Mein festes Haus

Reportage
zuerst erschienen im Sommer 2005 in Dummy Nr. 7 (Thema: Revolution), S. 68-69
Ein Besuch im Lande des heutigen Stalin, der babylonisch bauen lässt, Opern verbietet und nur einer Straße einen Namen verlieh, seinen: Turkmenbaschi, Vater aller Turkmenen

Mädchen Nummer drei kommt unangekündigt, als es schon lange dunkel ist. Sie bringt zwei grobe, schwere Decken mit in das opulente Hotel. Allein, dass sie in dieses Hotel kommt, schaffte eine peinliche Situation – in Turkmenistan, oben links von Afghanistan, an der alten Seidenstraße, Ex-Sowjetunion, weiß jeder, was fast jede will. „Heirate mich!“, sagen die Augen der jungen Frauen, „mach irgendwas, Hauptsache ich komm hier weg, bitte!“ An der Rezeption lächeln zwei ältere Damen dreckig. Sie wissen ja nicht, dass Mädchen Nummer drei gekommen ist, um indirekt Systemkritik zu machen, geschickt von ihrem Vater. Die Decken steigern das Peinliche ins Bizarre. Was will sie damit? Mädchen Nummer drei flüstert, ihr Vater schicke sie, sie müsse mir für ihn was beweisen. Am Abend vorher war ein Festessen bei der Familie des Mädchens, mit vier schweren Gängen und klassischer Hausmusik. Das Mädchen kochte, denn die Mutter war ausgegangen - ein Ausländer zu Gast, das kann Ärger mit den Geheimdiensten geben. Es gibt fünf in Turkmenistan, die konkurrieren und alle was bieten müssen, Verdächtiges, Verrat, Erfolge einfach. Die Mutter des Mädchens war wütend, weil Vater und Tochter das Risiko eingingen. Die Wohnung roch nach Krach. Im Motel-Foyer drängelt nun Mädchen Nummer drei: „Ich will Dir was zeigen, jetzt sofort.“ Vom Motel sind es keine drei Minuten bis zur Stadtautobahn. Als wir auf der stehen, lacht sie, rollt die erste Decke aus, die zweite, ruft: Los, hinlegen!“ So liegen wir auf einer Überholspur der Stadtautobahn von Ashgabat, der Hauptstadt, abends um elf, auf dem Rücken.

Zu Mädchen Nummer drei kam ich wie zu Mädchen Nummer eins, zwei und vier. Oder wie zu dem jungen Pianisten, bei dessen Familie ich anderntags vier Stunden nonstop verwaschene Videos alter turkmenischer Opern anschaute, um die Gastgeber nicht zu beleidigen. Ich war, nach fünf Tagen, meinem Führer entronnen – als Ausländer hat man in Turkmenistan immer einen Führer, der sehr schwer loszukriegen ist. Ich täuschte Darmgrippe vor und floh unerkannt aus dem Motel zur Musikhochschule – junge Leute, die etwas mehr erzählen, vielleicht sogar was Kritisches, findet man, wenn überhaupt, hier.

Ich also rein. Nach zwei Sekunden werde ich angesprochen, Austausch über Fußball, Bier, Mercedes. Die Jungs und Mädchen zeigen die Akademie, Professoren stellen sich vor, hier erklingt ein bisschen Tschaikowsky, da Chopin und dort was von Danatar Öwezan, dem Nationalmusiker. Viel Klavier, viel Geige, etwas Cello, und ich höre, wie sie mich nach Hause einladen. Das sind Chancen, denn es ist schwer, in Ashgabat mit Menschen zu sprechen. Es gibt Sprachprobleme, vor allem aber komplizierte Codes, aus Sicherheitsgründen.

Auf der Autobahn ist es unwirklich hell, weil die Marmorprotz-Hochhäuser angestrahlt werden, weil überall Lichter an sind, obwohl die Appartments leer stehen. Ein Las-Vegas-Gefühl, nur ohne Menschen. Hochhäuser, voller Gier nach Chic gebaut, versteckt billig, Niveau geklaut, baldiger Verfall sicher. Aber drumrum ein Marmormantel und große Bögen über den Eingängen. Turkmenistanis ist - Erdgas, Öl, früher viel Baumwolle - neureich. Zwischen den Hochhäusern liegt freie Fläche mit mühsam hingekämpftem Grün. Tagsüber stehen überall Frauen und Männer und bewässern, harken und pflanzen. Hier ist eigentlich Wüste. Doch Ashgabat erinnert mit seinem erzwungenen Grün eher an Phoenix oder Albuquerque. Es gibt hier nur eine Berufsgruppe, die größer ist als die der Gärtner, und das sind die Polizisten.

Am Himmel über der Autobahn hängen Wolken, keine Sterne, über uns schwebt Turkmenbaschi. Das Foto, auf dem der Diktator etwas netter aussieht. Das mit dem blauen Jackett. Das Bild ist am höchsten der Hochhäuser und bedeckt vier Stockwerke. Mädchen drei sagt: 20 Minuten, sie habe das ihrem Vater versprochen, wir reden verklausuliert über Revolution und offen über klassische Musik. Mädchen drei studiert Klavier. Ich sage, „Das kann doch so nicht mehr lange weitergehen“ und „Bist Du zufrieden?“, und sie legt den Finger auf den Mund. Ab und zu sagt sie: „Du musst wirklich keine Angst haben vor den Autos.“ Die Stadtautobahn hat vier Spuren in jede Richtung, plus zweispurige Zubringerstraßen plus Anfahrtswege zu den vielen Hotels. Die wirken mit den Kuppeln, dem Marmor, den Schnörkeln und dem blau-grünen Glas wie eine Kette aus Tand. Turkmenische Fremdenführer sagen mehrfach am Tag, der Baschi sei „der weiseste und klügste“. Meiner sagt: „Er ist ein Genie, ohne ihn wären wir nichts.“ Er verstehe nicht, dass der Turkmenbaschi noch keinen Nobelpreis hat, obwohl sein Land ihn jedes Jahr vorschlägt. Die 20 Minuten mit Mädchen Nummer drei sind dagegen eine Demonstration. Sie hat Recht, ihr Vater hat Recht: Es kommt kein einziges Auto. Dieser Asphaltbombast ist sinnlos, einer der vielen babylonischen Gärten des Turkmenbaschi. Jeder weiß es, keiner kann es sagen, aber die Welt soll es wissen.

Mit Mädchen Nummer eins nehme ich anderntags ein Taxi. In Turkmenistan, einem Relikt der Sowjetunion, gilt das Ostblock-Taxisystem. Man stellt sich an die Straßen, winkt und das nächste Auto hält, weil der Fahrer was dazuverdienen will. Muss. Wir fahren in die Stadtmitte, steigen nahe dem Ruski Bazar aus. Gehen ein paar Straßen und stehen vor einem Neubau, für turkmenische Verhältnisse unpompös. Sie deutet um sich: „Hier war früher die Oper“. Die Oper wurde abgerissen. Turkmenbaschi mag keine Oper, was ja nachvollziehbar ist. Also gibt es keine Oper mehr in Ashgabat. Auch keine klassischen Konzerte. Außerdem hat Turkmenbaschi Zirkusse verbieten lassen, weil er keine Clowns mag. Clownphobie gilt in der Psychoanalyse als ernst zu nehmende Sache. Dafür liebt Turkmenbaschi Dutar und Folklore. Dutar ist ein zweisaitiges Instrument, mandolinenähnlich. Es macht Jammergeräusche. Turkmenischer Folk, ob mit oder ohne Dutar, tut weh.

Mädchen Nummer zwei will zum neuen Olympiastadion. Schöne Architektur, von Franzosen gebaut. Die Standard-Häuser bauen türkische Firmen, die dicken Dinger französische. Das Stadion steht am Rande Ashgabats, mitten in der Landschaft und wird jede Nacht angeleuchtet, als wäre Parteitag. Es heißt „Saparmyrat Türkmenbasy Adyndaky Olimpya Stadiony“. Auf den Tribünen hängt ein Baschi-Foto. Was will Mädchen Nummer zwei sagen, ohne es zu sagen? „Du weißt, hier war nie eine Olympiade.“

Es ist schwer, nach Turkmenistan zu reisen. Turkmenbaschi will nicht zuviel Fremde. Es gibt so gut wie keine Touristen, aber viele leere Luxushotels. Das Visum zu bekommen, dauerte zweieinhalb Jahre. In Ashgabat gibt es ein Ministerium, das entscheidet, ob es eine Einladung gibt. Dann gibt es eine Botschaft, die entscheidet, ob es wegen der Einladung ein Visum gibt. Bei Journalisten reden noch ein Ministerium und die Staatskanzlei mit. Von einer der beiden kommt das Nein. Der [69]

Mann in der turkmenischen Botschaft in Berlin sagte, es gebe Fälle, da bekomme man eine Einladung, was quasi schon ein Wunder sei, aber doch kein Visum. Viele Handgelder und Lügen später war ich der sechste Individualtourist des Jahres in Turkmenistan. Es war November.

Am Zoll nehmen sie nur Dollars. Ich muss, nachdem die Steuer bezahlt ist, noch einem Mann zehn Dollar zustecken. Die übliche Ostblockroutine: Er gibt den Pass zurück, sagt, er werde gleich nochmal in Ruhe reinschauen. Das lässt Zeit, den Schein in den Pass zu legen. Das Flugzeug landet in Ashgabat nachts um drei. Nach mir kommt ein Brite mit Schwarzenegger-Muskeln. Er trägt, in der Wüstenkälte, ein T-Shirt, die Bizepse voller Tätowierungen. Zu erkennen sind eine Maschinenpistole, ein Schwert, Handgranaten. Ja, er arbeite im Security-Bereich. Mehr dürfe er nicht sagen. Das eigentlich auch nicht.

Turkmenistan gehört Turkmenbaschi, ihm allein, dem Stalin unserer Zeit. Früher gab es hier im Land ein paar Leninstatuen. Eine hat überlebt, weil die UNESCO sie zum Kulturerbe erklärt hat. Früher schmückten auch Statuen von Stalin die Stadt. Heute gibt es 3600 Statuen des mit garantierten 99 Prozent aller Wählerstimmen bestimmten Präsidenten auf Lebenszeit im Land, die meisten in der Hauptstadt. Der Unterschied zu Lenin und Stalin ist: Deren Büsten wurden nach ihrem Tod aufgestellt.

Der Turkmenbaschi ist 64 und lebt. Jedem sollte klar sein: kein falsches Wort über ihn. Seine Opposition ist tot, im Knast oder Exil. 2002, nach einem Putschversuch hat er aufräumen lassen. Wobei unklar blieb, ob es wirklich ein Putsch war oder ein Großreinemachen.

Man muss über den Turkmenbaschi viel spekulieren. Zwar ist er allgegenwärtig in Turkmenistan, aber nur als Großer Bruder, wie bei Orwell. An den Ecken der großen Straßen stehen kleine weiße Pförtnerhäuschen mit grünem Dach, drinnen ein gerahmtes Fotos des Baschi, davor ein Polizist. An jeder Ecke einer, macht vier pro Kreuzung. Überall patroullieren Polizeiduos, an den Straßenrändern machen Verkehrspolizisten in anderen Uniformen Kontrollen, um sich was dazu zu verdienen. Pro Kontrolle zehn Dollar, wenn Du kein Turkmene bist. Es gibt keine Strecke von mehr als hundert Metern ohne ein großes „Halk Watan Beyik Türkmenbashy“ - „Volk, Vaterland, großer Turkmenbaschi.“ Manchmal, wenn die Flache zu klein, weil die Schrift zu groß ist, steht nur „Halk Watan Türkmenbashy“ da. Auf das „Großer“ wurde verzichtet, das versteht sich. Turkmenistan hat eine Fläche, die ein Viertel größer ist als die Deutschlands, und eine Bevölkerung, 5,3 Millionen, die 16mal kleiner ist. Mehr als 90 Prozent des Landes sind Wüste, unbewohnbar, staubig. Der Rest ist zuplakatiert. Anders Ashgabat: Der Baschi hat angeordnet, dass Straßen keine Namen haben, nur Nummern. Eine Straße mit Namen gibt es noch, früher war das die Leninallee, jetzt heißt sie Türkmenbasy Sayoly. Turkmenbaschi übersetzt man mit „Vater aller Turkmenen“ oder auch Ursprung, Beginn aller Turkmenen. Sein Name war mal Saparmyrat Nijasow, er stammt aus Ashgabat, studierte am Polytechnikum in Leningrad, wurde KP-Chef Turkmenistans. Als die Sowjetunion zerfiel, schaffte er den Dreh und übernahm die Teilrepublik. Das freundlichste Bild von ihm biete das Plakat, das er am häufigsten aufhängen lässt. Der Baschi trägt ein helles blaues Jackett, sehr flott, und grinst spitzbübisch. Die Augen schmal, an den Seiten Falten, die Zähne strahleweiß, die Augenbrauen buschig. Er stützt sein Kinn in die Linke. Das ist ein Trick – sein drohender Unterkiefer ist so kaum zu ahnen. Dazu ein riesiger Ring und ein riesiges Uhrenarmband aus dem weiten Ärmel. Wenn man einen Fernscher anmacht – tja, Turkmenbaschi. Manchmal Reden, oft die Abnahme einer Parade, manchmal ein nettes Gespräch mit drei, vier hypernervösen Leuten, der 64-Jährige sitzt auf einer Couch, viel lächelnd. Die Kameramänner müssen arbeiten, damit man nicht sieht, wie dick er ist. Auch wenn er nur sitzt, nur von oben mit viel Gesicht und wenig Körper aufgenommen, ist er viel fetter als auf den Plakaten, so fett wie früher Breschnew. Das zweithäufigste Plakat ist das im schwarzen Jackett. Das ist ein Rätsel. Auf dem Foto wirkt er depressiv. Die Wangen und das Kinn kortisondick. Keine Hand verdeckt was. Vermutlich ist dieses Bild ein Versehen. Es soll Autorität zeigen. Die Haare, pechschwarz, sind eindeutig gephotoshopt. Hat er eine Glatze? Auf den 5000- und 1000-Manat-Scheinen sind die Haare richtig grau. Es war wohl zu schwer, das ganze Geld aus dem Verkehr zu ziehen, als er sich fürs Haarefarben entschied.

Mädchen Nummer vier sagt: „Kauf sein Buch!“ Es gibt eine deutsche Version. Ich finde die am Ruski Bazar. Es heißt Ruhnama. Im Schulunterricht ist die Ruhnama Pflichtfach. An der Uni gehört die Ruhnama-Abfrage zu jeder Prüfung, auch beim Führerschein kommt es vor allem auf das Ruhnama-Wissen an. Das dicke Buch handelt vom Land und wie man darin leben soll. Es fängt an mit der Landeshymne, getextet von ihm: „Das große Haus, erbaut von Türkmenbasy, Mein fester Staat, mein Herz, meine Seele.“ Einer der ersten Sätze ist: Meine geehrte turkmenische Nation! Ihr seid der Sinn meines Lebens, die Quelle meiner Kraft! Ich wünsche ein langes Leben für euch. Unsere Vorfahren waren ein tapferes Volk.“ Über viele Seiten weist der Baschi nach, dass die Turkmenen auserwählt sind, dass hier quasi die Menschheit begann, dass ihr Jahrhundert bevorsteht, ihr goldenes Jahrhundert. Die Ruhnama hat biografische Teile: „Kein Mensch hat miterlebt, was ich durchgemacht habe. Deshalb kann mich niemand verstehen.“ Sein Vater starb im Krieg, wurde im Kaukasus von Deutschen erschossen, als Saparmyrat vier war. Was eigentlich dazu führen müsste, dass Deutsche keine Chancen in Turkmenistan haben. Jedoch hatte der Baschi vor ein paar Jahren Herzprobleme größerer Art und wurde in München rechts der Isar operiert. Er ist dankbar, er hat einen deutschen Leibarzt und fährt einen 600er Mercedes. 1948 war das große Erdbeben von Ashgabat: 80 Prozent der Stadt zerstört, laut Baschis Buch starben von 198.000 Einwohnern 176.000. Auch Baschis Mutter und seine beiden Brüder. Er war, im Alter von sieben, Waise, kam ins Heim. Hat sich durchgebissen, zäh. Wurde Turkmenbaschi und familienfixiert. Er hat einen Sohn: der ist Geschäftsmann, lebt in Moskau, sagen welche, nein in Sankt Petersburg andere. Noch wer: in Paris. Das hört man öfter. Manchmal gar: er habe auch eine Tochter. Es gibt Meldungen, er schreibe ein zweites Buch.

Das traurigste Bild zeigt ihn mit vier oder fünf neben seiner Mutter in der landestypischen Tracht, was Buntes auf dem Kopf und ein weites Kleid. Links daneben der Kleine, mit Jammerblick.

Mädchen Nummer zwei geht nicht zur Uni, sie genießt erhöhten Informantenschutz. Sie sagt: „Ich sag Dir jetzt mal was. Dieser Mann spinnt.“ Ich schau sie erschrocken an, und sie sagt: „Du weißt, wen ich meine. Nasayov.“ Sie sagt nicht Turkmenbaschi. Sie denkt: Irgendwann wird es plopp machen. Wegen irgendeines Zufalls wird es losgehen, und dann sind alle dabei. Soviel Angst gibt es gar nicht, diese Revolution zu verhindern.