Inderwahnsinn

Reportage
erschienen im Januar 2003 in Allegra, S. 30-38
Fassung des Autors
Wer in Amerika eine Servicehotline wählt, landet meist in einem Callcenter in Indien. Am Apparat: junge Frauen mit Phantasienamen, breitem US-Akzent – und echten Identitätsproblemen.

Am Anfang der Geschichte stand ein Deal. Solche Deals geben einem ein mieses Gefühl, aber der hier war zu schlucken. Ein Nein hätte bedeutet: kein Kontakt zu Inderinnen, die Gayathri Selvaraj heißen, in Bangalore sitzen und am Telefon mit texanischem Akzent behaupten sie heißen Anne Christine. Die Bedingung war: „Keine Namen unserer Kunden!“ und schien akzeptabel. Fluglinien, Hotelketten, Computerhersteller, Banken, Kreditkarten- und Mietwagenfirmen mit Gratishotlines muss man nicht nennen.

Wer aus Amerika eine Servicenummer wählt, wird weitergeschaltet, im Glasfaserkabel 20 000 Meilen durch die Ozeane. Nur wer fragt, erfährt, dass er mit Indien und nicht mit einer netten Texanerin aus Houston oder Dallas spricht.

Der Deal, keinen Namen zu nennen, schien in Ordnung, bis ich in dem kleinen Raum bei den Tibetanerinnen saß. Eine ärmliche Behausung, zwei Zimmer für sechs Leute, keine Möbel, sechs Matratzen, Klamotten in Koffern. An den Wänden: BoyZone, Bon Jovi mit Kranz um den Kopf wie Jesus, zwei Fotos des Dalai Lamas. Eine „Pringles“-Dose voller Räucherstäbchen auf dem Boden. Yangchen Chomphell, 22, wunderschön und mit dem Tibetlächeln, das Erwachsene wie zufriedene Kinder wirken lässt und für ein friedliches Gefühl im ganzen Raum sorgt, erzählte eine unglaubliche Geschichte. Deshalb werde ich eine der Firmen nennen müssen. Geht nicht anders.

Die Tibetaner sind etwas Besonderes. Der Beweis, dass die Welt klein geworden ist. Junge Tibetaner arbeiten in Indien für eine Firma, in der indisches, in Amerika verdientes Geld steckt. Für US-Konzerne. Haben einen aus Pakistan geflohenen Chef. Bekommen von einer Kanadierin einen US-Midwest-Akzent antrainiert. Arbeiten von sechs Uhr abends bis sechs Uhr früh im International Tech Center, das mit Geld aus Singapur und Indien finanziert wurde. Telefonieren als Fake-Amis mit Amerikanern. Und ein Telefonat mit einer Hispano-Amerikanerin, Jennifer Lopez, Popstar, ist der Grund, warum ich den Deal platzen lasse.

Aber dazu später. Erst einmal ist wichtig, das merkwürdige Leben der tibetanischen Callcenteragents zu verstehen. Deren Eltern gingen, als die Chinesen Tibet besetzten, nach Südindien und gründeten dort ein Dorf. Norzin Lhamo, 23, bei der Arbeit heißt sie Janet Lewis, nimmt meinen Block und schreibt: Bylakuppe. Dort kommen sie her, Norzin und Cheime Dolkar, 24, Tenzin Nawang, 22 und Tsewang Lhamo, 23, die nachts Angela Chow, Tammy Dolan und Tina Jones heißen. Tenzin Palsang, 23, der einzige tibetanische Mann, ist Tom Gerry. Er hat ein Problem, weil ihn die Amis immer auf Tom und Jerry ansprechen. Seit einem Jahr sind sie in Bangalore. Sitzen nachts mit Headsets in einem großen Raum vor Computern. Auch sonst sieht man sie nur zusammen. Geschlossene Gesellschaft.

Bei First Ring arbeiten 600 Agents, davon 11 Tibetaner. Anfangs sei es hart gewesen, „eine Woche lang heulen“, sagt Tsering Lhamo alias Ashley Drew, 23. Die Amis seien rüde, motzen viel. Klar, Servicenummern ruft man mit einem Problem an. Sprengkopfgeladen. Tibetaner können eigentlich nicht damit umgehen, sind Freundlichkeit pur, immer lächelnd, kein Hauch von Aggression. Tobende Amis sind schlimm für sie. Und sexistische erst. Tsering will nicht darüber reden, nur so viel: „Verrückt, was die sagen.“ Als es mal besonders deftig wurde, hat der Chef ihr zwei Tage frei gegeben. Regeneration von der offenen, freien Welt.

Rajdeep Puri, Vice President bei First Ring sagt: „Tibetaner sind perfekt für den Job.“ Der Sikh mit Turban und langem Bart schwört: „Du spürst ihr Lächeln durchs Telefon.“

Indien ist das Land, in dem die Leute für ein Zehntel des US-Lohns bessere Arbeit machen. In den USA gilt Callcenterarbeit als Scheißjob. „Hier ist das eine Karriere, good money“, sagt Paul Larson, Vice President Sales von 24/7 Customer, einem anderen großen Callcenterbetreiber. „Die Leute verdienen doppelt so viel wie andere in Bangalore.“ Einstiegsgehalt: 150 Euro im Monat plus Prämien.

Bangalore ist eine Boomcity, eine rasant wachsende Acht-Millionen-Metropole, westlicher als der Rest Indiens zusammen, wegen der Computerbranche, die kam, weil der Wind kühlt auf dem Plateau um Banglore. Siemens, IBM, SAP, Digital, Infinion, Compaq, Dell, alle sind hier. Die Callcenter kamen später, das erste vor fünf Jahren. Inder, die Englisch können, und das können alle mit Schulabschluss, mögen Telefonarbeit. Sie wird so gut bezahlt, dass inzwischen sogar Computeringenieure umsatteln.

24/7 hat derzeit 600 Mitarbeiter, Customerasset 800, Dell 1000, Health Scribe 1200, und es gibt viele andere. Taktzeit pro Nase: 140 Anrufe pro Schicht. „Ein harter Job, wenn du zu Hause nicht unterstützt wirst“, sagt Larson, ein Zweimetermann mit brutaler Footballaura. „Am Morgen hast du keine Nerven mehr für Kindergeschrei.“ Aber es sei doch so: „Wir nehmen den Leuten ihr Privatleben, deshalb müssen wir Ausgleich bieten.“ Geld, eine Ersatzfamilie. Die Arbeitgeber sorgen für Freizeitprogramm, Motivation, Luxus: Im Tech Park, wo First Ring und 24/7 sitzen, gibt es Restaurants, Fitnessclubs, Friseur, Saftbar, Wäscherei, Ärzte. Essen wird gestellt, vor und nach der Arbeit. Die Firmen bieten Prämien, Aircondition, Aufstiegschancen. Toiletten werden stündlich kontrolliert, zur Arbeit fahren Firmenbusse, die vor jeder Tür halten.

Romola Nath, 32, leitet Next, ein Callcentercollege mit US-Kulturtrainern, Akzentlehrern, Phonetikern. Next rekrutiert die Leute im Auftrag von der Firmen, hat in zwei Jahren 3000 Agents ausgebildet, vor allem für Dell und General Electrics. Während des Trainings werden die Leute bereits bezahlt.

„Dass Nachtarbeit für Frauen in Indien akzeptiert wird“, sagt Romola, „ist eigentlich ein Wunder.“ Sie erklärt es mit Geld und Aufstiegschancen. „Man wirbt sich gegenseitig Leute ab und gibt ihnen Managerposten.“ Schließlich seien Inder die Idealbesetzung: krankhaft serviceorientiert, übernatürlich höflich.

Und die Tibetaner erst.  Diese Strebsamkeit. Bist du beim Job, bist du bei deiner Familie. So will es die Firma, weil die Agents motiviert sein müssen von sechs Uhr bis sechs Uhr. „I work and I party“, sagt Vivek Anad, 24, der Vivian ist, weil er eine zu hohe Telefonstimme hat für einen Mann. Er tut so, als sei das okay, aber klar, er leidet darunter.

Wer im Callcenter arbeitet, findet dort einen Partner. Die Frauen sind eine Elite im Land der langen schwarzen Haare, Mädchen, die sich um alte Regeln nicht kümmern. Ritu etwa, 31, mit milchweisen Zähnen und einem lauten, tiefen Lachen, ist mit einem sechs Jahre jüngeren Mann verheiratet. Für Indien ist das ein Unding, dafür braucht man Mumm. Ab und zu geht sie ohne ihn aus, „ich bin eben ein Partygirl“, trägt schwarze enge Hosen, man kann die Falten zwischen Po und Schenkeln zählen. In Bangalore ist das eine Revolution.

Man lerne etwas über Amerika, sagt Sunanda Reddy, Managerin bei First Ring. Sunanda, 28, ist eine Erscheinung: 1,85 Meter, Workaholic, nett, schön, sexy. Mal im bunten Sari. Mal in Jeans und Top. Jungfrau. Doch, sagt sie als ich im Club „180 Degrees“, früher ein Bibelclub, heute angesagteste Lounge nachfrage: „Ich bin Jungfrau.“ Einen Freund habe sie noch nie gehabt. Sie sei einfach nie verliebt gewesen. Zwar der Rebell der Familie, aber nicht in diesem Punkt.

Ihre Eltern machen sich Sorgen, haben das indische Spiel begonnen, suchen Ehemann für Tochter. Das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen: 22. Dass Mami und Papi sich umschauen, sei in Ordnung. „So kann ich wenigstens sicher sein, dass er zu mir passt, finanziell, sozial.“  Zeit für Partnersuche habe sie ohnehin keine. Sie arbeite gern, viel und eben nachts. Früher machte Sunanda die normale Telefonschicht, jetzt hat sie die nächsthöhere Stufe erreicht: Teamchefin.

Sie leitet eine Abteilung, die am Telefon verkauft, anruft, den Fuß in die Tür drückt und amerikanischen Firmen am anderen Ende der Leitung klar macht, dass sie ihre Telefonfirma wechseln müssen. Harter Job, Outbound Calling genannt. Aber nicht viel härter als Inbound Service Calls, der Hotlinedienst. Jedes Gespräch wird mitgeschnitten, strichprobenartig ausgewertet. Endkunden werden befragt, ob der Service gut war. Von Amerikanern. Es gibt Formulierungen, die stimmen müssen. Sätze, die nie gesagt werden dürfen Es gibt exakte Time Slots. Die Gespräche dürfen im Schnitt nicht länger als 215 Sekunden sein, jede Sekunde mehr ist Verlust für die Callcenter wegen der hohen Leitungsgebühren. Viel kürzer dürfen die Gespräche aber nicht sein, gilt als schlechter Service.

Ein Viertel des Einkommens sind Prämien für das Einhalten der Zeitfenster des Einzelnen. Ein anderes Viertel für das der gesamten Schicht. Deshalb laufen nachts ab zwei Uhr die Chefs herum und sagen: „Kürzer! Ab jetzt 185.“ Uhren gibt es nicht. Die würden nervös machen.

Es gibt zwei Listen im Callcenter. Eine mit amerikanischen Vornamen, eine mit Nachnamen. Jeder wählt sich seine zweite Persönlichkeit. „Manchmal sehe ich mich in Kalifornien in einem Haus am Strand und fühle mich auch so“, erzählt Sujartha Sharma, 26. Sie lebt in Phantasieluxus, aber sie tue etwas, sie und ihr Mann, der Computerprogramme vertreibt. Sie haben ein Apartment gekauft, 25 000 Euro, gute Gegend. Dafür, findet sie, sie die Schizophrenie ihres Berufsalltags kein zu hoher Preis.

Aber zurück zum Anfang, zum Deal: „Ihr könnt euch umsehen, wir geben Interviews und Zahlen.“ Dafür keine Namen von Kunden, keine Details. Die Tibetanerinnen sitzen auf dem Boden in ihrer Unterkunft. Ein Fernseher, indisches Fabrikat. Er ist immer an, sie schauen HBO, einen US-Sender. Der Bus hat sie abgesetzt, nun schauen sie fern bis zum Einschlafen. Die Unterkunft kostet 120 Rupien, 2,50 Euro, pro Monat. Sie schlafen bis nachmittags, hetzen zum Einkaufen, kochen. Kurz nach fünf holt der Bus sie ab. Ihr Leben. Norzin holt Fotoalben, alle freuen sich. Die Bilder zeigen sie am Meer – ein freies Wochenende. Auf der Glasplatte unter dem Fernseher stehen Kosmetika. Viele Lippenstifte, ein Parfüm für alle: „Little Black Dress“ von Avon. „Riecht gut“, sagt Norzin.

Und dann erzählt Yangchen, wie Jennifer Lopez anrief. Ernsthaft, kein Mythos. Sie wissen es genau, haben das Gespräch oft abgehört. Es ist so bei Amex: Man wählt die Hotline, gibt seine Kartennummern auf den Tasten ein. Wenn es im Headset „boing“ macht, kommen die Daten des Anrufers auf den Schirm. Wer eine goldene Karte hat, landet in den USA. Wer eine normale hat, in Bangalore. Jennifer Lopez hat keine goldene? Keine Platinkarte? „Genau“, sagt Yengchen.

Die anderen nicken und lächeln gleichzeitig. „Eine normale. Es war Jennifer Lopez. Sah man auf dem Bildschirm. In dem Monat hat sie zwei Millionen Dollar ausgegeben.“ Wow. Wie war sie? „Nett, wirklich, kein bisschen divenhaft.“ Macht das ein Star selbst? „Sie muss, ihre Sozialversicherungsnummer ist ihr PIN. Kann nur sie machen.“ Hast Du gefragt, ob sie es ist? „Darf ich nicht.“ Norzin, die daneben sitzt, bekam es mit, hat die Hand in die Luft gestreckt und die, die keinen in der Leitung hatten, kamen, starrten auf den Schirm. Lopez, Jennifer. 30 Zeugen.

Sie gingen in den Slaughter Room, in dem man Gespräche nochmal anhören kann, zur Übung. Sie klinge anders als auf CD, aber man erkenne sie. Sie kichern. Tsewang erzählt noch eine Episode: „Einmal neckte ich Tenzin, nannte sie Tammy Dolan, immer wieder. Dann kam ein Anruf und ich sagte: „Thank you for calling American Express, I am Tammy Dolan, oh no, I am Tina Dolan, uh, Tina Jones, that’s it, I am Tina Jones.“ Sie sieht mich an und sagt: „I am Tsewang Lhamo. Yes.“