Ein Lebemann
Norderney, eine Penthouseterrasse mit direktem Blick auf die Nordsee. Greller Sonnenschein. Am Himmel nur helles Blau und klares Weiß, Farben, so flirrend, dass sie gemalt wirken. Karl-Heinz Stockheim, 64 Jahre alt, hektisch wie ein Jugendlicher, mit hellwachen Augen und rheinischem Drang zur Kommunikation, stemmt sich gegen die friesische Idylle. Er redet und redet. Von seiner Kindheit, seinem späteren Leben. Hauptsache, er gibt den Ton an.
Seine beruflichen Erfolge verschweigt er. Stockheim ist einer der erfolgreichsten Gastronomen des Landes. Deutschlands Reisende kennen nicht sein Gesicht, schon eher den Namen, erst recht aber das Essen. Er ist König der Systemgastronomie, seine Betriebe sind standardisiert, jagen Masse und Umsatz. Wer in Airports, Bahnhöfen, Messen isst, ist bei ihm. Die Flughäfen Köln/Bonn, Düsseldorf, Münster/Osnabrück, die Messen Hamburg, Düsseldorf, Karlsruhe, die Bahnhöfe Düsseldorf, Köln, Bonn, Aachen, Leipzig, Hamburg- Altona, bis Ende des Jahres noch Bonn, die Stockheim-Gruppe hat den Supermarkt neben dem Cafe neben der Bierbar neben dem Steakhouse neben der Imbissbude. Er ist, wo viele sind.
Bambi-Gala, SPD-Parteitag, Uefa-Kongress, Hauptversammlung, der Food-Konzern catert in allen Sphären, von Bockwurst bis Kaviar. Betreibt als Franchisenehmer Kamps, Pizza Huts, Subways und andere. Hat eigene Marken wie Sushi Factory oder Cafetiero. Der Dienstleister setzt jährlich mehr als 100 Millionen Euro um, hat 1500 Menschen angestellt, heuert für große Galas schon mal 800 zusätzlich an. Seit Jahren wächst die Firma so, wie guter Hefeteig aufgeht.
Stress? Er winkt ab. Macht glauben, es sei alles so einfach gegangen. Er trägt helles Leinen, sieht Saint-Tropez-mäßig gut aus, wie Curd Jürgens mal aussah, nur schlanker, mit Armani- Touch. Sein Gesicht fliesenglatt, braungebrannt. So, als wolle er sagen: Schau mich doch an. Wirke ich etwa gestresst?
Immer wieder kämmt er seine weißen Haare nach hinten. Und erzählt von früher, diesmal von Opa, Mama, den Tanten, den Cousins. „Ich bin hier mit fast jedem verwandt“, übertreibt Stockheim, der auf Norderney geboren wurde. Seine Ehe zerbrach, wohl am schnellen Leben.
Mit Frau und beiden Kindern lebte er auf Mallorca. Pendelte viel. Bis er Fremder war. Fragen nach der Frau? Stockheim weicht aus. Geht in die offene Küche des Penthouses, das ein einziger, riesengroßer Raum ist, offen, mit dem Bett auf dem Podest. Darin ist die Treppe zum Aufzug versteckt. Stempelaufzug, Motor im Keller, im Luxus soll ihn nur das Geräusch von Meer und Wind stören. Ein architektonischer Stunt, kein Problem, Stockheim besitzt nämlich auch ein Architekturbüro. Das ganze fünfstöckige Haus gehört ihm, wie noch andere auf Norderney. Zehn Tage sei er vergangenes Jahr hier gewesen. Er wolle seine Wurzeln erhalten.
Stockheim wirft die Kaffeemaschine an, redet dabei, hat noch viele andere Geschichten zu erzählen. Es gibt Stockheim-Kaffee, der nur in seinen Cafetieros angeboten wird. Dennoch verkauft er im Jahr 108 Tonnen. Lange Geschichten, was für Rohstoff, woher, wie bearbeitet, von wem, wer alles mitdenkt, designt und prüft. Er hat Gefühl für Timing und Pointe, ist Entertainer: wie er in Paris modelte, wie er in Woodstock im Schlamm rumhing, wegen der, oh ja, wegen der Frauen.
Der Mann bemüht sich, zufrieden zu wirken. Wenn er das Leben erklärt, ist es einfach, leicht, nebenbei. Es ist die Attitüde des Mannes, der Erfolg hat. Erarbeitet? Zugeflogen. Es dauert lange, bis Verdacht aufkommt: Dies überstarke „die Welt ist mein“ könnte eine Schutzschicht über der Unsicherheit sein.
Er will die Themen bestimmen, im Mittelpunkt stehen, deshalb redet er lieber, als zuzuhören. Zu Geschäften will er nicht viel sagen. Nur so viel: Er kann Leute. Zack, fertig. Dieser Satz, im Rheinland gebräuchlich, erklärt ihm den Erfolg. Denn: „Gastronomie ist Kommunikation.“ Kommunikation kann er. Er stammt von Norderney, dort habe er Teamgeist gelernt. „Mein Großvater war in einem Rettungsboot. Wenn drüben auf Baltrum eine Frau schwanger war und einen Arzt brauchte, dann sind die hier bei jedem Wetter, bei jedem, ins Boot. Hier zählte der Zusammenhalt. Allein ist keiner was.“
Wieder wirft er die Anekdotenmaschine an, äußerst lustvoll: Wie die Cousins im Gras der Dünen lagen und auf den Nacktbadestrand spähten. Wie der Schmied auf glühendes Eisen hämmerte und dabei Schauergeschichten für die um ihn versammelten Kinder erzählte. „Es gab hier einen Ausrufer auf der Insel, Bekanntmachungen, der lief mit einer Glocke herum und hat gesagt, der Karl-Heinz hat heute seine Suppe nicht aufgegessen. Ich hab eine Weile gebraucht, um zu kapieren, woher er das wusste.“ Sein Vater, Konditor aus Düsseldorf, war zur Nazizeit auf die Insel gekommen, um hier zu backen. Karl-Heinz wird 1944 auf Norderney geboren, verbringt die Kindheit in Düsseldorf.
Eigentlich. Denn er ist ein kränkelndes Kind, Tuberkulose, schwach, anfällig. Oft Fieber. Immer wieder wird er auf die Insel geschickt. Immer der Kleinste, vielleicht der Grund für all das Entertainment, das bedingungslos Gefallenwollen.
Wie Stockheim tickt, begreift man am besten, wenn man sich seine Lebensstationen ansieht und seine Geschichten hört. Wie er als Junge britischen Besatzungssoldaten Stiefel poliert, für einen Penny, den er in Eis umsetzt. Wie er seinem Großvater, dem Maler, einziges Norderneyer Opfer der britischen Bombardierung, im Rollstuhl, zuhört, wenn er vom Horizont erzählt, dass da Frieden sei. Hier wollen nach dem Krieg alle hinaus, über die Meere. Fernweh packt auch ihn. Es treibt ihn in ein Leben, das wie eine Perlenkette wirkt, Anekdote an Anekdote.
Er besuchte die Jesuitenschule Bad Godesberg, bis er nicht mehr durchkommt, wegen Latein. Aber: die Jesuitenpater, die aus Afrika oder Südamerika zur Erholung heimkommen, bringen Schmalfilme mit. Zeigen sie den Schülern, die sie sehen wollen. Also Karl-Heinz. Die Filme fixen ihn weiter an, sein Fernweh wächst. Kochlehre, gutbürgerliches deutsches Essen, im Franziskaner, Düsseldorf. Mit 18, damals ist man da noch nicht volljährig in Deutschland, haut er ab aus Düsseldorf, wo sein Vater, der Patriarch, inzwischen fünf Lokale betreibt. Ob der Flüchtlinguftikus war, der in die Welt und den Spaß zog, oder James Dean, der sich am Vater reibt und flieht, es war wohl die Mischung. Der Junge geht nach Holland, dort kann man mit 18 anheuern. Kommt auf die New Amsterdam, lernt Front Cooking, direkt vor den Gästen, denn er kann Menschen. Karibik, Atlantik, Südsee.
Stockheim schwärmt: „Die Seefahrt hab ich geliebt.“ Wann immer möglich, geht er nach New York. Er ist jung, lebenslustig, kommt an bei Frauen. Will was erleben, erlebt was. Sein Mentor auf hoher See, ein Küchenchef, redet ihm ins Gewissen: „Junge, bleib nicht auf dem Schiff, du hast mehr drauf.“ Er geht auf die Hotelfachschule am Tegernsee. Danach Paris.
Die 60er, der Flughafen Orly wird eröffnet, „da war ich etwa 22, ich bin drei Jahre geblieben, hab viel gelernt, mir wurde damals klar, dass Reisegastronomie die Zukunft ist“. Die Franzosen waren den Deutschen voraus. Hatten Systemgastronomie schon begriffen. Stockheim merkte sich das.
Paris, in dem Alter, klar, er verdient nie genug, er braucht Geld. Also lässt er sich als Fotomodell anheuern. Nebenbei rutscht er in die Clubszene, Bereich Food and Beverage, managt manchmal einen Laden, macht auch mal die Tür im King’s Club. Da steht ein Mann mit Gitarre, fragt, ob er spielen dürfe. Der Chef sagt nein, aber, so erzählt Stockheim, irgendwann, als der Chef weg ist, lässt er den Mann rein. Ein paar Takte gespielt, kurz gesungen, ein Star war geboren: Adamo.
Als der sein erstes Konzert im Olympia spielt, muss er den Saal vorausbezahlen. Stockheim leiht Geld, sammelt bei Freunden. Das Konzert ist der Start, ein Star schießt an den Himmel. Stockheim säuft mit Richard Zanuck von der 20th Century Fox aus Hollywood. Küsst Sophia Loren die Hand. Drei Jobs gleichzeitig, ein wildes, anstrengendes Leben. Der Kleine von der Insel hat gelernt, er ist groß, kann fast alles. Es macht ihm Spaß, davon zu erzählen. Stockheim sitzt auf einer Düne, hinter dem Leuchtturm, vor sich Sand, ein Naturschutzgebiet, er wiederholt: „In Orly hat es klack gemacht, Systemgastronomie, das ist meine Welt.“ Er deutet auf vorbeihoppelnde Kaninchen, erzählt, dass er nach drei Jahren weg musste. „Zu anstrengend.“ Er bewirbt sich, kommt, Stockheim-einfach, ins Waldorf-Astoria.
Wieder New York. „Wieder unten anfangen, Aschenbecher ausleeren, Service, Banketts. Ich wollte das. Ich wollte nicht mehr nach Deutschland.“ Der Buchhalter seines Vaters schreibt ihm, er werde gebraucht. Stockheim, der auf der Insel gelernt hat, Familie ist wichtig, Zusammenhalt alles, geht zurück. „Vater hat viel zugelassen“, sagt er. Vater war old school, Sohn modern. Kämpfe sind zu ahnen. Er rieb sich am Senior. Aber die beiden leiten bis zu Vaters Tod 1989 die Firma zu zweit. Seit der Sohn zurück ist, expandiert das Unternehmen. Er wollte dem Alten wohl zeigen, was geht, was er kann.
Erst Hauptbahnhof Düsseldorf, dann Köln, ein Flughafen, ein zweiter, noch einer. Hier noch was und da. Die Firma wächst gemäß dem, was Stockheim gelernt hatte: Systemgastronomie, Reisegastronomie, Catering. Als Karl-Heinz heimkam, arbeiteten keine 400 Menschen bei Stockheim, 1989 sind es 1000, heute 1500. Alles ging einfach, es war wohl die Idee, der clever-simple Übertrag nach Deutschland. Es war für ihn einfacher, eben weil er „Menschen kann“ und weil er ein Fundament hatte, das sein Vater aufgebaut hatte.
Stockheim sagt, er delegiere. Ohne dies bleibt keine Zeit für ein lustvolles Leben. Er macht viel Yoga, „mein Stressmanagement“. Beschäftigt sich, seit Jahren Kettenraucher, mit Ayurveda, „der Kunst des Lebens“. Nebenbei studiert er Religionswissenschaften, „wenn ich Zeit habe“. Auch Bildhauerei. Kunst mag er. In den 70ern wurde er von Pop-Art-Guru Robert Rauschenberg nach Paris zum Geburtstag geladen. Ein paar Malern spendiert er ein Apartment und ein Atelier. „Künstler sind ein Korrektiv, die haben andere Blickwinkel.“ Ende der 80er half er tschechischen Künstlern mit 30 000 Mark aus.
„Jahre später kam ein Maler, wollte mich unbedingt kennenlernen.“ Sie treffen sich in den Düsseldorfer Rheinterrassen, einem Stockheim-Betrieb. Der Tscheche bedankt sich. Stockheim erfährt, dass mit dem Geld Vaclav Havels Anwälte bezahlt wurden, als der Ärger hatte.
Weiter im Stockheim-Stakkato. Gerade kam er zurück aus dem mexikanischen Dschungel, wo er den Legionären Christi half, Mayas überlebensfähig zu machen, und dabei zu sein, wenn seine Spenden verbaut werden. Zuvor Kolumbien. Tauchen. Mit dem alten Militärjeep, der heute noch in der Garage neben dem Bentley und den Corvettes steht, ist er mal 140 000 Kilometer über die Philippinen gefahren. In der Firma ist er meist vor Ort, selten am Schreibtisch. Schreibtisch mag er nicht.
Abendessen in der Villa Ney, seinem Hotel auf der Insel. „Hier war früher die Schreinerei eines Onkels, wir haben immer Schiffchen gebaut.“ Stockheim rettete das Grundstück vor der Bank. Gegenüber sein Geburtshaus, heute ein Malergeschäft.
„Hier komm ich her“, sagt er. Am Tisch, nach dem Essen, erklärt er, der eine Goldkette um den Hals trägt, die Bänder am linken Arm: Armband mit Wappen aus Hawaii, Freundschaftsband vom Tauchlehrer in Kolumbien, das für Zusatzluft sorgen soll, eines mit Bernstein von den Mayas. Scheinbar nebenbei erzählt er von seinen Kindern. Tochter Carla, 22, lebt als Designerin in Barcelona, Sohn Marc, 21, besucht die Hotelfachschule in Lausanne. Ein Nachfolger? Vater winkt ab: Er wolle nicht drängen. Trotzdem ist klar, was er will.
Stockheim bestellt die nächste Flasche Wein, stockt, untypisch für ihn. Sagt leise: „Die Kinder haben expressis verbis gesagt, hier wird nichts verkauft.“ Dabei haben sie null Bezug zu Norderney. Es klingt tragisch, wie Stockheim, dem doch alles zufliegt, hoffen muss.