No Logo
Tiefe Nacht auf den Philippinen. Cecile redet über die Welt, die schlecht ist, sie flüstert, von Ausbeutung und Unterdrückung durch die Industrienationen, erzählt von diesem Slum hier.
Aber Cecile, sag ich, ist doch kein Slum hier, wirkt wie ein Mittelklasseviertel. „Ja, das ist eine bessere Gegend.“ Wir laufen durch die Straßen. Elektrisches Licht, Fernseher, Satellitenschüsseln. Verandadächer mit Festbeleuchtung. Cecile hatte angekündigt, dass wir im Slum leben werden. Sie bleibt stehen, plötzlich begeistert: „Hier hat Naomi geschlafen.“ Deutet auf eine kleine Pension mit hellblauen Wänden. Der Ort scheint Cecile heilig. Naomi Klein, Autorin von „No Logo“, literarische Anführerin der Anti-Globalisierungs-Bewegung, Weltveränderin, Anwältin der benachteiligten Arbeiterklasse der zweiten Welt - Naomi Klein hat hier übernachtet.
Wir sind in Rosario, zwei Stunden Autofahrt entfernt von Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Ganz nahe der Cavite Economic Zone . Ein Riesengelände mit 229 Fabriken, die vor allem Japanern, Koreanern, Taiwanesen und Hongkong-Chinesen gehören. In denen Klamotten und Schuhe hergestellt werden, für GAP, Calvin Klein, Nike, Adidas, für Karstadt. Außerdem Elektro-Teile für Nokia, IBM, Dell oder Samsung, und das alles für uns, für die westliche Welt. Solche Exportzonen gibt es massenhaft in armen Ländern. Hier gelten andere Regeln, weiß man spätestens seit „No Logo“: Hier sind Arbeiter nur Sklaven und die Löhne bitter niedrig. Menschen basteln hier für ein paar Pesos am Tag Turnschuhe, die bei uns für 150 Euro und mehr verkauft werden. Viele Überstunden, oft unbezahlt. Sozialversicherung? Kaum. Urlaub? „No work, no pay.“ Nur Ausbeutung. Knochenmühlen.
Cecile ist Gewerkschafterin, beim Workers Assistance Center, WAC, und sie will die Zustände ändern, die Arbeiter organisieren. Zum Beispiel: Lyzel, 19, und Marial, 18. Die haben gerade ihre Bewerbungsbögen bei D&A abgegeben, einer koreanischen Firma, die für GAP produziert. Von den beiden redet Lyzel; Marial kichert nur. Beide kamen gleich nach der Highschool nach Rosario, aus einem Dorf in der Provinz Batanga, vor zwei Jahren schon. Freundinnen, immer zusammen unterwegs. Sie hatten bisher vier „Contracts“, Arbeitsverträge über ein paar Monate. Lyzel sagt, dass sie einfach weg von zu Hause wollten. Und klar, wir könnten mit in ihr Boarding House, da wohnen sie mit zehn anderen. Die Wohnung kostet monatlich 4000 Pesos, 80 Euro, alle schmeißen zusammen, wer einen Job hat, legt für die anderen aus. Nein, das ist kein Problem, sagt sie, das klappt. Wir fahren mit Tricylcles hin, Mopeds mit Beiwagen, dreirädrige Taxis. Kostet 5 Pesos pro Person, also 10 Cent.
Die Mädchen leben in einem echten Slum. Sauber, ja, und ab und zu Hütten, aber meistens nur Betonwände und Ziegeldächer, eng aneinander. Überall hängt Wäsche, Hinterhof-Atmosphäre. Ich möchte hier nicht wohnen, aber ich hatte es mir schlimmer vorgestellt - solche Boarding Houses sind hier der Durchschnitt. Lyzel führt stolz vor: ein kleiner Raum ohne Fenster, Platz für zwei Matratzen, die tagsüber an die Wand gelehnt sind. Manchmal, wenn alle gleichzeitig hier sind, schlafen sie auch auf dem Gang. Der hat Fenster mit Glasscheiben, einen Gasherd, ein Steinwaschbecken. Sie tragen immer Jeans und T-Shirt. Im Gang kochen sie, das ist billiger als das Fastfood bei Chowking , eine Art chinesischer McDonald’s, oder als das Essen an den Straßenständen. Lyzel erzählt, dass sie gerne Radio hören, Westlife, Christina Aguilera und Britney Spears. Ab und zu gehen sie ins Kino. Oft zum Karaoke, das ist immer drin. Schon arg eng hier drin, sage ich. Lyzel: „Bei den Eltern in der Hütte, da hat es reingeregnet, die war kleiner, ohne Glasscheiben, ich lebe jetzt besser. Ist doch okay, oder?“ Sie ist stolz auf ihr Zuhause. Okay: Da sind eine Toilette, eine Dusche, eine Gemeinschaft, die einspringt, wenn Lyzel und Marial keinen Job haben, Solidarität, Freundschaft. „Ich bin zufrieden“, sagt Lyzel. Nein, sie könne nichts sparen. Wenn Geld übrig ist, schickt sie es an ihre Eltern.
Cecile, die Gewerkschafterin, bestätigt, was in „No Logo“ steht: Eine Marke ist nicht mehr Qualitätssiegel, sondern nur noch ein Verkaufsargument. Vertragshändler lassen die Markenschuhe unter Sklavenhalter-Methoden herstellen, wo immer es am billigsten ist. Dafür bekommen sie zwölf Prozent des Verkaufspreises. Nike-, Adidas- und Reebok-Schuhe werden in denselben Fabriken hergestellt, in Vietnam, China, Indonesien, auf den Philippinen. Mir hat in Kleins „No Logo“ die Beschreibung des Lebens und Leidens der Arbeiterinnen gefehlt. Im Buch ist das nur soziologisch-theoretisch abgehandelt. Deswegen sind wir hier.
Am nächsten Abend: Essen bei Chowking , Nicht gut, aber teuer. Chowking ist direkt gegenüber des großen Ausgangs der Arbeitszone. Chowking ist voll besetzt, genauso wie Jollibee nebenan oder Smokey’s , McDonald’s , Dunkin‘ Donuts . Lauter junge Mädchen, die vom Arbeiten kommen. Alle tragen helle Blusen mit Firmennamen darauf, wie Uniformen: rosa, hellblau, weiß. Darauf steht: Chunji Ind, Dae Ryung Ind Inc, Dae Kyung Phils Co, HCTI, Sansai, Sun Kiu Apparel, Ming Sun Liang. Fast alle tragen ihren ID um den Hals oder am Kragen - eine Plastikkarte mit Namen, Passbild und Firmennamen.
Die 21-jährige Fatima arbeitet bei Imes, erzählt sie. Sie hat heute um sieben Uhr morgens angefangen und Überstunden gemacht. Überstunden seien klasse. „Arbeit ist okay. Überstunden bedeuten Geld.“ Alle haben Handys, eine SMS kostet einen Peso, zwei Cent. Alle am Tisch lachen. Schulausflugs-Atmosphäre. Sie essen: Nudelsuppe für 49 Pesos. Trinken: eine große Cola für 21 Pesos, und der Nachtisch ist im Angebot, Mandelcreme für 25 Pesos. Jede gibt wenigstens 95 Pesos aus. Zwei Euro. Einige essen Hühnchen oder Schweinefleisch für 60 bis 80 Pesos, dazu Nachtisch, Cola.
Nach dem Essen gehen die Mädchen in die Shopping Mall, die Rolltreppen hoch. Ein Riesenraum mit Karaoke-Anlagen in Glas-Kabinen, alle besetzt, acht, neun Mädchen in einer Kabine, ab und zu sind ein paar Jungs dabei. Man kann aus hundert Liedern wählen. Irgendwo läuft „My Heart Will Go On“: Samantha singt, und Sheenalyn lacht. Sie arbeitet bei HEDC, sehe ich an ihrer ID. Sie bekommt Mindestlohn, 217 Pesos, viereinhalb Euro am Tag, hat einen befristeten Vertrag und keine Angst. Wenn der ausläuft, findet sie was Neues, „ganz einfach hier“, sagt sie. Sie ist 18 Jahre alt, HEDC ist ihr zweiter Job. Samantha gibt das Mikro weiter, Sheenalyn singt eine schräge Coverversion von „Every Breath You Take“. Sie erklären mir, dass Adidas hier vor allem eine Bedeutung hat: gegrillte Hühnerkrallen. Drei Zehen - das Adidas-Logo. Wer hier Adidas sagt, meint nicht Turnschuhe, sondern gegrillte Hühnerkrallen.
Zu Überstunden muss man keine zwingen, anders als es in „No Logo“ steht. Hier gilt, was im Ruhrpott auch mal galt: Überstunden? Her damit! Das Geld kann ich brauchen. Es wurde auch keines der Mädchen mit falschen Versprechungen hergelockt. Jede kam, weil sie weg wollte von zu Hause. „Bei meinen Eltern auf den Feldern arbeiten? Nichts für mich“, sagt Suzy, die bei Hayakawa arbeitet.
Später erzählt Cecile, die Gewerkschafterin, wie die Mädchen ausgebeutet werden, reingelegt, ausgesaugt. Die wirken doch ganz zufrieden, sage ich. „Die Mädchen sind blöd“, sagt Cecile. Das sei eine Mentalitätssache: Wenn es Philippinos schlecht gehe, machen sie einen drauf. Die Mädchen bekämen Mindestlohn, und viele bekämen nicht mal den. Wenn sie überhaupt Arbeit hätten, meistens gebe es nur befristete Jobs, sie müssten oft hungern.
Cecile und ihr Mitarbeiter Arnel stellen mir ein paar Arbeiterinnen vor: Ariyn und Nerie. Beide können englisch, aber Cecile dolmetscht sicherheitshalber: Dass die Kapitalisten nur 16- bis 18-jährige Arbeiterinnen wollen, übersetzt Cecile. Seltsam: Ariyn und Nerie sind 26 und 24. Sie arbeiten bei Young Sung Electronics, stellen Fernsehteile her. Beide kamen mit 18 nach Rosario. „Hier ist mehr Glamour als auf meiner Heimatinsel“, sagt Nerie. Sie kriegen Mindestlohn, haben heute um 7.30 Uhr angefangen zu arbeiten, um 16.30 Uhr war Schluss. „Leider keine Überstunden“, sagt Ariyn. Cecile verzieht das Gesicht. Eine lange Frage von mir übersetzt Cecile mit “ working conditions? “. Die beiden Frauen legen los, als hätte jemand einen Hebel umgelegt: Arbeitsbedingungen? Ganz schlimm, unerträglich. Aber überzeugend wirkt das nicht. Ich frage: Ihr arbeitet in einer gewerkschaftlich organisierten Firma. Als die gegründet wurde, hat da das Management gedroht, dass die Fabrik dicht gemacht wird, falls eine Gewerkschaft entsteht? Naomi Klein hat das geschrieben. Cecile übersetzt nicht, sie antwortet für die Frauen: „eindeutig ja!“ Hinter ihr sitzt Nerie, der die Frage galt. Sie schüttelt den Kopf. Ich frage noch mal, Cecile antwortet „Ja!“ Aber Nerie schüttelt den Kopf.
Später bin ich mit Nerie allein, sie erklärt mir, dass das Ganze ein Missverständnis von Cecile sei. „So schlimm ist es nicht, aber es könnte besser sein.“ Was das heißt? Mehr Geld wäre gut. Arbeitsbedingungen? „Es geht“, sagt sie, „bei uns ist es okay, es gibt aber Firmen, da ist es schlimm“. Nerie und Airyn haben angefangen zu arbeiten, als der Mindestlohn 113 Pesos war, inzwischen ist er bei 217, er steigt fast jedes Jahr. Den Lohn gibt es bar, immer freitags; manche Firmen zahlen auch am 8. und 20. des Monats.
Am nächsten Tag gehen wir zur Zone. Es ist kurz vor 8 Uhr, Zehntausende drängen sich rein, fast nur Mädchen, alle jung. Am Eingang drei Wächter mit Pistolentaschen. Wir gehen auf sie zu. Einer fragt: „Sir, Ihr Ausweis?“ Ich plappere los: Wir haben keine, sind zufällig hier, würden gerne mal reingehen. Der Mann lächelt, winkt uns durch. So leicht kommt man bei Daimler in Stuttgart nicht rein. Abends frage ich Cecile, wo Naomi Klein ihre Interviews gemacht hat. „Hier bei uns, wir haben für sie Arbeiter gesucht, die bereit waren zu reden“. Naomi Klein war auch in der Zone, einmal offiziell bei der Leitung und einmal heimlich.
In der Zone sehe ich vor einigen Fabriken Schlangen, an den Toren hängen Arbeitsangebote. Es werden nur Leute gesucht, die älter als 18 sind. Die Arbeitgeber wollen Highschool-Abschlüsse sehen. Die Fabriken sind von Mauern oder Zäunen umgeben. Einige sehen heruntergekommen aus, andere neu. Wie ein deutsches Gewerbegebiet. An vielen Fabriken hängen TÜV-Abzeichen, ISO-Auflagen werden erfüllt. Überall Schilder mit Aufschriften wie: „Safety first“ oder „Safety begins here“. Auch: „Love, Peace, Harmony“.
Es gibt eine „Zone Authority“, die Verwaltung. Digna Torres, die oberste Chefin, hat keine Zeit, ihr Assistent hilft uns weiter. Ja, die Philippinen hätten die höchste Geburtenrate der Welt, „katholisch hier“. Jedes Jahr 100000 Schulabgänger mehr, im Jahr 2000 waren es 1,1 Millionen. Arbeitslosenquote 20 Prozent. Die Firmen nehmen fast nur Frauen, die hätten „eine andere Mentalität“. Das sei ein Problem, „alles sehr macho hier“. Mehr als 65 Prozent des Exports bestehe aus elektronischen Gütern: Fernseher, Computer- und Handyteile, Chips. Das sei der Fortschritt. „In ein paar Jahren wird es die Nähereien nicht mehr geben, dann wird alles in Bangladesh oder Laos und Vietnam gemacht, da sind die Löhne niedriger.“
Am nächsten Tag: das Unternehmen P. Imes. Das P. steht für Philippines, es ist die Tochterfirma der japanischen Imes, die wiederum IBM gehört. Computerteile. Die Zukunft. 1500 Leute stellen Teile für Laptops, Computer und Röntgenapparate her. Die Firma zahlt nicht den Mindestlohn von 217 Pesos, sondern 240 Pesos, fünf Euro. „Wir brauchen Leute, die perfekte Augen haben, die so genannte 20/20-Vision “, erklärt Aniano Matabuena, einer der Chefs, ein Philippino. „Diese Ladies sind unser Reichtum.“ Ich sehe Frauen mit Mundschutz und Overalls samt Mütze - sie sehen aus wie in Silberfolie verpackt, arbeiten in „Reinräumen“: Kein Staubkorn darf an die Bildschirmteile. Ich sehe viele, die vor den Reinräumen sitzen, Pause machen, Cola trinken, SMS verschicken. Matabuena erklärt: „Bei der Arbeit kommt es auf die Konzentration an, deshalb machen wir viele Pausen.“ Wie viele? 20 Minuten Arbeit, 10 Minuten Pause. Gibt es einen Betriebsrat? „Wir haben eine Mitarbeitervertretung“, sagt er, „wir wollen nicht, dass hier Gewerkschaften reinkommen“. Abends bei WAC erklären sie mir: „Die Mädchen werden vergiftet. Du hast die Schutzanzüge gesehen? Giftige Chemikalien.“ Quatsch, sage ich, das sind Reinräume. - „Sei nicht so naiv, die werden vergiftet“, ruft Arnel, der Gewerkschafter. Und ich hab Angst, dass mir das niemand glauben wird, so blöd ist das.
Nachts denke ich: Ob die gängige Meinung falsch ist, dass die Globalisierung verdammt werden muss. Ich habe lange mit den WAC-Leuten diskutiert - dabei musste ich mir Joan-Baez-Platten anhören - und Arnel, der mir erklärt, dass die Arbeiterinnen „einfach dumm“ seien, dass nur die WAC wisse, was gut für sie sei. Die Arbeiterinnen seien „auf tieferem Niveau, wir müssen sie zwingen“, sagt Arnel. „Hier findet eine Industrialisierung statt, wie bei euch im 19. Jahrhundert.“ Für Arnel gibt es nur eine Wahrheit, nur Schwarz-Weiß-Denken. Er erzählt die Geschichte von Arbeiterinnen, die unter den Maschinen schlafen, während die andere Schicht arbeitet. Das hat auch Naomi Klein gehört und geschrieben. Aber Arnel nennt die Firma nicht, er windet sich. Er drückt sich vor konkreten Fragen. Schimpft lieber auf die Kapitalisten. Wirft mir vor, ich sei nicht empört genug. Wird sauer, als ich sage: Ein paar Mädchen haben erzählt, es gehe ihnen jetzt besser als früher. Und der Fortschritt, der sei doch zu sehen.
Und, ja, stimmt, auch wenn ich damit für Arnel zum blöden Schwein werde und für die Globalisierungsgegner auch: Ich war da, ich habe mit den Mädchen gesprochen, und ich ahne auch die Zukunft. Es ist nicht alles golden, und bestimmt verdienen die falschen Menschen zu viel Geld mit Lysel und Marial und Nerie und Samantha, aber ich höre auch Rafidah Aziz, den Industrieminister von Malaysia, der sagt: „Für mich ist die Globalisierung wie das Altern. Ich wäre gerne gegen das Altern, aber da kann ich nichts machen. Aber wir können langsam und würdevoll altern.“ Ich hab die Mädchen bei Chowking essen sehen, mit Handys, zufrieden.