Noch ein Tier, bitte!

Reportage
zuerst erschienen im Winter 04/05 in Dummy (Thema: Glauben), S. 40 - 51
ungekürzte Fassung des Autors
Ein Besuch in der Rinder-Tagesstätte

Oktober 1917, Mahatma Gandhi kommt nach Bettiah, ein kleines Dorf in Bihar im Norden Indiens und legt den Grundstein für einen weiteren Gaushala, ein Kuhasyl. „Der Schutz von Kühen ist für Hindus allererste Pflicht. Das ist heilige Arbeit“, ruft er für seine Verhältnisse laut den 300 Hörern zu. Er spricht lange über Religion, die Pflicht, Kühe vor dem Tod zu retten. Gandhi hat eine Metaebene in seiner Rede: jedes einzelne Wort, jedes, wirkt wie eine Anklage der englischen Kolonialherren. In Indien muss man zu der Zeit nur das Wort Kuh und das Wort Schlachten in einen Satz packen, um zum Widerstand aufzurufen, in Gandhis Fall zum friedlichen. Politik gegen Engländer gleich Schutz für Kühe. Über ein Jahrhundert hatte es immer wieder blutige Erhebungen der Hindus gegeben, um Kühe zu retten. Das Wort Gaushala, setzt sich zusammen aus Kuh und Schutz, steht für einen Ort, an dem die für jeden Hindu, aber auch für andere indische Religionsgemeinschaften, zum Beispiel die Jains, heiligen Tiere sicher sind, in Frieden alt werden und sterben können. In Bettiah sagt Gandhi: „Es sollte uns bewusst sein, dass es Schlachthäuser in jeder größern indischen Stadt gibt. Tausende von Kühen und Bullen werden darin geschlachtet.“ Für die Briten. In Gandhis gesammelten Reden und Schriften ist noch eine weitere Ansprache, die er in Bettiah hielt, drei Jahre später und wieder im Gaushala. Diesmal klingt er noch aggressiver. „Während die Mosleme Kühe nur gelegentlich schlachten wegen des Fleisches, halten es die Engländer nicht einen Tag ohne Fleisch aus.“ Eine Zeitlang habe er gehofft, man könne mit ihnen reden, sie überzeugen. „Nun ist diese Hoffnung vergangen und ich habe dazu aufgerufen, nicht mehr mit ihnen zusammenzuarbeiten.“ Der Aufstand gegen die Briten hatte in Indien nun richtig begonnen.

Heute, im Bombay Pinjrapole, auch das Wort kann man nur mit Kuhasyl übersetzen, nahe dem großen Mathobag Tempel der Jains in der Altstadt. Im Innenhof überall Kühe, schöne, fette Kühe, die wesentlich entspannter wirken als die, die auf den Straßen überall in Indien rumlungern. Der Pinjrapole wurde am 18. Oktober 1834 gegründet und wirkt fast so, als habe sich nichts verändert. Da sind ein paar nicht gerostete, was in Indien selten ist, Metallstangen, aber vor allem Holz und Mörtelputz. Um den Pinjrapole herum sind die Gassen eng und vollgestopft, in dem Innenhof herrscht Ruhe, die einzelnen Ställe sind nicht vollgestopft mit Kühen. Draussen Marktstände, Dreiradtaxis, ab und zu ein Auto, viele Fußgänger. Und manchmal trottet eine Kuh herum, hält alles auf. Sie darf das, sie ist heilig. Auch weiter draußen in Mumbai, früher: Bombay, gilt noch immer, wenn eine Kuh auf der Straße ist, haben alle Rücksicht zu nehmen. Allerdings ändert sich in der Finanzmetropole und mit Bangalore weltlichsten Stadt Indiens da gerade einiges. Alte Religion verliert an Bedeutung, Geld ist die neue. Die Stadtverwaltung lässt jetzt herrenlose Kühe einfangen. Sie stören den Verkehr, könnten Investoren abhalten. Der Taxifahrer beispielsweise versteht wirklich nicht, warum die Europäer es so ruhig hinnehmen, dass jetzt schon fünf Minuten kein Rad mehr rollt auf der Straße unter dem Stadt-Highway auf Betonpfeilern in Borivali, einem engen Slum, weil da diese drei Kühe stehen. Ihn ärgere das, er könne das nicht als nett und unterhaltend sehen. Nein, er sei nicht religiös. Er sieht sich als moderner Inder. Mumbai ist keine Kuh-Stadt mehr. In einigen Bezirken von Delhi und Chennai bestimmen Kühe viel mehr das Tempo des Verkehrs, auf dem Land, in den Dörfern sowieso. Vor allem aber in Varanassi, früher hieß die Stadt Benares, der heiligen Stadt am Ganges, einem wahren Kuhparadies.

Auffällig im Pinjrapole in Mumbai ist, dass die 240 Kühe hier alle von einer Rasse sind, braun, relativ kurze Hörner, ziemlich rege. Der Tempel ist wohl reich. Klingt absurd, aber die Kühe wirken zufrieden, entspannt. Viele Hindus ärgern sich, dass irgendwann in den 70er Jahren Kühe aus Australien und Europa importiert wurden, um zu züchten. Die Mischlinge seien nicht schön. Es kostet 50 Rupien, etwas mehr als ein Euro, um im Pinjrapole einen großen Büschel Gras zu kaufen oder eine Handvoll Getreidekörner. Morgens und abends, wenn die Leute auf dem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit sind, herrscht Andrang. Bis zu 1000 Grasbüschel und 300 Handvoll Körner täglich werden gekauft. Die Gläubigen wollen ihren Teil tun und Kühe füttern. Ramesh Bhardwaj ist Kaufmann, er trägt einen schicken blauen Anzug und sagt, er sei eigentlich nicht religiös, aber, nun ja, er druckst herum, vielleicht sei er doch religiös. Es gehöre sich einfach, den Kühen Gras zu geben. Sei ja auch Tradition. Bringt es Glück? Er überlegt extrem lange, lacht plötzlich etwas verlegen und sagt schließlich: „Ja, es bringt mir Glück in dem Sinne, dass ich etwas Gutes tue, etwas Wichtiges. Ich fühle mich danach besser.“ Er hat gelacht, weil er ein moderner Inder sein will, Computer, Börse, Wachstum, Vorwärts, gleichzeitig aber noch dem Alten verhaftet ist, Kühe, Tempel, ja, er sei Vegetarier. Er empfindet einen Widerspruch. Die Zeiten haben sich geändert.

Pinjrapole ist ein Kuhasyl der Jains. Übersetzt heißt das die Sieger. Sie sind eine kleine Religionsgemeinschaft, keine Hindus. Sieger, weil sie Unwissenheit und Begierde besiegen wollen. Bisher haben das 24 von ihnen geschafft, zuletzt Vardhamana Mahavira, im 6ten Jahrhundert vor Christi Gebut. Extrem gläubige Jains tragen ein Tuch vor dem Mund, damit sie auf keinen Fall ein Insekt einatmen. Und sie fegen mit einem Besen vor jedem Schritt den Boden frei, damit sie auf kein noch so kleines Wesen treten. Natürlich sind diese eine Minderheit der Minderheit. Vegetarier sind Jains aber auf jeden Fall. Und heute die engagiertesten Kämpfer für die Kühe. Reiche Inder, Jains sind meist Kaufleute, hatten dem Tempel Kühe geschenkt. Das war früher der Weg, etwas für die Religion zu tun: man gibt dem Tempel oder dem Waisenhaus, dem Krankenhaus, der Schule, der Uni heilige Tiere.

Szenenwechsel. Der Hare Krishna Tempel in Juhu, einem reichen Vorort von Mumbai. Hier wohnen viele Bollywood-Stars. Die Hare Krishnas entstanden erst in den 60er Jahren und auch noch in New York, sind eine kleine Minderheit in Indien, viele Amerikaner und Europäer beten hier, um den Gott Krishna zu verehren. Vor dem Ashram steht eine indische Frau mit Kuh und einem Ballen Gras. Ein Büschel, kleiner als im Pinjrapole, kostet 10 Rupien. Szenenwechsel zu den Hare Krishnas, weil hier Bhima Das ist. Er kann einem Menschen aus einem anderen Kulturkreis gut erklären, warum Kühe in Indien heilig waren und sind. Er stammt aus den USA, dem Akzent nach aus dem Nordosten, ist schon lange in Indien und im „Hare Krishna Land“ von Juhu, so heißt der Ashram wirklich, einer der Wichtigen. Bhima Das weiß, dass Fremde anders denken und reduziert die Erklärung auf die vermeintlich wichtigen, für sie logischen Sachen. Gerade hat er noch im Tempel mit komplizierten, verdrechselten und, für Menschen aus dem Okzident, Wischiwaschi-Sätzen den Gläubigen und den Suchenden erklärt, was ihr Gott Krishna von ihnen erwartet. Nun sitzt er auf dem Boden seines kleinen Büros, checkt die Emails und spricht in kurzen Sätzen, Manager-like: „In den Veden steht, dass Kühe heilig sind. Auch in vielen alten Überlieferungen.“ Die Veden sind mehr als 2000 Jahre alt, in Sanskrit, der alten, heute kaum noch verwendeten Sprache Indiens, verfasst. Bhima Das schaut kurz auf und beschliesst, gleich zum Kern zu kommen.

„Kühe sind heilig, weil sie Milch geben. Das ist sehr wertvolle Nahrung. Ein Kind wird von der Mutter gesäugt, dann bekommt es Kuhmilch. Allein deshalb sollte die Kuh schon geschützt werden.“ Er sagt, was viele Inder sagen: „Die Kuh ist die Mutter.“ Man macht aus Milch Ghee. Das ist eine lange gekochte und eingedickte Soße, am Ende ein Öl. Zu Ayuveda gehört Ghee. Wenn es erstarrt, wird es in Form eines Quaders gepresst. Inder schneiden ein Stück davon in ihren Reis oder benutzen es als Brat- oder Kochfett. Es schmeckt gut. „Früher war Ghee sehr wichtig für Opfer. Es wurde ins Feuer gegeben. Heute auch noch, aber nicht mehr so oft und viel wie früher. Kuhdung, Gabar, war wichtig früher, der beste Dünger. Gepresst wurde er für den Hausbau verwendet. Der Kuhurin war wichtig, antiseptisch, hielt die Mücken fern. Kühe waren wichtig, um die Wasserräder zu drehen. Kuh steht für Mutter. Eine Kuh macht aus Gras Milch. Man kann soviel aus Milch machen. Man braucht das Fleisch von Kühen nicht, absolut nicht. Die Milch zu verwenden ist ein nobler Weg, Leben von der Kuh zu nehmen. Sie schenkt es Dir. Man darf sie nicht töten. Leider wurde sie in den alten Zeiten viel besser geschützt. Wie heute mit Kühen umgegangen wird, sagt viel über unsere Zeit. Wir leben in Kali Yoga, dem Zeitalter der Heuchelei und Scheinheiligkeit.“

Die Hare Krishnas teilen die Entwicklung der Welt in vier Abschnitte, Zeitalter. Wir befinden uns, so denken sie, gerade in einem nicht so guten, etwa am Übergang vom Herbst auf den Winter. Es ist also schon schlimm, wird aber noch schlimmer. Für sie gilt auch: „Wenn Du ein Tier tötest, erleidest Du Kharma. Kharma ist eine Reaktion darauf, was wir tun. Du machst was und es begleitet Dich in Dein nächstes Leben, als Kharma.“ Kann also eine Last sein. Man tötet kein Tier, denn irgendwann mal, Kharma, bist Du vielleicht ein Tier. Eine Kuh zu töten, reduziert Deine Chance für ein besseres nächstes Leben. Nicht nur die Hare Krishnas glauben an Kharma, auch die Hindus, die Buddhisten, die Jains. Deren 24 Sieger sind Menschen, die wegen ihres perfekt geführtes Leben aus dem Zyklus der Wiedergeburten befreit werden, also ins Nirvana gelangen. Bhima Das sagt mit viel Tiefgang, nicht so locker wie beim Rest des Gesprächs: „Der Körper verbraucht sich, aber die Seele nie.“ Dabei legt er eine Hand auf die Brust. „Ja, wenn Du eine Kuh tötest, tötest Du vielleicht Deinen Onkel. Jetzt ganz vereinfacht gesprochen. Auf jeden Fall belastet es Dein nächstes Leben. Aber mal ganz ehrlich, abgesehen von dem allen, warum muss man eine Kuh töten? Gibt es einen wirklichen Grund? Fleisch?“, sagt Bhima Das und reicht die Blechdose mit den Bonbons, der in Indien üblichen Mischung aus Kuhmilch und Zucker.

Um 1800 hatten sich die Engländer in Südindien endgültig durchgesetzt und drängten nach Norden. Ihre Politik dabei war folgende: sie ließen die Maharadschas an der Macht, offiziell zumindest, traten als deren Helfer auf, spielten sie gegeneinander aus. Es gab allerdings ein paar starke Herrscher in Nordindien, die konnten in den Verträgen durchsetzen: ihr dürft in mein Land, aber in meinem Herrschaftsgebiet wird keine Kuh geschlachtet. Die Maharadschas von Rajasthan, Jodhpur und Udaipur, die militärisch am stärksten waren, hatten solche Verträge mit den Schutzherren. Die Herrscher wollten die Briten einerseits benutzen, um ihre Nachbarn in den Griff zu bekommen. Sie konnten, weil sie mächtig genug waren, gleichzeitig den Briten das Kuhschlachtverbot aufzwingen. Maharadscha Ranjit Singh war der mächtigste im Norden, leistete lange Widerstand, auch als schon britische Truppen in seinem Land standen. Bei seinem Tod drohte Chaos, vor allem in Kashmir, das zu seinem Herrschaftsbereich zählte. Die einzige Chance, sich zu halten, bestand für die Briten, einem neuen Kuhschlachteverbot zuzustimmen. In Rajastan, wo die Gefahr eines Aufstands immer am größten war, die Bevölkerung als kriegerisch und kriegsgeschickt galt, wurde quasi bis 1947 keine Kuh mehr geschlachtet. Briten bekamn ihr Fleisch aus anderen Provinzen geliefert. Auch anderswo gab es solche Deals. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Herrscher von Travancore, Mysore, Ramnad, Baroda, Indore, Gwalior, Kolhapur und viele der Kathiawad Staaten schriftliche Kuhverträge mit den Besatzern hatten und viele andere wohl mündliche Absprachen. Nur: die Engländer mussten ihre Soldaten füttern, und die wollten Fleisch. Versuche, Schlachtereien in Kasernen vor den Hindus zu verbergen, funktionierten nie lange, weil unter den Soldaten auch im Land angeworbene Hindus waren.

Bis etwa 1830 konnten sich die Briten einigermaßen durchmogeln, dann gab es erste Meutereien und Aufstände. Das Leiden der Kuh wurde zu dem großen Symbol dafür, dass die Kolonialisten schlecht sind und weg müssen. Es zog sich bis zum Ende der britischen Herrschaft durch die Geschichte des Subkontinents. Gerüchte machten die Runde, dass die etwa 20000 britischen Soldaten ihre Kugeln mit Kuhfett einschmieren. So eine Art Voodoo traute man den Weißen zu. Jahrelang boykottierten die Inder den von den Briten ins Land gebrachten Zucker, weil geflüstert wurde, es würde Kuhgelatine zur Zuckerraffinerie verwendet werden. Vierzig Jahre zog sich der Mythos durch Indien, mal entdeckte ihn der britische Geheimdienst in Delhi, mal in Bengal, mal in Armisatr, mal in Lahore. Zucker verkauften die Briten, anders als Tee und Salz, sehr wenig in Indien.

Schon ab 1800 gab es Aufstände, um Kühe zu retten, nach dreißig Jahren dann immer mehr. 1857 der erste große Aufstand, ein Flächenbrand: die Briten schlugen ihn brutal nieder. Die Folge: nun waren fünfmal soviel britische Soldaten, 100000, im Land. Die brauchten mehr Proviant. Also wurden mehr Kühe geschlachtet. Devote Inder beklagten später immer wieder, der Widerstand habe zu mehr Kuhschlachtungen geführt. Ab 1860 kämpften vor allem die Sikhs im Punjab mit der Überzeugung, ein Herrscher, der es zulässt, dass Kühe geschlachtet werden, darf nicht Herrscher sein. Die Sikhs haben den Ruf, harte gefährliche Krieger zu sein, ihr Land war, mit Rajastan, immer das unruhigste in Indien. Die Sikh-Sekte der Kukas kämpfte offen und verdeckt mit Terrormitteln aus einem einzigen Grund gegen die Besatzer: Rettet die Kühe! In dieser Zeit begannen in ganz Indien viele Wandermönche herumzuziehen und gegen die Engländer zu agitieren. Immer war das erste Argument: diese Menschen schlachten Kühe. Ein Teil dieser Sanyasins und Swamis war später Vorbild für Gandhi: sie baten die gläubigen Hindus, friedlich zu bleiben und wo immer es ging, Kühe zu kaufen, am besten natürlich von Schlachtern. In dieser Zeit wurden hunderte von Gaushalas in Indien gegründet.

Das Konzept war alt, seit 5000 Jahren gebe es Kuhasyle in Indien, sagen Wissenschaftler, in den Veden stehe, dass Kühe heilig sind und Anspruch auf die Hilfe der Menschen haben. Und: neben dem religösen Argument tauchte ein wirtschaftliches auf. Erstmals rechnete im Frühjahr 1881 in dem Flugblatt „Gau Karunanidhi“ Swami Dayananda, ein inzwischen zu einer Legende verklärter Wandermönch, vor: eine Kuh kann soundsoviele Menschen ernähren, wenn man sie schlachtet, nur soundsoviel. „Kühe zu töten führt am Ende zum wirtschaftlichen Tod einer Gesellschaft. Es zerstört die natürliche Ordnung und die Harmonie des Universums.“ Diese Kombination von Wirtschaft und Religion tauchte nun immer wieder in Flugblättern auf. Dayananda war es auch, der Unterschriften gegen das Kuhtöten sammeln ließ, um sie Queen Victoria in London zu schicken. Sein Ziel waren 10000 Unterschriften gewesen. Es ist nicht klar, wieviel Unterschriften tatsächlich zusammenkamen, aber allein vom Kleinstaat Mewar aus wurden 40000 nach London geschickt, von Patiala aus 60000. Sie wurden ignoriert. 1893/94 kam es zum zweiten großen Kuh-Rettungs-Aufstand in Indien mit tausenden von Toten. Wieder setzten sich die Briten durch.

In den Schlachthäusern arbeiteten meist Moslems. Laut Dharampals Standardwerk „The British Origin of Cow-Slaughter in India“ ist das der Grund für den heute so dominanten Hass zwischen den moslemischen Pakistanis und den Indern. Weiter zurück: Als die Vorgänger der Briten, moslemische Mogule mit ihren Truppen, 1200 in Indien eingedrungen waren und sich im Norden durchgesetzt hatten, schlachteten sie anfangs Kühe öffentlich, um den besiegten Hindus zu demonstrieren, wer jetzt die Macht hat. Später nutzen die moslemischen Mogule immer wieder ein Druckmittel: Ihr gebt Ruhe oder wir schlachten Kühe. Also herrschte Ruhe, Kühe wurden kaum geschlachtet, die Situation entspannte sich und um 1700, als die Mogulherrschaft zu Ende ging, starb so gut wie keine Kuh mehr in ihrem Herrschaftsbereich beim Metzger oder bei Opferungen. Erst unter der englischen Besatzung wurde der Gegensatz Hindus Mosleme größer. Die Engländer stützen sich in Indien vor allem auf die Mosleme. Königin Victoria schrieb am 18. Dezember 1893 oder besser ließ nach der zweiten großen blutigen Welle der Kuh-Rettungs-Aufstände in ihrem Namen schreiben: „es gibt die Notwendigkeit, fair zu sein, aber ich denke, die Mosleme brauchen mehr Schutz als die Hindus, sie sind viel loyaler uns gegenüber. Die Aufstände gegen das Mosleme Kuhschlachten sind nur ein Vorwand, eigentlich richten sie sich gegen uns. Wir schlachten ja viel mehr Kühe als die Mosleme.“ Wie gesagt: die britische Armee schlachtete nie öffentlich, immer in den Kasernen.

Die Mosleme aber lebten direkt zwischen den Hindus und einige von ihnen opferten einmal gegen Ende des Jahres, das genaue Datum ändert sich je nach Stand des Mondes, am Feiertag Bakar Id, einen Bullen. Bakar ist arabisch für Kuh. Früher haben Araber oft auch Kamele an diesem Tag geschlachtet. Als sie ab 1200 Nordindien besetzten, gingen sie oft auf Kühe über. Es gab ja so viele. Historiker haben nachgewiesen, dass im ganzen moslemisch regierten Nordindien höchstens 20000 Kühe jährlich geschlachtet wurden, meist zu Bakar Id. Und: Es gab eine Phase von 200 bis 300 Jahren, in denen die Mosleme in Indien keine Bullen schlachteten. Die meisten Mosleme in Indien stammen von damals konvertierten Hindus, die auch als sie Mosleme geworden waren, traditionell keiner Kuh was zuleide taten, ab. Dennoch wurde unter der Herrschaft der Engländer Bakar Id zu dem Tag mit dem größten Krisenpotential in Indien. Die Besatzer bevorzugten meist die starke Minderheit der Mosleme, um die Hindus besser in den Griff zu bekommen. 1890 boykottierten die Hindus beispielsweise in Aligarh moslemische Geschäfte für fast ein Jahr wegen einer Schlachtung, die ihrer Meinung nach zu öffentlich stattgefunden hatte. Von Aligarh ging auch, kurz vor dem zweiten großen Kuhrettungsaufstand, der Kettenbrief aus, der überall in Indien unterwegs war. Der Handzettel sagte: wer Moslemen Kühe verkauft, ist auch ein Kuh-Töter. Wer einen solchen Zettel bekam und nicht mindestens vier weiterleitete, sei, auch wenn er Hindu ist und keiner Kuh was zuleide getan habe, ein Küh-Töter. Queen Victorias Vizekönig von Indien, Lord Lansdowne schrieb ihr in seinen langen „Notizen über dir Anti-Kuh-Tötungs-Bewegung“ am 28.12.1893, dass man um des Friedens Willen einführen sollte, dass ab sofort nur noch der Moslem, der auch im Vorjahr nachweisbar Bakar Id mit einem Bullenopfer gefeiert habe, wieder einen Bullen töten darf. Und dass die Tötung nur „in passender Privatsphäre“ stattfinden dürfe. Beamte der Kolonialregierung sollten die Orte der Schlachtung vorab inspizieren. Was die Queen ablehnte. Die Mosleme seien zu unterstützen, nicht die Hindus.

Als Indien 1947 selbstsständig wurde, musste der Versuch, es vereint zu halten, bald aufgegeben werden. Pakistan spaltete sich rasch ab. Die britische Kolonialpolitik, die beiden Religionsgemeinschaften gegeneinander auszuspielen, hatte sich längst verselbständigt. Anuradha Sawhney, eine junge, gebildete, smarte, nicht religiöse Hindu, die das PETA-Büro in Mumbai leitet, sagt beispielsweise: „es ist ein Automatismus. Wenn ich mit einem Pakistani, also einem Moslem, zusammenkomme, werde ich, wegen meiner Erziehung, ganz vorsichtig. Das ist nichts rationales, es ist ein Instinkt, den alle Hindus haben. Auch wenn sie noch so aufgeklärt sind.“ PETA ist die grosse Tierschutzorganisation. Millionen von Flüchtlingen zogen nach der Trennung durch Indien, Mosleme gingen nach Pakistan im Norden, Hindus von dort nach Süden. Das war eine der größten Völkerwanderungen der Menschheitsgeschichte, bei weitem größer als die nach dem Ende des römischen Reiches in Europa. Die beiden Staaten, beide Atommächte, stehen regelmäßig gefährlich nah am Rande eines Krieges. Kashmir, das zu Indien gehört, aber einen großen Moslemischen Bevölkerungsanteil hat, ist Bürgerkriegsregion. In Indien entstehen nach der Loslösung von Großbritannien Gaushalas zuhauf. Die Verwaltung des neuen Staates gründet allein 160, manche davon können bis zu 2000 Kühe aufnehmen. Aber die Gosadans, so heißen die staatlichen Gaushalas, sind unbeliebt, zu groß, sie werden der einzelnen Kuh nicht gerecht, heißt es. Gaushalas und Pinjrapoles, betrieben von Stiftungen und Vereinen haben einen besseren Ruf. Etwa 3000 gibt es um 1950 in Indien. Ab und zu, immer im Wahlkampf, bekommen sie finanzielle Unterstützung vom Staat, so überreichte 2000 der damalige Regierungschef Jaswant Singh, begleitet von mehreren Bussen voll Journalisten persönlich Schecks in neun Gaushalas.

Rajendra K. Joshi vom Vinijog Parivar Trust, einer Tierschutzorganisation in Mumbai, der als Anwalt und Kläger vor Gericht im vergangenen Jahrzehnt schon zehntausende von Kühen rettete, berichtet, in seinem engen, bescheidenen kleinen Büro sitzend: „Gandhi sagte, das erste, was wir machen nach der Unabhängigkeit, ist das Verbot, Kühe zu schlachten.“ Was auch gelang. In Artikel 48 der indischen Verfassung steht: Kühe dürfen nicht geschlachtet werden. Basta. Aber: es steht auch drin, dass man nicht gegen einen indischen Bundesstaat klagen und sich dabei auf die indische Verfassung berufen kann. In den Bundesstaaten Kerala und West Bengal, die beide kommunistische Regierungen haben, ist Küheschlachten erlaubt. „Täglich fahren 1000 Lastwagen dahin, vollgestopft mit Kühen. Das Gesetz, dass nur sechs Kühe in einen Laster dürfen, wird ignoriert. Es fließt viel Bestechungsgeld, weil es viele Einschränkungen gibt für diese Transporte.“ Kuhhandel und Kuhschlachten ist für Joshi ein Krebsgeschwür der indischen Gesellschaft, das zu Korruption führt. In den anderen Bundesstaaten gilt, keine Kühe schlachten, Bullen aber schon. „Das ist natürlich Wortklauberei. Als das in die Verfassung geschrieben wurde, stand das Wort Kuh für die Gattung, nicht für das Geschlecht, Bullen gehörten auch dazu, die Bakar Id Krisen belegen das ja eindeutig. Damals wurden Bullen geschlachtet, was zu Krisen führte. Heute ist es eine absichtliche, böswillige Missinterpretation. Heute werden Massen von Bullen geschlachtet.“ Solche Uminterpretationen gibt es mehrere. Grund dafür, so Rajendra Joshi, ist die neue Religion, das Geld. „Politiker denken heute nur noch an Geld.“

Joshi spricht sehr leise, er ist ein für europäische Verhältnisse fast schon zu friedfertiger Mann, arbeitete siebzehn Jahre bei einer Bank und fühlte sich nicht gut. Als ihn der Vorsitzende der Tierschutzorganisation bat, doch für ihn zu arbeiten, sagte er ja, verzichtete auf viel Geld. Seitdem fühlt er sich besser. Er trinkt keinen Tee, nur Milch. Denn Tee, den es heute immer, überall und ohne Pause gibt, ist eigentlich kein indisches Getränk. Die Engländer haben ihn anfangs kostenlos verteilt, bis sich alle daran gewöhnt hatten, dann kostete Tee plötzlich was und wurde ein großes Geschäft. Joshi ist einer der Inder, die in ihr Hindi kein englisches Wort einbauen, wobei er doch englisch perfekt spricht. Heutzutage wird auf den Straßen Mumbais meist ein Mischmach gesprochen, in einem Hindigerüst sind 30 bis 40 Prozent der Worte englisch. Wer das nicht macht, zeigt sich als patriotischer Intellektueller. Joshi sagt was der Hare Krishna Anhänger Bhima Das auch gesagt hat: mit Kühen als Arbeitskraft konnte jeder Getreide ganz billig anbauen. „Keine Kosten für Arbeitskraft, Saaten, Dünger, so gut wie keine Transportkosten. Es war nicht nur Religion, es war auch Ökonomie. Früher wurde nie eine Kuh von einem Hindu geschlachtet, nie. Es wäre absolut unmoralisch gewesen, Kühe zu verkaufen. Man konnte sie nur dem Tempel schenken oder einer Universität oder Schule, um die zu finanzieren. Aber verkaufen wäre Sünde gewesen.“ Die britische Armee verlangte nach Fleisch und als viele amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg nach Indien kamen, um von dort weiter gegen die Japaner in Ostasien zu ziehen, wurden noch mehr Kühe geschlachtet. Joshi argumentiert nicht religiös, eher grün: die Leute verbrennen keinen Kuhdung mehr wie früher, sie sind noch arm, also hacken sie plötzlich Holz in den Wäldern. Nun rasselt das Wasser direkt durch, wird nicht von Wurzeln an der Oberfläche gehalten, also gibt es Erosion. „Die Kuh ist die Verbindung. Der ganze Kreislauf der Natur wird durch ihren Tod gestört.“

Es werde mehr Nahrung von Indiens wachsender Bevölkerung benötigt, also wird die Anbaufläche vergrößert. Wiesen, auf denen früher die Kühe grasten, verschwinden. Joshi geht so weit zu sagen: „Das Land gehört eigentlich den Tieren. Heute müssen die Bauern Futter für die Kühe kaufen, sie verarmen. Und die Idee Maximum Profit ist neu in Indien, die Ökonomie regiert nun und die Kuh ist plötzlich teuer. Deshalb laufen soviele herrenlos herum.“ Es ginge nur noch um Geld, Kühe werden massenhaft nach Bangla Desh und Pakistan geschmuggelt, zum Schlachten. In Indien wollen die Schlachthäuser die Kosten drücken, also seien die Zustände verheerend. Den Umstand konnte der Anwalt oft für erfolgreiche Klagen nutzen. „Es gibt einen großen Markt für Kuhhaut, vor allem nach Deutschland und Italien werden die exportiert. Das Fleisch geht nach Dubai, in die Emirate, nach Kuwait und Saudi Arabien.“

Die Zahlen laut PETA, der Tierschutzorganisation: 350000 Tonnen Kuh- und Rindfleisch werden jährlich aus Indien exportiert. Wert des Exports: Drei Milliarden Rupien, das sind etwa 70 Millionen Euro. Der Wert des exportierten Kuhleders ist viermal so hoch. Die Zahlen der Food and Agriculture Organziation der Vereinten Nationen: in Indien wurden 2003 14,5 Millionen Kühe und Kälber geschlachtet. Es gibt 3600 lizensierte Schlachthäuser in Indien, die dürfen keine Kühe schlachten, Ausnahmen sind die in Kerala und West Bengal. Dazu kommen, schätzt PETA, rund 32000 illegale Schlachterhäuser. Was dort geschlachtet wird, taucht in den Zahlen nicht auf. Was die 14,5 Millionen zu nichtigem statistischen Blabla macht. Das Indische Statistikbüro teilt mit: Indien ist nach China größter Lederschuhproduzent der Welt. 71 Prozent der Lederschuhe werden exportiert. Größer Importeur ist Deuschland, gefolgt von Italien, dann mit weitem Abstand die USA. Laut dem indischen National Food Survey und dem Indian Market Research Bureau sind heute noch 29 Prozent aller Inder absolute Vegatarier. Der Rückgang dieser Zahl in den vergangenen zehn Jahren sei rapide gewesen. Im Norden Indiens seien 53 Prozent der Haushalte bereits nicht vegetarisch, im Westen 58 Prozent, im Süden 84 Prozent, im Osten 94 Prozent. Mit Ausnahme der Computermetropole Bangalore und einiger Touristengegenden im Süden, ist Indien so geteilt wie früher Italien: der Süden ist arm, der Norden reich.

Die Erhebung stammt aus dem Jahr 2002. 19812 Haushalte wurden befragt. Was die Umfrage nicht gerade repräsentativ macht. Zumal nur in Städten mit mehr als 100000 Einwohnern Erhebungen gemacht wurden, in der Vergangenheit aber immer nachgewiesen wurde, dass auf dem Land wesentlich mehr Vegetarier leben als in den Städten. Tierschutzanwalt Rajendra Joshi mag diese Statistiken aus einem anderen Grund nicht und will sie erklären: „Die Mehrheit der Inder sind Vegetarier. Wenn man sie fragt, ob sie schon Mal Fleisch gegessen haben, sagen sie ja, weil sie irgendwann mal, bei einem Fest, einer Hochzeit vielleicht, Fleisch gegessen haben.“ Einmal im Jahr vielleicht oder einmal im Leben, aber eigentlich seien sie Vegetarier. Dann sei ein Fleischesser nicht automatisch ein Kuhfleischesser. Am häufigsten wird Hühnchen verzehrt in Indien. Laut UNO-Statistik wurden 2003 1,6 Milliarden Hühnchen in Indien geschlachtet. Chicken Massala ist fast schon ein Standardgericht in teureren Restaurants. Joshi sagt, wenn ein Inder Fleisch isst, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit Hühnchen. „Die meisten Inder würden nie Kuhfleisch essen, nie.“ Allerdings, die Statistiken zeigen etwas Wahres, sagt er. „Die Medien, die moderne Zeit, diese Gehirnwäsche, die überall abläuft und sagt, Fleisch sei modern, sei nahrhaft. Das bekommt man in Indien zur Zeit um die Ohren gehauen.“ Die Bombay Times meldet also: „Traditionelle Vegetarier werden zu Fleischessern, um sich der Mode anzupassen.“ McDonalds, der Konzern ist in Indien extrem gewachsen, bietet dennoch kein Rindfleisch an, fast nur Hühnchen. Schweinefleisch übrigens auch nicht, um keine Mosleme zu verärgern. Joshi ist sich sicher, dass die jungen Leute eher Fleisch essen als die alten. Und: „Die Religion verliert an Bedeutung. Also sterben mehr Kühe.“ Denn, Kuhfleisch ist billiger, es gibt ja soviele Kühe. Wenn man wo Büffelfleisch bestelle, sei in den meisten Fällen Kuhfleisch daruntergemischt.

Als Anwalt ist Joshi ein sehr erfolgreicher Kuhretter. Die Organisation Viniyog Parivar Trust wird von Anrufen nur so überschwemmt. Besorgte Hindus melden, wenn irgendwo Kühe in Laster geladen werden. Dann geht Joshi oder wer anders von der Organisation sofort zu dem zuständigen Gericht. „Und in 99 Prozent der Fälle können wir Illegales nachweisen. Einige Staaten erlauben nur, dass Bullen, die älter als 15 Jahre sind, geschlachtet werden dürfen. Der Bedarf für den Export ist aber größer. Also sind immer Kühe dabei.“ In jedem Bundesland gibt es einen staatlichen Schlachthof. Das System entspricht dem in Deutschland. Man bringt das Tier lebend zum Schlachthaus, dort wird es nach den Regeln geschlachtet, man kann sein Fleisch sofort wieder mitnehmen oder später abholen. „Aber die Hygienebedingungen entsprechen so gut wie nie den Gesetzen. Die Laster sind zu vollgepackt. Und so weiter.“ Irgendwas lässt sich immer finden. Im staatlichen Schlachthaus von Mumbai, Deonar, werden täglich etwa 6000 Tiere geschlachtet. Bei Bullen gilt das Gesetz, dass er älter als 15 Jahre sein muss. „In dem Schlachthaus ist ein Tierarzt, der kann rein logisch nur noch unterschreiben und abstempeln, aber nicht kontrollieren. Er kann auch nicht ständig schauen, ob Kühe dabei sind.“

Eine Liebesgeschichte: Abrar Qureshi ist eigentlich Moslem. Er stammt aus einer Familie von Schlachtern. Sein Großvater war einer. Zwei seiner Onkel und drei seiner Cousins verdienen ihr Geld in Mumbai als Metzger. Sie haben vier Läden am Crawford Market. Sie dürfen keine Kühe schlachten, nur Bullen eines bestimmten Alters oder Büffel, Hühner. Aber keine Kühe. Sie hassen Abrar, ihren Cousin. Der ist gläubiger Moslem, kämpft aber für Kühe. Abrar, ein massiger ruhiger Mann, der wie eine Drohung wirkt, einen furchteinflößenden Blick hat, lernte als Schüler Jayashree Sarakskar, heute Zeenat Qureshi kennen, eine Hindu. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie sind 33 Jahre verheiratet. Abrar, der als Vertreter für Trockenfrüchte arbeitete, Besitzer einer kleinen Textilfabrik wurde und ständig im Großraum Mumbai unterwegs ist, um Händler für seine Kleidung zu werben, kämpft seit mehr als zehn Jahre richtig für Kühe. Davor sei es mehr Theorie gewesen, gut, kein Fleisch essen, mit Leuten reden, aber mehr nicht, was ihn beschäme. Jetzt aber ist er richtig dran. Ständig „Raids“, Razzien. Einmal, zweimal die Woche ziehen sie und die Jungs aus dem Bekanntenkreis los. Die sind mit Hockeyschlägern bewaffnet. Nachts um drei dringen sie in Hinterhöfe ein, in Metzgereien, in Lagerhallen, in Teeläden, die im Hinterzimmer Kuhschlachtungen haben. Das ist lukrativ, Kuhfleisch wird ja Büffelfleisch untergemischt oder Schweinefleisch oder irgendwas, denn es ist das billigste Fleisch, wenn es illegal geschlachtet wird.

Immer wieder gab es Gefechte. Der Polizei könne man nicht trauen, die komme nicht, sei meistens geschmiert von den Schlachtern, sagt Abrar. Also stürmt der die Schlachtereien mit eigenen Leuten. Einer seiner Helfer, er holt Fotos hervor, sitzt seit einer Raid querschnittsgelähmt in einem Rollstuhl. Einer hat, verletzt von einem Schlachterbeil, einen Fuß verloren. Auf Abrar wurde mehrfach geschossen. Hier, sagt er, sind die Artikel. Er legt drei dicke Ordner mit Zeitartikeln. Horrorgeschichten. Triumphe auf den Tisch. Wie er, der einsame Held mit Hilfe seiner ihn innigst liebenden Frau, die Fleischmafia in die Knie zwang. Gut, eine der Fleischmafias immerhin. Er hat Listen, abgezeichnet vom Animal Welfare Board of India, eine Behörde der Zentralregierung, mit seinen Erfolgen dabei: 8 Tonnen Kuhfleisch sichergestellt, drei Tage später 222 kg, am nächsten 385 kg. Manchmal hat er über Wochen täglich Fleisch oder lebende Kühe beschlagnahmt. Die Pausen sind selten länger als zehn Tage, die Listen belegen Jahre. „Ja, wir bekommen viele Anrufe. Es gibt viele Menschen, die Schlachter nicht mögen.“ Er zeigt seine Narben von Messerstichen am Bauch. Es sind definitiv keine Operationsnarben. Was er macht, sei gefährlich, sagt er dümmlich grinsend. „Ich habe keine Angst, ich tue es für die Tiere.“ Er ist eitel, es könnte durchaus sein, dass er Kühe rettet, weil er gerne Artikel über sich und Fotos von sich in den Zeitungen sieht. Magazine wie India Today lieben ihn. Er ist in der 12 Millionen Stadt Mumbai eine Society-Größe, bekannt, als Tierschützer beliebt, allerdings oft auch in Frage gestellt, schließlich ist er Moslem. Abrar hat 98 Artikel, in Hindi und englisch, mitgebracht, in denen er auftaucht. Das seien nicht mal alle. Fernsehsender schicken Kamerateams mit auf seine Raids. Er hat in Delhi einen Orden bekommen, den Venu Menon Special Award der Jury für sein Kuhengagement. Er kramt herum, findet zum Glück den Prospekt, deutet auf sein Foto. Hätte er das nicht vorführen können, hätte es eine Krise gegeben. Das ist den Gesichtern seiner Frau und seiner Tochter anzusehen.

Von Maneka Gandhi und ihrem Wildlife Trust of India, die ihm auch den Orden überreicht hat, spricht er viel. Maneka Gandhi, Witwe von Sanjay, dem Sohn Indira Gandhis, der ihr Nachfolger werden sollte, aber bei einer Flugstunde abstürzte und starb, ist die bekannteste Tierschützerin, also auch Kuhschützerin, Indiens. Sie hat die Qureshis schon oft besucht, erzählt er. Er zeigt Fotos: Maneka Gandhi auf seiner Wohnzimmercouch mit seinen Kindern, mit seiner Frau, mit ihm. Wenn man ihn erlebt, wie er seine Zeitungsartikeln vorführt, weiß man: Abrar ist extrem eitel. Er deutet mehrfach auf die Fotos von sich und Maneka Gandhi. Für Kuhhelfer ist Maneka Gandhi geradezu heilig, obwohl sie als Politikerin einen suspekten Ruf hat. Sie hat einmal die Partei gewechselt. Sie war Umweltministerin, zuständig für Tierschutz, von 1989 bis 1991. Danach kurz Sozialministerin und Ministerin für Statistik und Programm-Implementierung, immer in Regierungen der eher religiös orientierten BJP. Nicht bei der Congress Party wie ihr Mann, ihre Schwiegermutter Indira, ihre Schwägerin Sonja und deren Mann Rajev, der wie seine Mutter Ministerpräsident war und bei einem Anschlag starb. Ein paarmal wurde Maneka Gandhi auch als unabhängige Kandidatin, einziges Wahlkampfthema Schutz von Tieren, vor allem Kühen, in die Lok Sabha, das Unterhaus, gewählt. Die Kennedys oder die Bushs sind klein und bedeutungslos für die USA verglichen mit den Gandhis für Indien. Wobei die Namensgleichheit mit Mahatma Gandhi zufällig ist, sie sind nicht verwandt, Indira Gandhi ist eine geborene Nehru und hat einen Parsen, der zufällig denselben Namen wie der indische Übervater Mahatma Gandhi hatte, geheiratet.

Ok, Maneka Gandhi, die oft auch Menka genannt wird, besucht die Qureshis oft, hat sie auch schon eingeladen. Seine Organisation People Who Care for Animals ist inzwischen ein Name in der Szene, Abrar auch noch staatlicher Tierschutz Officer zur Prevention von Grausamkeiten gegenüber Tieren ehrenhalber. Das ist ihm wichtig. Man muss dazu wissen, dass es in Indien massenhaft Non Govermental Organisations und Vereine gibt, die Tiere retten, Kühe vor allem. Das ist durchaus eine Geldquelle. Um Kühen zu helfen, wird viel gespendet. Viele sammeln. Es ist wahrscheinlich inzwischen lukrativer, Kühe zu retten als Kühe zu schlachten.

Seine Familie, die Schlachter zumindest, hasst ihn, mehrfach schon stürmte er die Beef Shops seiner Cousins und seiner Onkel. Aber die Liebe seiner Frau sei das Wert. Als er das sagt, lächelt die. Die beiden wissen, so was wollen die indischen Journalisten, wahrscheinlich auch die aus dem Ausland, weil es so romantisch klingt. Sie hat sehr große Augen, lächelt wie ein Sonnenaufgang und sagt mehrmals, „es geht nur um Menschlichkeit“. Jasmin, ihre älteste Tochter, sitzt als Dolmetscherin dabei und sagt, „der Koran verbietet es Moslemen, Kühe zu schlachten“. Sicher? „Ja, ganz sicher, es hat sich nur eingebürgert.“ Ganz sicher? „Absolut.“ Es klingt ungewöhnlich. „Nein, es ist so.“ Viele Hindus sagen das. Aber es ist eindeutig falsch. Es scheint ein Wunschtraum zu sein, ein Streben nach Harmonie, das auch die Qureshis erfasst hat. Im Koran gibt es nur eine Sure, in der eine Kuh auftaucht, Al Bakara nämlich, übersetzt „Die Kuh“. Das ist die zweite Sure oder eigentlich die erste nach der Eröffnung. In ihr taucht eine Kuh in den Versen 67 bis 71 auf. Die Sure könnte eigentlich auch in der Bibel stehen, sie handelt von Moses, der auf den Berg geht und mit den zehn Geboten zurückkommt. Während er weg war, haben Moses Leute, die Israeliten, angefangen, um eine Kuhe zu tanzen, diese also zu verehren. Die Szene im Koran entspricht wirklich der in der Bibel, nur dass die Kuh dort eben ein goldenes Kalb ist. Moses ist ja auch für Mosleme ein Prophet, ein Vorgänger Mohammeds. Moses verlangt, nach Rücksprache mit Gott, dass die Israeliten die Kuh schlachten. Was sie auch machen. Sonst taucht nicht eine Kuh im Koran auf. Jasmin, Tochter von Abrar Qureshi, ist irritiert, sagt „vielleicht in den Hadiths“. Das sind quasi Kommentare zum Koran, wobei man das so nicht formulieren darf, denn der Koran sei ja, so der religiöse Grundsatz, im Gegensatz zu Bibel, direkt und eins zu eins von Allah diktiert. Interpretationen also auch Kommentare dürfen deshalb nicht sein. Die Hadiths sind eine Sammlung von Sprüchen und Taten, die Mohammed und den ersten Moslemen zugeschrieben und etwa 200 Jahre nach Mohammeds Tod dem Koran angehängt wurden, damit man den besser versteht. Es gibt noch eine Szene im Koran, in der ein fettes Kalb serviert wird. Dennoch: der Hindu-Mythos, Mosleme dürfen eigentlich keine Kühe schlachten, stimmt nicht. Es gibt sogar Moslemische Gelehrte, die genau das betonen. Mosleme dürfen Kühe schlachten. Christen ja auch, aber mit Christen irgendwo haben die Hindus weniger Probleme als mit Moslemen in ihrem Land.

Die Qureshis ziehen sich zurück auf folgendes: Der Koran sagt, man müsse sich an die Gesetze des Staates halten, in dem man lebt. Und die indischen Gesetze verbieten das Schlachten von Kühen. Stimmt. Und: die Mosleme in den illegalen Schlachthäusern, die er heimsucht, schlachten nicht halal, sondern unrein, sie lassen die Tiere nicht, wie es ihr Glaube vorschreibt, ausbluten. Das moslemische halal entspricht etwa dem jüdischen koscher. Nun ist Abrar genau da, wo auch Hare Krishna Anhänger Bhima Das und Anwalt Rajendra Joshi waren: früher spielte Religion eine größter Rolle, heute kümmern sich viele nicht mehr um die Vorschriften. „Es wird Mode, Fleisch zu essen. Die junge Generation denkt nur noch an Geld und daran, cool zu sein. Vor allem aber ist es ein gutes Geschäft, Kuhfleisch in den Vorderen Orient zu verkaufen.“ Abrar will eines noch erzählen, er kommt ja aus einer Schlachterfamilie, kennt die Tricks: „Wenn Fleisch verrottet ist, wird es hell. Schlachter reiben dann Blut drauf, damit es Farbe kriegt. Oft spucken sie auch Supari drauf.“ Das ist ein bestialisch scharfer Nußstaub, der in Indien in ein Bananenblatt gewickelt zum Kauen verkauft wird. Er holt seinen Ausweis raus. Ja, er ist „Honorary Animal Welfare Officer for the Prevention of Cruelty to Animals“. Es gehe um Religion, schon, aber eigentlich, wiederholt er, gehe es um Menschlichkeit. Und seine Frau sagt mal wieder: „Ja, es ist eine Sache der Humanität.“ In ihrem Verein People Who Care for Animals seien Hindus, Jains, Marashti und Moslems. Und, das sei ganz wichtig, der Verein sei integriert in Maneka Gandhis People for Animals.

Bhavin C. Gathani leitet den Verein For Animals in Distress, der in dem landesweiten Animals Lovers Association Society C.T. integriert ist. Bhavin ähnelt Arbar, weil er auch etwas gefährlich aussieht und immer von Menschlichkeit und der Pflicht, Kühe zu retten, redet. Bei ihm arbeiten aber nur Jains und er lästert ziemlich über Mosleme, diese Kuhschlächter. Bhavin selbst ist Jain. Wie Abrar ist er Animal Welfare Officer ehrenhalber. Der Zigaretten- und Pakka-Supari-Nußhändler im Stadtteil Malad von Mumbai sponsort das Ahimsa Hospital für streundende Tiere. Und er hat mit eigenem und gespendetem Geld drei kleine Murati Busse gekauft und zu Tierambulanzen umgebaut. Er hilft nicht nur Kühen, aber vor allem Kühen. Nahe seines Ladens sitzt er nun mit vier Helfern in einem Büro, naja, Büro, in einem Kiosk mit drei Wänden und wartet, dass das Telefon klingelt. Bhavin ist hyperaktiv, zappelt, redet, eilt. Er ist etwas dicklich, obwohl er ständig in Bewegung ist. Immer wieder steht er auf, holt was, setzt sich, steht auf, bringt es zurück ins Regal, ohne einen Blick draufzuwerfen. Viele der Dokumente sind von Ratten angefressen. Als Jain kann er ja keine Fallen stellen oder Gift ausstreuen. Bhavin redet ständig: „Viele Schlachter rufen an, um ihre Kollegen anzuschwärzen. Wir machen viele Aktionen. Immer nachts, drei-, viermal im Monat, mindestens. Der Polizei kann man ja nicht trauen, alle bestochen. Also fahren wir hin, sorgen für Ärger, dann muss die Polizei kommen. Wenn Zeugen da sind, nehmen sie natürlich die Schlachter fest. Es war noch nie so, dass kein Kuhfleisch da war. Immer illegal. Mein Antrieb? Es ist ein Gefühl in meinem Herzen. Menschlichkeit. Ich bin als Jain auch dazu verpflichtet. Vor kurzem haben wir 56 Kühe gerettet. Auf dem Laster waren 56. Nur sechs sind erlaubt. 22 Leute arbeiten für mich. Das meiste Geld gibt mein Vater, ich stecke selbst viel rein, Geld und Zeit. Wir kriegen Spenden. Es ist schrecklich hier, die Leute gehen in den Tempel und beten für die Kühe, kaufen vorher ein bisschen Gras für eine Kuh vor dem Tempel. Aber sie nehmen das Geld von Schlachtern und lassen sie in Ruhe. Polizisten, meine ich. Lasst uns fahren.“

Bhavin drängt zum Cow Pound der BMC. Die Abkürzung steht für Bombay Municipal Corporation, eine Abteilung der Stadtverwaltung. Die ist ein Innenhof voller Kühe verschiedener Rassen, Farben und Zustände. Fängerwagen der BMC fahren durch die Stadt. Ist irgendwo eine Kuh, springen die Kuhfänger raus, schnappen die Kuh, bringen sie her. Das war jetzt ein bisschen Theorie. Zwar gibt es immer mehr Kühe ohne Besitzer. Doch meistens bezahlen Kuhbesitzer, die ihre Kühe rumziehen lassen und nur einmal am Tag zum Melken holen, etwas Bestechungsgeld. Das ist immer noch lukrativer als die Heiligen Tiere zu füttern, denn wenn sie so durch die Stadt lungern, können sie sich von Müll ernähren, der in den großen Containern oder auf dem Boden rumliegt. Oder aber sie werden, das ist besonders praktisch, von gläubigen Hindus oder Jains mit Gras oder Getreide gefüttert. Drei Ausfahrten mit den Kuhfängern ergeben eine Kuh, ein eindeutiger Showfang für uns, die Journalisten. Im Cow Pound arbeiten sehr viele Menschen, jeder beaufsichtigt jeden, keiner ist zuständig, ein bürokratischen Wunderwerk. Viele Kuhbesitzer, deren Tiere hier landen, gehen vor Gericht, um ihre Kühe wieder zu bekommen. Ihnen wird meist eine Geldbuße aufgebrummt, die weit höher ist als das übliche Bestechungsgeld. Zahlen sie die Buße, können sie ihre Kühe abholen. Die Einnahmen sind, ähnlich wie Strafzettel in europäischen Stadtverwaltungen, fest in den Etat der Stadtverwaltung eingeplant. Und das Bestechungsgeld für die Kuhfänger gilt als Teil ihres Lohns. Religion spielt hier keine Rolle. Doch einige können sich die Bußen nicht leisten, also sammeln sich nach und nach Kühe im Cow Pound. Ist der Hof voll, werden sie zum größten Gaushala Mumbais, eine halbe Stunde außerhalb des Zentrums gekarrt. Der Gaushala ist nicht staatlich, sondern wird von einer Jain-Stiftung finanziert. Je eher die Kühe, die keiner will, dort sind, desto besser für den Etat des BMC. Bhavin liefert ab und an beschlagnahmte Kühe an den Cow Pound, geht aber dazu über, sie lieber direkt an den Gaushala zu liefern, den Kühen zuliebe, sagt er.

Der Vasai Cattle Shelter hat nichts heimeliges wie der Bombay Pinjirapole im Zentrum. Er liegt auf einer Ebene, ist sieben Hektar groß. Früher, so erzählt der Tierarzt des Gaushalas, Dr. Sonkamble Ramesh, seien die Kühe auf den Weiden gewesen zum grasen. Das gehe heute nicht mehr. Ständig kommen mehr Kühe. Der Gaushala ist überfüllt. 870 Tiere seien da. Es ist Sonntag nachmittag, Leckerli-Zeit. Etwa vierzig Menschen stehen in den Ställen und warten, Familien aus Mumbai, die alle Getreidekörner als Kuhfutter mitgebracht haben. Als Spende oder Opfer. Unter der Woche kriegen die Kühe Heu, am Sonntag bringen die Gläubigen Besseres. Die Kühe stehen im Freien, drängen in Richtung der riesengroßen Ställe. Die Arbeiter des Gaushalas öffnen die Gitter, die Kühe drängen, die Menschen im Stall singen „Hare Krishna, rama rama“. Es sind keine Hare Krishna Anhänger, sondern Jains, einige auch Hindus. Aber Krishna ist auch ein Gott für sie. Der Arzt sagt: „Das sind gute Menschen“ und führt zu der großen schwarzen Marmortafel am Verwaltungsgebäude. In Gold sind dort die Spender für den Gaushala eingraviert. Manche haben 5 Lakh gegeben, etwa 1000 Euro, was in Indien viel Geld ist. Im Büro hängt ein Plakat der Bombay Humanitarian League, der Träger des Gaushalas, gegründet 1910. Das war die Zeit, als so eine Gründung eine deutliche Protestaktion gegen die Briten war. Heute ist es nur noch Notstandsverwaltung. Der Manager des Gaushalas, Admaran Madvi, der den Job seit 22 Jahren macht, sagt, dass die meisten Kühe hier von Molkerein ausgesondert wurden. Die wollen die alten Tiere nämlich los werden. Sind die Menschen böse, verkaufen sie sie an Schlachtereien. Sind sie, nun ja, mittel, lassen sie die Kühe einfach frei. Und, das komme selten vor, manchmal bringen Molkereien ihre alten Kühe sogar selbst her. Von den 870 hier seien zur Zeit sechs noch in der Lage, Milch zu geben. Der Rest sei „trocken“. Dann erklärt Madvi, dass die Religion in Indien sehr an Bedeutung verloren habe. Während er das sagt, deutet er mehrmals mit der linken Hand nach draußen in Richtung der Kuhställe. Wäre alles in Ordnung, wären nicht so viele Kühe hier.

Zum Glück ist Bhavin auf Pilgerfahrt gegangen. Deshalb fährt er, der Hektiker, der so bedrohlich wirken kann, Jain hin oder her, heute nicht mit in einer der drei Maruti-Blechbüchsen, die er finanziert. Die Kleinstbusse sind fahrende Tierkliniken, sagt er. An Bord sind Medikamente, das teuerste von allem. Das Kommando hat Dr. Amit Ramesh Bhutkah, ein junger Tierarzt. Am Morgen war ein Anruf gekommen, einer Kuh geht es schlecht, in Borivali, im Slum, nahe der Stadtautobahn. Es dauert lange bis der Kuhkrankenwagen den Ort findet. Hier gibt es keine Adressen. Die Suche dauert eine Stunde. Endlich, da steht Anusaya Bhosde, eine alte Frau, mit ihrer Kuh. Vielleicht ist die Frau gar nicht so alt, aber das Leben im Slum, sorgt dafür, dass man früher alt aussieht. Ihre Haare sind grau, sie hat tiefe Falten im Gesicht. Anusaya Bhosde ist Bettlerin. Sie geht mit ihrer Kuh, die keinen Namen hat, herum, nimmt Geld von Leuten, die damit der Kuh und auch ihr helfen wollen. Mit Kuh gibt es viel mehr Geld, sagt sie. Nun hat die Parasiten, stellt Dr. Amit fest. Seine drei Helfer halten die Kuh mühsam fest. Der Doktor fühlt unter ihrem Schwanz den Puls, tastet den Magen ab, hört sie mit einem Stetoskop ab. Ja, wiederholt er, wie vermutet, Parasiten. Er gibt ihr eine Infusion mit Nährlösungen. Als er die Nadel in die Ader der Kuh rammt, muht die laut und kläglich. Bei der Spritze mit Pain Killers nicht mehr. All das passiert direkt unter dem Highway in Borivali in der 12-Millionen-Stadt Mumbai. Dr. Amit sagt, das sei ein humanitärer Akt. Die Kuhambulanz verlange ja kein Geld, helfe selbstlos. Anusaya Bhosde versteht die Frage nicht: wo sie hingehe, wenn sie krank sei. Sie sei nie krank. Aber wenn doch. Sie lächelt, sagt nach langer Pause, ich würde die Ambulanz anrufen. Aber die behandelt doch nur Kühe. Sie nickt. Sie sei noch nie krank gewesen. Zum Glück gebe es für eine arme Frau wie sie Hilfe, wenn die Kuh krank ist. Ist die Kuh denn wichtige als sie? Sie braucht auch lange, um diese Frage zu verstehen. Die Kuh ernähre sie. Die Kuh sei heilig.