanatiker abgetan. Immer wieder sagte wer, den von Moore beschriebenen Müllkontinent, zweimal so groß wie Texas, mitten im Ozean, den gebe es nicht.

Aber als Fakt blieb am Ende doch übrig, da schwimmt dieses Zeug. Was im Pazifik von Meereswirbeln und Strömungen durchs Wasser treibt, könnte wirklich doppelt so groß wie Texas sein und Texas ist doppelt so groß wie Deutschland. Inzwischen ist erwiesen, es gibt sogar fünf solcher Garbage Patches auf den Weltmeeren. Moore hatte nur das Größte entdeckt.

Das Müllproblem wurde ein paar Jahre nachdem Moore es entdeckt hatte, doch noch anerkannt. Institute, Stiftungen, Organisationen, Bürgerinitiativen kümmern sich nun um das Problem Müll im Meer. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen: Fische fressen das Zeug, Vögel auch. Unklar ist noch, wie viel wirklich in den Ozeanen vor sich hin giftet. 142 Millionen Tonnen Plastikmüll seien in Meeren unterwegs, schätzen Experten des Bundesumweltamts 2013.

Allerdings: Die Zahlen der verschiedenen Studien, und es gibt eine verwirrende Menge davon, schwanken stark. Die NOAA, das steht für National Oceanic and Atmospheric Administration und ist, 1807 gegründet, die älteste wissenschaftliche Einrichtung der USA, teilt mit: Zuverlässige Zahlen gibt es einfach nicht.

Anja Krieger, eine Berliner Wissenschaftsjournalistin, sammelt alle Daten. Sie kennt inzwischen Millionen- und Milliardenzahlen. Oder andere Happen: 13.000 Plastikteile pro Quadratkilometer Meer oder 46.000 Teile pro Quadratmeile oder 40 pro Quadratkilometer? Alles da. Alles scheint möglich. Klar ist nur: jährlich werden auf der Erde 300 Millionen Tonnen Plastik produziert. Aber wie viel davon im Meer landet, weiß niemand. Dafür aber: 80 Prozent des Plastiks, das im Meer gefunden wird, stammt vom Land. Laut einer Greenpeace–Studie gelangt das meiste mit Abwasser ins Meer.

Der Rest fällt von Schiffen: Bei Sturm verlieren Frachtschiffe immer wieder mal Container, die auf ihrem Deck gestapelt sind und deren Haltebänder reißen, wenn der Seegang zu hoch wird. Es sind viele, aber genaue Zahlen gibt es auch hier nicht, weil es den Reedereien peinlich ist, dass sie Fracht verlieren. Die Container zerbrechen meist, wenn sie ins Wasser fallen. So landeten beispielsweise 1999 18.000 Nike-Sneakers im Pazifischen Ozean. Im Januar 2000 waren es weitere 26.000. Im Dezember 2002 noch einmal 33.000 Sportschuhe. Im Januar 1992 hatte ein Schiff südlich der Aleuten bei 44,7 Grad Nord, 178,1 Grad Ost, also nahe der Internationalen Datumsgrenze zwölf Container verloren. In einem war Plastikspielzeug, 28.800 gelbe Enten, rote Bieber, blaue Tauben, grüne Frösche, alle keine acht Zentimeter lang, in Fabriken im chinesischen Guangdong für amerikanische Badewannen produziert.

Mit den an Küsten angeschwemmten Schuhen und Enten haben Wissenschaftler Driftmodelle entwickelt. Und außerdem erkannt: 70 Prozent des Plastiks im Meer schwimmt nicht lange, sondern landet auf dem Meeresgrund. Allerdings bleibt wiederum nicht immer alles für immer unten. So tauchen seit einigen Jahren Legosteine an der Küste Cornwalls auf. Sie stammen von dem Schiff Tokio Express, das 1997 in einem Sturm vor der Küste gesunken war.

Was hilft? Die Sammelaktionen an Stränden, die inzwischen weltweit abgehalten werden, gelten eher als Möglichkeit, das Problem Plastik im Meer sichtbar zu machen. Lars Gutow, Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut für Polar und Meeresforschung in Bremerhaven: „das Wasser befindet sich in einem ständigen Austausch. Wenn man etwa bei Sammelaktionen am Strand an einem Ende ankommt kann man eigentlich gleich wieder von vorn anfangen.“ Aber natürlich würden Sammelaktionen Aufmerksamkeit für das Müllproblem schaffen.

Also muss schon früher etwas passieren, nicht erst wenn der Müll anlandet. Es gibt viele Versuche: 150 Gemeinden und Behörden in Ländern an der Nord- und Ostsee haben sich zu KIMO International zusammengeschlossen, die Abkürzung steht für eine skandinavischen Namen. Sie verteilt an Fischer Müllsäcke, in die sie ihren Plastik-Beifang legen und abliefern sollen. In einigen Häfen Nordeuropas gibt es dazu noch Sammelcontainer. In Deutschland kümmert sich der Nabu, der Naturschutzbund, um die.

Noch früher ran an den Plastikabfall will der inzwischen 20 Jahre alte Boyan Slat. Mit 16 Jahren hatte sich der holländische Schüler sich beim Tauchurlaub vor griechischen Inseln geärgert, dass er mehr Plastiktüten als Fische im Wasser sah. Er gründete sofort eine Stiftung, die Ocean Cleanup Foundation. Eine Zeitlang studierte er dann Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität in Delft und entwickelte mit 100 Helfern weltweit ein Cleanup Konzept. Dafür wurde er von der Chipfirma Intel als einer der 20 „most promising young entrepreneurs worldwide“ ausgezeichnet.

Gerade hat er sein Studium unterbrochen und eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, er sieht sexy aus, wirbelt elegant durch die Medien, wirkt wie ein Popstar. Alle scheinen ihn zu mögen. Ein paar Wissenschaftler hinterfragen ihn und nörgeln, aber, naja, der Junge schafft Problembewusstsein. So wie er ist. Basta. Zwei Millionen will er einsammeln und mit dem Geld anfangen, eine Methode zu entwickeln, mit der die Meere möglichst schnell plastikfrei gemacht werden können. Innerhalb kurzer Zeit hatten mehr als 25.000 Unterstützer 1,3 Millionen Euro bereitgestellt. Noch läuft die Aktion.

Die von Boyan Slat und seinen Mitarbeitern in der Theorie entwickelte Methode sieht vor, dass vor sich hin treibende Trichter Plastik im Meer einsammeln. Er hat ausgerechnet: So könnten innerhalb von 10 Jahren 42 Prozent des Mülls von der Meeresoberfläche eingesammelt werden. Das würde, so die Schätzung in der mehr als 500 Seiten dicken Erhebung Ocean Cleanup Array, nur 317 Millionen US-Dollar kosten.

Wichtig sei: Keine Netze, um Fische nicht zu behindern. 20 schwimmende Sperren, die am Meeresboden verankert sind, würden reichen. In die würde die Meeresströmung Plastik treiben und an der Sperre entlang in einen Trichter schieben, wo der Abfall eingesammelt werden könnte. Was an Energie dafür benötigt werde, könnten Solarzellen auf dem treibenden Müllsammler liefern. Dabei wäre es besonders wichtig zu wissen, welche Strömungen Abfall wohin treiben lassen. Bisher gibt es diese Daten, trotz der Sportschuh- und Quietschentenerhebung nur als Computersimulation und noch ist das Ocean Cleanup Array nur ein Plan, ein unter Fachleuten umstrittener dazu.

Doch selbstbewusst verkündet Boyan Slats Initiative bereits: „Wir haben bewiesen, dass das Konzept wahrscheinlich eine Methode ist, um fast die Hälfte allen Plastiks des Nord Pazifik Garbage Patches in zehn Jahren zu entfernen.“ Das sei 7900 Mal schneller und 33 Mal billiger als die konventionellen Methoden. Es gehe nun darum, in drei bis vier Jahren ein großes Pilotprojekt zu starten. Wenn er den Plan erfolgreich umsetzen könnte, wäre ein Teil des Plastikproblems gelöst.

Nur, da wäre immer noch Plastik in den Tiefen des Meeres und, noch wichtiger, es ist bereits am Anfand der Nahrungskette gelandet. Plastik wird nämlich von Meerwasser und dem UV-Licht der Sonne zersetzt, ist dann so klein, dass es ganz an den Anfang der Nahrungskette gelangt. Das in kleine Partikel zerlegte Plastik und im Wasser verschwundene Plastik könnte ein viel größeres Problem sein als die Garbage Patches an der Oberfläche der Meere.

Das Umweltbundesamt berichtet, dass Mikroplastik aus Gesichtspeelings und Zahnpasta über die Kanalisation in Flüsse und am Ende ins Meer gelangt. Das ist nur ein Beispiel: Es gebe etwa 2000 verschiedene Kunstfasern in Fleece-Kleidung, die in Waschmaschinen freigesetzt werden. Laut Angaben der Kunststoffindustrie landen schon bei der Produktion Mikroplastikteile in der Kanalisation. Und so am Ende im Meer mit mittelgroßen Plastikstückchen. Denn Plastik zerlegt sich, angegriffen vom salzigen Meerwasser und von den UV-Strahlen der Sonne ebenfalls weit dass auch Mikrolebewesen es fressen können.

Was schlecht klingt, könnte vielleicht gut sein. Der amerikanische Meeresbiologe Tracy Mincer sieht Plastik fressende Mikroorganismen als Möglichkeit für die Menschheit, ihren schwimmenden Plastikabfall los zu werden. An einem von der Industrie finanzierten Institut in Massachusetts untersucht er mit Kollegen den Stoffwechsel von Mikroorganismen und hat bereits welche entdeckt, die von Plastik leben könnten. Nun geht es darum, die Frage zu klären, was entsteht, wenn die Mikroben Plastik verdaut haben. Vielleicht bleibt am Ende ja nur noch kleineres Plastik übrig. Vielleicht werden gar die Gifte im Plastik erst freigesetzt wenn die Mikroben es verdaut haben.

Die Experten des Bundesumweltamts glauben deshalb nicht an die Lösung, Mikroorganismen die Meere einfach sauber fressen zu lassen: „Bei der Zersetzung geben Kunststoffe giftige und hormonell wirksame Zusatzstoffe wie Weichmacher, Flammschutzmittel und UV-Filter in die Meeresumwelt oder den Organismus ab, der sie aufnimmt.“ Mikroorganismen könnten die Stoffe nicht vollständig zersetzen.

Zwar ist inzwischen das Problem erkannt: die Meere sind die größte Müllkippe der Menschen. Die suchen nun nach Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Noch wird in alle Richtungen geforscht und überlegt. Alles wirkt so kompliziert, dass es lähmt oder dass Menschen, wenn sie sich mit beschäftigen, zu einfachen Aussagen und Lösungen neigen. Denn die Details machen es einfach zu kompliziert, das Thema Müll im Meer.

Charles Moore, der als Entdecker des Garbage Packs einen zeitlichen Vorsprung hatte, verbreitete eine Zeitlang soviel Pessimismus, dass Showmaster David Letterman ihn in seiner Fernseh-Show fragte, ob sie nach der Sendung einen trinken gehen sollten. Er klinge so trostlos. Mag ja sein. Aber Moore hat inzwischen bereits eine zweite Stiftung gegründet, 5gyres, die sich um die Lösung des Problems kümmern will. Gyres ein anderes Wort für Müllpatch. Moore scheint noch Hoffnung zu haben. Und eine gute Beschäftigungsmöglichkeit.