Die Milliarden zwischendrin

Reportage
zuerst erschienen 2014 in Fluter Nr. 50, S. 34-36
Fassung des Autors
Besuch bei einem Chemikalienhändler

Aus dem Aufzug in den vierten Stock, durch einen langen Gang über pflegeleichten Boden in beleuchtete Space-Ship-Atmosphäre. Immer geradeaus zwischen weißen Wänden. Links und rechts kleine Büros, offene Türen. „Guten Morgen“ von links, „guten Morgen“ nach rechts, ritualisiert, freundlich. Michael Ullrich geht voran in einen der Besprechungsräume der Helm AG.

Er legt eine laminierte, zeichenblockgroße Infografik auf den Konferenztisch. Sie hat viele waagrechte rote und blaue Balken. Die roten kommen von rechts, die blauen von links. Irgendwo treffen sich die beiden Farben, mal mehr links, mal mehr rechts auf der Grafik. Mit ihr, einer sogenannten Incoterms-Übersicht, wird Ullrich gleich die Geschäfte der Helm AG, die weltweit Chemikalien einkauft und verkauft, erklären.

Beeindruckende Geschäfte: knapp 10 Milliarden Euro Umsatz vergangenes Jahr. In einer Liste der umsatzstärksten deutschen Familienunternehmen von 2011 rangiert Helm auf Platz 15, direkt hinter Schrauben-Würth. Die Umsätze sind fast identisch. Der Unterschied sind die Mitarbeiterzahlen: Für Würth arbeiten 66000 Menschen, für Helm 1400. Personalkosten sind für die Helm AG ein eher kleiner Faktor.

Große Summen aber wenig Mitarbeiter, das ist typisch für Handelsfirmen und zeigt: Mit Handel, nicht mit der personalintensiven Produktion, wird viel verdient. Siehe Apple: die iProdukte stellen Firmen wie Foxconn in Billiglohnländern her. Apple macht sein Geld als Händler, ist also eine Firma zwischendrin. Wie Helm zwischen Hersteller und Kunde.

Zwischendrin lässt sich viel Geld verdienen. Wobei Apple an Endkunden verkauft, Helm an Firmen. Was bedeutet, Helm verdient eher mehr, weil Helm kein Image bei Endkunden aufbauen, nicht werben muss. Werbung verursacht Kosten, manchmal sind die so hoch wie die für Personal. Bei Helm schmälern weder diese noch die Kosten für Werbung den Gewinn.

Die Helm AG gehört Dieter Schnabel, einem Kaufmann. Gehört ihm allein, im Geschäftsbericht steht er ist alleiniger Aktionär. Sein Vater hat sie gegründet und groß gemacht. Helm heißt Schnabels Firma nur, weil sein Vater 1950 einen Firmenmantel übernahm. Man kann sich das Unternehmen als Kurve vorstellen. Die beginnt links unten und führt nach rechts oben, manchmal steil, manchmal zaghafter. Aber immer geht sie hoch.

Hier in den weißen Bürogebäuden links und rechts der Nordkanalstraße in Hamburg nahe dem Hauptbahnhof wird also mit Chemikalien, die andere herstellen, gehandelt: Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, Arzneimittel, Lebensmittelzusatzstoffe, sogenannte Vorprodukte, also Grundstoffe, die andere Firmen weiterverarbeiten. Zum Beispiel Melamin, das Helm in Trinidad und Tobago einkauft, nach Europa bringt und an Firmen, die Küchenarbeitsplatten, Teppiche, Polstermöbel oder feuerfeste Kleidung herstellen, weiterverkauft.

Michael Ullrich hat Antworten auf die sich wie von allein stellende Frage: Warum verkaufen Dupont, Dow Chemicals, Bayer oder BASF ihre Produkte nicht selber? Die würden doch ohne Zwischenhändler mehr verdienen? Ullrich, laut Visitenkarte Head of Department Training Centre: „Ja, je später ich als Hersteller verkaufe, desto mehr verdiene ich. Aber ich habe dann ein größeres Risiko und höhere Kosten. BASF hat traumhafte Produkte, aber wenn die damit auch den letzten Cent verdienen wollen, dann brauchen sie auch am Amazonas im hintersten Dorf wen der eine einzelne Flasche da hinholt und verkauft. Das macht diese eine Flasche sehr teuer.“

Zwischen Hersteller und Endverbraucher liegen meist 50 Prozent des Gewinns. Wer eine Mango verkaufe an den Endkunden im Supermarkt der kriege die letzten 20 Prozent. Mangos nur als Beispiel, sagt Ullrich. BASF hat Fabriken, die immer ausspucken, die kann man nicht einfach abstellen. BASF braucht also Händler wie Helm, die kaufen, lagern, Risiken tragen. BASF verzichtet im Gegenzug auf die letzten 20 Prozent.

Jetzt die Incoterms-Grafik auf dem Tisch mit den vielen Abkürzungen, EXW, FCA, CPT und so weiter bis CIF an den Balken. Die sind teils blau, teils rot. Nehmen wir DAT, das steht für Delivered at Terminal. Der Balken kommt von Links, vom Produzenten und fängt blau an. Blau heißt, der Hersteller trägt die Kosten und das Risiko. Der Balken geht blau nach rechts und nur ganz rechts ist er rot. Rot rechts heißt: Risiko und Kosten beim Käufer. Aber eben nur auf einer ganz kleinen Strecke, knapp einem Zehntel des Balkens.

Wenn der Produzent das, was er hergestellt hat, selbst verschickt, versichert, es auf ein eigenes Schiff lädt, es wieder auslädt, es in Lastern transportiert, wieder lagert, weiterliefert bis zum Kunden. Je länger der blaue Teil des Balkens, desto mehr verdient der Produzent. Aber er hat auch höhere Kosten und Risiken.

Im Gegensatz zu EXW. Der Balken ist nur ganz links blau, alles andere rot. Was bedeutet, der Produzent produziert, sein Produkt wird bei ihm am Werk vom Käufer oder Händler abgeholt. Dafür verzichtet der Produzent auf Prozente vom Umsatz. Ullrich: „Zwischenhändler ist eine Rechenaufgabe, eine firmenpolitische Entscheidung. Wir habe uns hier in den 80er Jahren gefragt: Mensch, wo bleiben wir denn, wenn die Firmen das jetzt alles selber machen wollen?“ Die Angst ist damals kurz mal aufgekommen.

Aber die Produzenten haben nie den ganzen Balken übernommen. „Es wird immer gerechnet.“ Und wer rechnet kommt darauf, er verdient mehr, wenn er nicht alle Schritte bis zum Kunden übernimmt sondern abgibt. Es ist für einen Hersteller mühsam, selbst auch die letzten 20 Prozent zu verdienen.

Womit kann von Blau nach Rot Geld verdient werden? Ullrich zählt eine lange Liste auf: Transport, Verpacken, Veredeln von Halbfertigfabrikaten, Versicherung von Waren und Transport, Finanzierung mit Hilfe der Banken oder selbst, Lagern, Qualitätskontrolle, Packlisten, Frachtbriefe, Verzollen.

Wobei, jetzt kommt der große Trick: Der Händler lagert nicht wirklich, transportiert nicht, verpackt nicht, inspiziert nicht, veredelt nicht. Das machen Dienstleister für ihn. Zum Beispiel: SGS, ein Schweizer Konzern, eine Art TÜV, prüft Waren, trägt für die Qualität die Verantwortung. Dafür kriegt SGS einen kleinen Anteil des blauen Balkens von Helm ab.

Dupeg, ein holländischer Konzern, hat in Häfen Tanks, die Helm mietet. Helm bezahlt Reedereien für den Transport. Zoll ist ziemlich anstrengend, da heuert Helm Dienstleister für an. Und so weiter. Helm ist der Koordinator, der alles überblickt. Helm weiß, wer welche Balkenteile, also Jobs, übernehmen kann, hat Alternativen in der Hinterhand, wenn ein Teil des Balkens ausfallen sollte.

Händler seien heute spezialisiert. „Früher gab es hier in Hamburg Ghana-Hansen, jeder nannte den so. Wenn man was aus Ghana wollte oder dort was verkaufen wollte, ist man zu Hansen gegangen.“ Früher hatten Händler „Riesenportfolios, das waren keine Spezialisten“. Heute gibt es keine Händler mehr bei denen man alles kriegt und alles loskriegen kann, sondern Fachhändler. „Alle Großen haben spezialisiertes Fachwissen über Produkte und Marktanforderungen.“ In vielen Abteilungen bei Helm arbeiten heute mehr Wissenschaftler, Biologen, Apotheker, Ernährungswissenschaftler als Kaufleute.

Wenn man die Umsatz-Kurve noch einmal anschaut, sieht man, sie nach 2006 steiler wurde. Das liegt an einer EU-Verordnung namens REACH. „Registration, Evaluation and Authorization of Chemicals“ bedeutet Aufwand, Verwaltungskram, Kosten. Die EU hat sie eingeführt, um Qualität zu kontrollieren. Damals handelte Helm mit 1200 Produkten. Heute mit 400. Weniger Produkte, mehr Umsatz, sagt Ullrich. „Wir haben damals jedes Produkt und seinen Ertrag angeschaut.“ Und die weniger rentablen Produkte einfach aussortiert. „Das soll wer anders machen.“

Eine Reach-Zulassung für jedes Produkt ist teuer. Für PVC hätte sich eine gar nicht mehr rentiert. „PVC ist Produzentengeschäft geworden.“ Ein Blick auf die Infografik. Produzentengeschäft heißt, der Balken der links blau ist, bleibt lang blau. Also DAT oder DAP oder DDP oder CIP oder CPT. Was die Abkürzungen heißen, ist egal. Wichtig ist, die Balken sind vor allem blau, der Produzent trägt das Risiko, verdient das Geld allein. „Genau“, sagt Ullrich, „da kann man zwischendrin nichts verdienen, da ist kaum Know-How nötig und es gibt viel Konkurrenz.“

Es gibt im Zwischendrin-Geschäft Tricks. „Wir machen heute kein Day Trading mehr, wir haben langfristige Partnerschaften mit langfristigen Verträgen.“ Was Risiken reduziert.

Wieder durch den langen hellen Gang. Michael Ullrich fasst noch einmal zusammen: „Güter beschaffen, wo sie verfügbar sind und dahin bringen, wo sie gebraucht werden. Es geht um das Bewegen von Gütern und Dienstleistungen. Ganz einfach.“ Und dann plötzlich, das widerspricht dem, was er bisher erklärt hat, das ist was völlig Neues: „Wir sind im Kopf Händler. Keine Produzenten, aber wir beteiligen uns inzwischen an Produktionsanlagen, damit wir immer Zugriff auf Produkte haben. Aber nur mit Minderheitenbeteiligungen.“ Der Aufzug kommt. „Früher war es einfacher.“ Aber früher hat Helm ein paar Milliarden weniger im Jahr umgesetzt. Im Foyer unten. In hellem Licht vor weißer Wand steht dunkel eine lebensgroße Bronzefigur. Kaufmann an einem Pult. Kein Spezialist. Vergangenheit.