Das stählerne Herz

Essay
zuerst erschienen 2007 in Feld Hommes Nr. 5, S. 156-161
Stahl ist Prestige, Reichtum, Macht und Stolz. In Deutschland wie in China. Eine Industriegeschichte

Es ist die Hitze, die für die Herstellung des Produkts Stahl unerlässlich ist. Und es ist die Hitze, die für den Nimbus des Stahlkochers sorgt. Die Höchsttemperaturen an seinem Arbeitsplatz prägten in Deutschland wie überall auf der Welt das stolze Wir-Gefühl der Malocher an den Hochöfen. „Ein Stahlwerk ist kein Ding. Auch kein Asset, wie es in der kalten, Sprache der Finanzinvestoren heißt. Wie jeder Stahlkocher weiß, faucht und brüllt, donnert und dröhnt, dampft und hämmert es in seinem Inneren. Ein Sturm wie ein heißer Atem fegt rhythmisch durch seine Öfen.“ Dieses Zitat über die Geschichte der Georgsmarienhütte, es stammt aus „Schwarz wie Schlacke, rot wie Glut“ von Oliver Driesen, zeigt: Das Markante ist der heiße Atem, die Hitze, die man beim Stahlkochen aushalten muss, die Hitze, die nicht jeder aushalten kann, die Hitze, die den Job gefährlich macht. Stahlkocher war früher etwas für harte Männer. So kommt auch der Macker-Spruch „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen“ nicht, wie man unwillkürlich denkt, aus der Gastronomie, sondern aus Pittsburg, USA, einem Stahlkocherzentrum. Er entstand in einer Zeit, als es noch keine hitzeabweisenden Schutzanzüge für die Männer gab, die den Abstich am Hochofen machten, also der Glut am nächsten kamen. Mit „kitchen“ sind die Hochöfen gemeint.

Mao Tse-tung, aufgewachsen in ländlicher Gegend ohne Industrie, wusste von all dem nichts. Nichts von der Hitze, die möglich und nötig ist, nichts vom Stahlmachen.

Anfangs des Jahres 1958 verordnete der „Große Vorsitzende“ der Volksrepublik China den „Großen Sprung nach vorn“. Der sollte das kommunistische Reich der Mitte ökonomisch in die erste Liga der Nationen bringen. Mao wollte die kapitalistischen Großmächte, denen man sich, ideologisch betrachtet, überlegen fühlte, in den Schatten stellen. Ziel der Kampagne war es, die Stahlproduktion in China schlagartig zu steigern, denn Stahl war ein Synonym für Industrie und der Umfang der Stahlproduktion Beleg für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Die Stahlproduktion Großbritanniens sollte in nur drei Jahren überholt werden, so Maos Idee. Tatsächlich aber verzögerte der „Große Sprung nach vorn“ die Entwicklung der chinesischen Volkswirtschaft um Jahrzehnte. Statistiker und Historiker können heute belegen, dass während dieser drei Jahre und unmittelbar danach 30 Millionen Chinesen verhungerten. Der „Große Sprung nach vorn“ war die größte von Menschen ausgelöste Hungersnot der Geschichte, und das alles, nun wird es ein bisschen seltsam, weil die chinesischen Schmelzöfen nicht genug waren.

Man muss sie sich eher als kleine Bolleröfen vorstellen, die in dieser Zeit überall aufgestellt wurden: in Schulen, Büros, Krankenhäusern, auf Plätzen und Straßen. sie konnten da nur unregelmäßig und dilettantisch mit Brennmaterial versorgt, nie dazu gebracht werden, dauerhaft Höchsttemperaturen zu liefern. Einige explodierten gar bei diesem Versuch. Es fehlte das, was für die Stahlgewinnung dringend nötig ist: eine Temperatur von 1500 bis 1700 Grad Celsius. Sie wurde nicht erreicht, obwohl damals in China alles verfeuert und alles eingeschmolzen wurde, was greifbar war. Kleine Kinder warfen einzelne rostige Nägel in den Ofen. Häuser brachen zusammen, weil ein Dachbalken zu viel verfeuert wurde. Felder wurden nicht mehr bewirtschaftet, weil die Bauern auf Parteibefehl laienhaft mit Stahlgewinnung beschäftigt waren oder weil die Pflüge eingeschmolzen wurden. Schilderungen, beispielsweise in Jung Changs Weltbestseller „Wild Swans“, zeigen, wie absurd die Realität sein kann. Jeder Chinese hatte Brennmaterial zu liefern, was dazu führte, dass sogar Bücher verfeuert wurden. „Der Große Sprung nach vorn“ war eine deutliche Vorwegnahme der ein paar Jahre später folgenden Kulturrevolution und ihrer Auswirkungen. Bücherregale oder Möbel wurden zersägt, Türen durch Vorhänge ersetzt, Metallene Bettfedern und Scharniere landeten in der Glut, Geschirr, Besteck – jedes noch so kleine Metallteil, auch wenn es kein Eisen war. Jung Chang erzählt von Eltern, die ihre Kinder Nacht für Nacht allein lassen mussten, weil sie vergeblich versuchten, die kleinen Öfen im Büro oder in der Fabrik auf Höchsttemperaturen zu bringen. Der Stahl, den alle Chinesen tagtäglich vor sich in verhütteten, war, so sagte man, wenn niemand von der Partei zuhörte, niu-shi-du, übersetzt: Kuhdung.

Als China nach Maos Tod den nächsten Anlauf nahm, Industriemacht zu werden, zogen die Planer ihre Lehren aus dem Fehlschlag und den 30 Millionen Opfern des „Großen Sprungs nach vorn“. Ohne Fachleute kein Stahl. Deng Xiao Ping, der neue starke, hatte die schrecklichen Jahre miterlebt. Von ihm stammt der Ausspruch, der den neuen chinesischen Pragmatismus auf den Punkt bringt: „Es ist egal, welche Farbe die Katze hat, solange sie Mäuse fängt.“ Der neue Weg, den die Volksrepublik nun erfolgreich ging: Sie kaufte alte, aber funktionierende Stahlwerke und die für die Montanindustrie unverzichtbaren Kokereien komplett ein oder aber importierte schlicht fertigen Stahl aus anderen Ländern, um den Wirtschaftsboom im Reich der Mitte voranzutreiben. Für Mao wäre das ein demütigendes Eingeständnis von Schwäche gewesen.

Nur mit Stahl ist es möglich, eine Verkehrsinfrastruktur zu entwickeln, Hochhäuser und Maschinen zu bauen – ohne Stahl kann eine Volkswirtschaft nicht wachsen. Ohne Stahl gibt es keine Mobilität, keine Eisenbahn, keine Automobilindustrie. China, mittlerweile Stahlnation Nummer eins, produziert 432 Millionen Tonnen im Jahr, viel mehr als die Nummer zwei der Welt, Japan. Und sehr viel mehr als Großbritannien, die Nation, mit der Mao sich beim „Großen Sprung nach vorn“ messen wollte. Aber China produziert eben nicht nur Stahl, sondern kauft ihn auch. Fast überall auf der Welt wird für den riesigen chinesischen Markt produziert, ebenso wie für die wachsenden Industrienationen Indien und Brasilien. Die Preise für Stahl haben deshalb, und wegen Rohstoffengpässen, in den vergangenen Jahren neue Rekordmarken erreicht.

Vom neuen Boom profitiert auch ein Land das ebenfalls eine große Stahlvergangenheit hat. Stolz waren die Deutschen einstmals auf ihren Stahl. Friedrich Krupp hatte 1811 in Essen die erste deutsche Gussstahlfabrik gegründet. Es folgten Mannesmann, Thyssen, Georgsmarienhütte, Hoesch, Klöckner, Röchling, Rheinmetall, Völklinger Hütte. Solche Namen hatten Klang, sorgten für ein stolzes Proletaritat der Stahlarbeiter. Viele innovative Verfahren der Stahlindustrie stammen aus Deutschland, 1961 produzierten in Deutschland fast 450.000 Arbeiter 33 Millionen Tonnen Rohstahl. Heute braucht die deutsche Stahlindustrie nur noch 92.000 Arbeiter, um 45 Millionen Tonnen Stahl zu gewinnen. Dazwischen lagen 20 Jahre Stahlkrise, Streiks, zahllose Entlassungen, politische Krisen und der Niedergang einer Industriekultur. Doch das eiserne Herz Deutschlands schlägt wieder kräftig.

Am Anfang dieses erneuten Stahlbooms stand der Ausverkauf. Deutsche Qualitätsgroßprodukte gingen als Gebrauchtware gen Osten: Teile der Westfalenhütte, der Phönix-Hütte von Hoesch in Dortmund sowie der Henrichshütte von Thyssen in Hattingen wurden nach China verkauft. Gleiches geschah mit der Kokerei Kaiserstuhl, der damals modernsten Kokerei Europas. Das Stahlwerk Phönix war in nur sechs Monaten von bienenfleißigen, für ihre Genügsamkeit und ihre Arbeitszeiten in der deutschen Presse bestaunten Chinesen demontiert, verpackt, auf dem Rhein nach Rotterdam transportiert, dort in große Frachtschiffe verladen und nach China verschifft worden. Um ebenfalls in Rekordzeit wiederaufgebaut und in Betrieb genommen zu werden. Das kränkende Bild eines Deutschlands im Schlussverkauf, vom Land als „Reste-Rampe des produzierenden Gewerbes“ tauchte Anfang des neuen Jahrtausends in der kollektiven Wahrnehmung auf. Es hatte wieder einmal den Stahl erwischt.

Natürlich ging es bei der Reduktion der deutschen Stahlindustrie nicht um Stolz, sondern um Geld. Chinas Stahlhunger verschlang inzwischen gigantische Stahlmengen. Zum Zeitpunkt des Verkaufs der Anlagen meist zu reinen Altmetallpreisen, schien dieser lukrativ: Entsorgung ist in Deutschland teuer, Fläche wurde frei für die 2000/01 bejubelten IT-Ansiedlungen und Gründerzentren. Und es gab noch Geld für den vermeintlichen Schrott. Die Stahlkonzerne wandelten sich zu Dienstleistungsunternehmen, Mannesmann betreibt nun Handynetze, die Preussag verkauft über Tochtergesellschaften Urlaubsreisen.

Die frühere Dortmunder Westfalenhütte steht inzwischen, nach der größten Demontage der Industriegeschichte, in der Provinz Shandong. 1.000 Chinesen arbeiteten sechs Tage die Woche in 12-Stunden-Schichten, um das frühere Hoesch- und spätere ThyssenKrupp-Stahlwerk in die nähe von Shanghai zu verlegen. Die Sinteranlage der Westfalenhütte backt weiter körnige Eisenerzbriketts, nur eben in China und nicht mehr in Dortmund. Die Briketts landen in Hochöfen, bis zu 70 Meter hohen Konstruktionen aus Stahl und feuerfesten Steinen. In den Hochöfen wird das brikettierte Eisenerz mit Koks erhitzt und zum Schmelzen gebracht. Dann erfolgt der Abstich: Durch Öffnungen fließt das glühende, Funken sprühende, flüssige Erz als Roheisen heraus. Die glühende Flüssigkeit wird mit Zusätzen versehen, um sie zu veredeln. So wird beispielsweise Nickel hinzugefügt, um Stahl rostfrei zu machen. Diese Flüssigkeit wird in eine vorläufige Form gebracht, auf Kilometer langen Produktionsstraßen zu flachen Blechen gewalzt oder zu langen Rohren gezogen. Erkaltet werden sie zum Endabnehmer transportiert und dort noch einmal verformt, gedreht, gestanzt.

Stahlwerke brauchen Hitze, also benötigen Stahlwerke Kokereien. Die Dortmunder Kokerei Kaiserstuhl, etwa so groß wie 40 Fußballfelder, wurde 1992 für 650 Millionen Euro von der Deutschen Ruhrkohle AG gebaut und war damals die modernste der Welt. Die 35.000 Tonnen schwere Kokerei steht nun, nach einem Transport auf 26 Ozeanriesen durch den Suezkanal, 9.000 Kilometer weiter östlich in China und ist dort noch immer eine der modernsten und vor allem effektivsten Anlagen dieser Art. Die Ruhrkohle AG, die die Kokerei Kaiserstuhl acht Jahre betrieben hatte, verdiente rund 20 Millionen Dollar an dem Verkauft – mit einem Werk, das eine Zeit lang ohne Abnehmer völlig sinnlos herumgestanden hatte, die Stahlöfen dazu waren ja schon weg. In China.

Mit dem steilen Anstieg der Weltmarktpreise für Koks, Roheisen und Stahl im Jahr 2003 hatte niemand rechnen können. Die Westfalenhütte und die Kokerei Kaiserstuhl verdienten daran. Nur eben nicht in Deutschland. Sondern in China.

Die Stahlproduktion hat immer noch etwas Mythisches. Vielleicht, weil heute viele Dienstleistungen, die IT-Branche, Bio Science oder gar die Geldbeschaffungsmaschine Börsenhandel keinerlei Nähe zum althergebrachten Begriff der Arbeit haben. Zeitungsartikel in Deutschland betonen heute mit übertriebener Anteilnahme den Aspekt, dass in Deutschland immer noch und vor allem Qualitätsstahl und besondere Edelstahle gewinnbringend hergestellt werden. Dem erfolgreichen Stahlunternehmer Jürgen Großmann wurde inzwischen so etwas wie ein Superman-Image verpasst. Der ehemalige Manager hatte vor Jahren, mitten in der Stahlkrise, die Georgsmarienhütte aus dem Klöckner-Konzern für zwei Mark herausgekauft und wieder auf Vordermann gebracht. Inzwischen gehören zu der Holding rund um die Hütte noch mehr als 40 andere Stahlunternehmen. Auch diese hat Großmann zum Teil für eine Mark gekauft und mit Subventionen, sowie durch Millionenverzichte der Gläubiger wieder lukrativ werden lassen.

In der Öffentlichkeit wird immer wieder betont, dass deutscher Stahl nur noch als Edelstahl oder Spezialstahl eine Chance hat. Das impliziert: Den qualitativ nicht so guten Stahl überlässt man den anderen, also China, aber auch Brasilien und Indien. Deutschland ist fürs Feine und Komplizierte zuständig. Der Rest der Welt fürs Grobe. Aber: Wenn die Technik einmal die Wanderschaft angetreten hat, ist sie nicht mehr zu stoppen. Inzwischen kaufen die chinesischen Konzerne auch nicht mehr nur gebrauchte Stahlwerke, sondern bestellen neue, extra für sie gebaute. Sie wollen „state of the art“, kein secondhand. Die Schalker Eisenhütte, ein Kokerei-Hersteller, hat derzeit aus China allein fünf Bestellungen für neue Anlagen im Wert von jeweils rund 13 Millionen Euro. Indien gilt nun als der neue Markt für alte Anlagen.

Deutschland ist und bleibt ein Stahlland. Denn Deutschland ist ein Autoland Kein anderer Werkstoff ist so fest wie Stahl und ist deswegen in der Automobilindustrie so unersetzlich. Angesichts eines fortlaufenden Konzentrationsprozesses auf dem Weltmarkt für Stahl bleibt die einzige Chance der deutschen Hütten die Spezialisierung auf anspruchsvolle und hochwertige Ware, um im harten Stahlwettbewerb nicht zum Übernahmekandidat zu werden. Zum Beispiel von der großen Stahlmacht China. Wer hätte das gedacht? Nur Mao, der hat es wahrscheinlich schon immer gewusst.