Optimismus

Reportage
zuerst erschienen im Februar 2006 in brand eins

Es ändert sich viel auf der Insel der fleißigen Optimisten. „Oh ja“, sagt Hjálmar Árnason, 55 Jahre alt, der als Fraktionsführer der Fortschrittspartei, eine der Regierungsparteien, die Drähte in Islands Parlament zieht. Wäre er deutscher Politiker, würde man sagen: Er kennt sie alle. Aber auf Island mit seinen 297000 Einwohner ist das eine Nullaussage. Da kennt fast jeder jeden.

Árnason ist lebhaft, geradezu italienisch und spielt Schlagzeug, „mit viel Power, aber noch nicht perfekt. Ich habe vergangenes Jahr angefangen. Die Kinder und die Nachbarn beklagen sich ziemlich“. Da müssen sie durch, sagt er und lacht laut. Dann versucht er im Althing, dem Parlament, in einem lichtdurchfluteten Büro, das eigentlich Unmögliche, nämlich Island zu erklären und seine Veränderungen in den vergangenen Boom-Jahren.

Glaube an die Zukunft sei typisch isländisch. Und Zusammenhalt. Fleiß und Wille. Sie seien harte Arbeiter, schon immer gewesen. Was er da sagt, bestätigen einige Statistiken: Jeder Isländer arbeitet im Jahr 366 Stunden mehr als ein Deutscher. Das offizielle Rentenalter ist 67, aber oft machen sie länger. Die Natur habe sie früher dazu gezwungen, das sei noch in ihnen drin, so etwas wie ein Instinkt, sagt Árnason.

Weitere Statistiken: Island hat derzeit prima Wirtschaftsdaten, so gut wie keine Arbeitslosigkeit, offiziell 2,8 Prozent. Aber jeder weiß, dass die 2,8 Prozent irgendwo doch arbeiten, als Kellner beispielsweise. Wachstumskurven, Steigerungsraten, Investitionen, gute Zahlen. Und Lust auf Neues. Menschen, die meist zwei oder drei Jobs machen; 80 Prozent der Frauen arbeiten Vollzeit. Menschen, die nicht sparen, weil sie das nie gemacht haben. „Isländer geben ihr Geld aus, so schnell es geht“, sagt Árnason.

Das liege am Fischfang, besser gesagt an der Art, wie das früher lief. In guten Jahren wurde der Fang zu Geld gemacht und alles auf den Kopf gehauen. Was rein kam, musste raus. In schlechten Jahren eben nicht. Dazu kommt die Lehre der Inflation, die in den frühen siebziger Jahren herrschte. Weil Löhne per Gesetz lange an die Preissteigerungen gekoppelt waren, haben die Isländer gelernt: Gib dein Geld schnell aus. Das tun sie immer noch, auch wenn die Inflation längst eingedämmt ist und unter dem europäischen Durchschnitt liegt.

Da aber auch die Einkommensteuer im Vergleich zu den anderen nordischen Ländern gering ist, könnten die Isländer vermutlich so einiges auf die hohe Kante legen. Dennoch: Sie sparen nicht. Árnason: „Wir kaufen alles, was neu ist, Autos, Handys, Computer. Wir lieben Technik“ Ja, auch er habe eines dieser elektrisch angetriebenen Fußmassagegeräte, die man in jeder Garage stehen sieht. „Das war Mode, alle haben eines gekauft. Es ist ein paar Jahre her, alle haben das Interesse daran verloren. Also steht es in allen Garagen herum, das Gerät. Das ist typisch Island.“ Ab und an gibt es Kritik, der Boom sei mit Schulden erkauft. „Ach was, natürlich kommt in eine boomende Ökonomie Geld von außen, allein was die Amerikaner in die neue Aluminiumschmelze stecken. Wo soll da ein Problem sein?“ Vor hundert Jahren noch war Island bitterarm, es wurde gehungert. Jetzt ist die Insel reich. Das Pro-Kopf-Einkommen ist seit Jahren deutlich höher als das Saudi-Arabiens. Die Lebenserwartung ist eine der höchsten der Welt, höher noch als in Japan. Island ist auch eine der am dünnsten besiedelten Gegenden der Welt. Knapp 300000 Menschen, also halb Stuttgart, auf einer Fläche anderthalbmal so groß wie Irland. Wie in vielen kleinen Ländern sind die Menschen zweisprachig. Isländer können Englisch so gut wie Isländisch, das hilft, Popmusik, Film- und Fernsehproduktionen zu exportieren.

Nahe Reykjavík steht eine Riesenhalle, in der für amerikanische Sender Kinderprogramme produziert werden, Shows und Serien. Obwohl das Leben auf Island teuer ist - ein Deutscher schüttelt sich angesichts der Preise im Supermarkt -, „Content“ lässt sich viel billiger produzieren als in den USA. Deshalb wird gerade eine zweite Halle gebaut. Der amerikanische Kinderfernsehsender Nickelodeon will mehr Programm, und auch das britische ITV und skandinavische Sender haben angefragt.

Im Bezirk 101, das ist das Zentrum Reykjavíks, der Hauptstadt, sieht man am Wochenende Hollywood-Schauspieler in den Cafés: Julia Stiles, Peter Coyote, Forest Whitaker genießen drehfreie Tage. Eine andere kleine, aber lukrative Industrie, die sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat, sind Agenturen, die ausländischen Fotografen und Werbefilmern beim Produzieren helfen. Hier eine Autofahrt durch die Lavawüste, da Models in italienischen Kleidern am Gletscher - die Landschaft gibt viel her.

Lísa Kristjánsdóttir hat gerade für einen spanischen Softdrink-Spot die Location organisiert, inklusive Eisbrocken in der Meeresbucht. Für eine Computerfirma einen Sonnenuntergang. Für einen schwedischen Käsehersteller eine Fläche grünen Mooses. „Vor allem aber lassen Modefirmen hier fotografieren. Für uns hier ein gutes Business.“ Ihre Turfproductions ist eine Ein-Frau-Firma, von Fall zu Fall heuert sie Helfer an. „Wir sind sehr flexibel, das ist eine isländische Eigenschaft. Wie Fleiß und Genauigkeit.“ Überall ist die Energie zu spüren. Reykjavík ist am Wochenende Partystadt, in die sogar Popstars aus London einfliegen. Im „Kaffibarinn“ , Damon Albarn von den Popbands Blur und Gorillaz ist Mitbesitzer, wackelt der Dielenboden. Sie trinken, sie tanzen, sie schreien, sie wirken vergnügter als Menschen anderswo. Was zu einer neuen Art von Tourismus führt: Leute kommen, um einen draufzumachen. Geld spielt für dieses Publikum offenbar keine Rolle. Luxushotels sind ebenso voll wie viele Restaurants, die trotz guter Küche wegen ihrer Preise in Deutschland gemieden würden.

Die Isländer haben Nachholbedarf, hat Árnason gesagt: „Es ging immer ums Überleben. Erst spät kam der Reichtum mit dem Fischfang.“ Der bringt noch immer fast zwei Drittel des Geldes ins Land, seine Bedeutung sinkt allerdings stetig. Die Isländer haben ihren Wohlstand in Kabeljaukriegen gegen Großbritannien erkämpft, ihre Fangzonen trotz aller Widerstände ausgedehnt und den britischen Schiffen vor den Bug geschossen.

Es entstand eine Industrie, die Fanggeräte produziert, Spezialschiffe und Maschinen, die aber auch eindost, räuchert, verarbeitet, verpackt und importierte Zwiebelchen dazumischt. Mittlerweile wird allerdings nicht mehr viel Gemüse eingeführt, weil es auf Island ein profitables Gewächshaus-Business gibt. Die Investitionen haben sich rentiert, weil importierte Ware teuer war. Selbst Zitronen bauen sie inzwischen an, aber eher, um damit zu prahlen. Die für isländische Verhältnisse schlecht bezahlten Jobs in der Fischindustrie machen inzwischen Polen.

„Es sieht so aus, als würden wir das nächste Kuwait werden“, sagt Árnason. Das mit Kuwait sagen Isländer gem. „Als ich jung war, gab es zwei Restaurants in Reykjavík. Heute sind es hundert. Früher war abends um halb zehn alles zu. Wenn du Glück hattest, bist du mit jemandem heimgegangen. Wenn du Pech hattest, bliebst du allein. Heute gehen meine Kinder um Mittemacht los und kommen erst morgens nach Hause. Ich finde das fantastisch. Wir arbeiten hart, und wir feiern hart.“ Eine Woche auf Island zu sein bedeutet, von zehn Leuten unabhängig voneinander diesen Satz zu hören: Wir arbeiten hart, wir feiern hart. Und, ganz klar, die Isländer seien einfach optimistisch. Das lerne man hier.

Die Isländer haben nicht nur ein Händchen fürs Geschäft, sondern auch für die Kunst Dieser Optimismus wirkt nach außen: Aus den USA kommt viel Geld nach Island, Investitionen in die stark wachsende Aluminiumindustrie, in Hotels, Ferienanlagen und Hightech-Firmen. Oder zum Beispiel in Aktien von Decode, einer Firma, die den isländischen Genpool erforscht und das gewonnene Wissen vermarkten will. 2000 ging Decode an die Börse, der Preis schoss damals hoch wie ein Geysir. Noch jetzt hat die Firma viel Geld auf den Konten für möglicherweise kommende schlechte Zeiten.

Kári Stefánsson, der Gründer und Chef von Decode Genetics, erzählt in seinem Büro von Hemingway, Gertrude Stein und Astrid Lindgren. Kaum irgendwo sonst auf der Welt wird mehr gelesen, sagt die Statistik, erscheinen mehr Bücher pro Kopf, wird mehr geschrieben als auf Island. David Oddsson, bis vergangenes Jahr Premierminister, ist beispielsweise Schriftsteller. Kein Feierabendschreiber, ein richtig guter. Nirgendwo auf der Welt gibt es, umgerechnet auf die Einwohner, mehr Maler, mehr Popbands, mehr Schauspieler. Die Isländer mögen Kunst.

Und sie machen sie gut. Die Romeo-und-Julia-Aufführung mit Zirkuselementen des Staatstheaters wurde gerade nach London exportiert. Ein paar Erfolgsmonate in New York hat das Ensemble schon hinter sich. Der Decode-Chef erzählt von Popstar Björk, deren Familie neben seiner wohnte. Er sollte eigentlich von seiner Firma, seiner Geschäftsidee, seinen Erfolgen erzählen, aber er redet eine Stunde, eine merkwürdige Stunde, von Hemingway, der überschätzt sei. Er findet, Astrid Lindgren hätte den Literatur-Nobelpreis bekommen müssen. Er sagt es ein zweites Mal, sehr laut und drohend. Er strahlt eine kaum gebändigte Aggressivität aus.

Das Interview fing seltsam an. Er saß im Vorzimmer neben der Sekretärin, las die „Financial Times“ und ließ seinen Pressesprecher, den Fotografen, dessen Assistenten und mich, zwei Dreispalter lang stehen. Eine lange Zeit. Mit Räuspern, einem „Here we are“ und ein paar anderen Versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen - was er ignorierte. In seinem Riesenbüro bestellt er einen Kaffee, nur einen, für ihn, das Alphatier, und redet über Ernest Hemingway und Astrid Lindgren und irgendwann mal, als er denkt, es sei Zeit, über Genforschung.

Stefánsson, 54, sieht aus wie ein Wikinger, ist groß und breitschultrig. Er ist Mediziner und Forscher, war früher Professor in Chicago und Harvard, kam heim mit der Geschäftsidee. „Ja, ich bin ein knallharter Kapitalist“, ruft er in seinem Büro im Decode-Gebäude, nahe der Universität. Ein großes, beeindruckendes Gebäude, sehr modern, sehr rot. “ Noch in den sechziger Jahren gab es hier Armut. Ich bin hungrig aufgewachsen. Es gab kein dickes Kind in der Schule. Wir aßen sechsmal die Woche Kabeljau. Früchte kannte ich nicht. Die gab es nur zu Weihnachten. Wenn überhaupt. Wenn ich in einen Laden kam, konnte ich einen Apfel riechen, ohne ihn zu sehen.“ Stefánssons Idee war: Auf Island leben wenige Menschen, die alle - das ist eine notwendige Tradition - ihre Stammbäume zurückverfolgt haben. Wenn sich Isländer kennen lernen, reden sie erst mal über ihre Vorfahren. Sie haben keine Familiennamen, nur Vatersnamen; der Sohn von Arne heißt Árneson, die Tochter Arnesdóttir. Es muss geklärt werden, welcher Arne das denn war, erst dann weiß man, ob und in welchem Grad man verwandt ist - und ob man miteinander ins Bett gehen kann. Das freizügige Sexualleben der Isländer ist sogar in Reiseführern nachzulesen.

Die männlichen Isländer stammen fast alle von einer kleinen Gemeinde in Norwegen ab. Sie sind genetisch höchst homogen, ihre Erbanlagen so ähnlich, dass es einfach ist, abweichende und eventuell die Veranlagung zu Krankheiten tragenden DNS-Teile zu finden. Stefánsson ergänzt süffisant, dass die Norweger, bevor sie nach Island fuhren, in Irland Frauen raubten. Die weiblichen Gene Islands seien viel bunter. Auf dem Schreibtisch stehen Fotos seiner Frau und seiner Kinder. Geht man abends essen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, ihn mit jungen Frauen beim Japaner, beim Italiener, beim Türken zu sehen. Nicht immer mit derselben. Er grüßt dann nicht, tut so, als kenne man sich nicht.

Stefánsson hat ziemliche Bizepse. Sie gehen ins Fitness-Studio? „Nein, warum?“ Sieht so aus. „Nein, ich gehe nicht ins Fitness-Studio.“ Am Abend erzählt Lísa Kristjánsdóttir von sich aus, ach, du hast mit Stefánsson gesprochen? Der geht ins gleiche Fitness-Studio wie ich. Kann nicht sein, dass er sagt, er gehe in keines. Er lügt, ich kenne seine Spindnummer. Ich sehe ihn da oft.

Und sie erzählt dieselbe Anekdote, die schon zwei andere über Stefánsson erzählt haben: Kommt ein Bewerber, ein Isländer, der wie die meisten in Dänemark studiert hat, und bewirbt sich bei Decode. Das Vorstellungsgespräch läuft gut, und am Ende sagt Stefánsson, gehen wir raus und spielen Basketball. Gewinnst du, kriegst du den Job. Decode hat ein Basketballfeld direkt am Hintereingang. Der Bewerber strengt sich natürlich sehr an - und gewinnt. Und bekommt den Job nicht.

Zurück in Stefánssons Büro: Er erzählt, warum die Aktien seiner Firma mal so teuer verkauft werden konnten, dass noch massenhaft Geld da ist. Die Lebensdaten aller Isländer sind in Kirchenbüchern festgehalten, die medizinischen Daten in Krankenakten, auf die Decode mit Erlaubnis des Staates Zugriff bekam. 95 Prozent der Isländer, die seit 1700 lebten, sind erfasst. Es werde anonymisiert, der Datenschutz eingehalten, sagt er. Isländer hätten da keine Probleme. „Ihr Deutschen mit eurer Nazi-Vergangenheit schon. Aber mal ehrlich, das könntet ihr langsam mal vergessen. Es ist ja nett, dass ihr euch eurer Vergangenheit so bewusst seid. Ehrt euch. Aber ihr übertreibt.“ Es klingt wie: Zu viele Skrupel sind geschäftsschädigend.

Jedenfalls nutzen Decodes 300 Chemiker, Biologen und Mediziner den Gen-Pool, um Krankheitsveranlagungen auf die Spur zu kommen. Asthma, Diabetes, Krebs, Depressionen, Migräne, Alzheimer, Schuppenflechte, Schizophrenie, Bluthochdruck, Parkinson - mehr als 50 verschiedene Krankheiten. Die Aktiengesellschaft kooperiert mit Pharmafirmen, die das Wissen nutzen. Gerade hat Decode ein Unternehmen in den USA gekauft, das Medikamente mit dem isländischen Wissen entwickelt.

Die Mehrzahl der Inselbewohner ist stolz auf die Firma. 95 Prozent finden gut, was Decode tut, hat eine Befragung ergeben. Hjálmar Árnason, der Politiker, weiß warum. Es liege am Stolz und am Patriotismus und am Gemeinschaftsgefühl. „Es geht nur um ein paar Haare oder eine Hautzelle. Die könnten beitragen, den Grund für Krebs zu finden. Jeder sollte mitmachen. Das wäre noch ein Beitrag Islands für die Menschheit.“ Die Natur bietet unendliche Möglichkeiten. Und lehrt zugleich Bescheidenheit Össur, ein Unternehmen, das Prothesen herstellt, leistet seit 1971 seinen Beitrag. Nach den Kriegen auf dem Balkan erlebte die Firma einen Boom - allein der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina kostete 5000 Menschen ihre Beine. Aber künstliche Beine Füße, Knie und Arme waren schon zuvor ein gutes Geschäft und sind es auch noch. Überall hin verkauft Össur seine Prothesen, überall wächst der Umsatz - nur in Deutschland gab es wegen der Gesundheitsreform Umsatzrückgänge.

Die Össur-Produkte sind die Speerspitze der Prothesentechnik. Die Firma wirbt mit ihrer wegweisenden Forschung, ihren vielen Erfindungen, den Quantensprüngen, die sie der Branche gebracht hat. Gerade hat sie in den USA einen Prozess gegen einen Imitator gewonnen. Össur produziert vor allem in Reykjavík, entwickelt ausschließlich dort. Wenn man die Firma von außen sieht, an der großen Straße nach Westen, neben einem Autoimporteur und einem Einkaufszentrum in einem Gewerbegebiet, ahnt man nichts davon. Das ist typische isländische Bescheidenheit, die der Decode-Gründer Stefánsson, der fast 30 Jahre in den USA lebte, offenbar verlernt hat.

Wenn man an dem Össur-Verwaltungsgebäude vorbeifährt, ist man bald auf dem Land. Draußen, entfernt von der Stadt, im Auto sitzend, die Landschaft bestaunend, die Lavawüsten, die Geröllebenen, die Gletscher, wirkt Island einschüchternd. Man muss mit dem Auto zum dritten Mal am Tag einen Fluss durchqueren, weil es keine Brücken gibt. Man sieht Wasser 30 Meter hoch schießen. Hört, wie ein Gletscher kalbt und dabei unvergleichlichen Krach macht und den Lärm eines Wasserfalls, der jeden anderen Ton schluckt. Und dann ist wieder Ruhe: keine Tiere, keine Menschen, sechs Stunden nichts entlang der Piste. Ein Gefühl drängt sich auf: Du bist ein kleiner Teil des Großen. Ja, bestätigt Hjálmar Árnason später, man fühle sich eins mit dem Land, die Natur weise dir einen Platz zu.

Alle haben ein Wochenendhaus dort draußen. Das Problem sei derzeit, dass kaum jemand Zeit dafür habe. Sagt Sigurdur Einarsson, 47, Architekt. „Im Augenblick haben wir hier 300 Architekten. Viel zu wenig. Wir bräuchten mehr. Überall wird gebaut. Reykjavík ist gerade die Stadt der Kräne.“ Zurzeit plant er die riesengroße Aluminium-Fabrik von Alcoa in Reydarfjördur im Osten der Insel. 2007 soll sie fertig sein, aus Stahl- oder aus Aluplatten bestehen, „und glitzern wie ein Hering in der Sonne“, sagt Einarsson. Und: „Sie wird die ökologischste Alu-Schmelze der Welt sein.“ Um Aluminium zu schmelzen, braucht man viel Energie. Überall sonst auf der Welt wird dafür Kohle oder Öl verbrannt. In den zwei bereits bestehenden großen, im Vergleich zur geplanten Alcoa-Schmelze aber etwas kleineren Alu-Schmelzen Islands wird bereits die Kraft gestauten Wassers genutzt. Islands Alu ist somit Ökologisch besser.

Alu ist der Trick, den Island nutzt, um seinen Energiereichtum - Wasserkraft und Erdwärme - zu exportieren.

Die Schmelze von Alcan, dem, bis Alcoa 2007 startet, noch größten Aluminiumproduzenten auf der Insel, liegt am Meer. Dort können die Schiffe, die das Aluminiumoxid bringen, ein weißes Pulver, direkt entladen werden. Außerdem braucht man Kühlwasser. Hrannar Pétursson, der Firmensprecher, eilt durch das moderne, schicke Gebäude und klopft überall drauf: Fensterrahmen? “ Alu“. CDs? „Alu“. Er grinst. Espressomaschine? „Alu.“ Autos? „Alu“. Hier, die Treppe: Alu. „Alu wird überall gebraucht, überall.“ In einem Prospekt für Aktionäre, den er auf den Tisch gelegt hat, steht: „Endless possibilities.“ Dann sagt er den nächsten isländischen Standardsatz: „Jede Getränkedose: Alu.“ Und er erzählt die isländische Alu-Geschichte. Alles fing so an: 1960 flogen zwei Vorstände von Alusuisse, Emanuel Mayer und Paul Müller, aus den USA über Island zurück in die Schweiz. Beim Anflug sahen sie aus den kleinen Fenstern und erkannten es als Schweizer deutlich: Ein wasserreiches Land - diese Kraft müsste man nutzen. So entstand die Alusuisse-Fabrik, die 1969 begann zu produzieren und inzwischen zum kanadischen Alcan-Konzern gehört.

Pétursson erklärt, wie’s funktioniert: Das Aluminiumoxid wird mit viel Strom zusammengebracht, die Elektrolyse spaltet die Elemente, übrig bleibt unter anderem Aluminium. Noch einmal: sehr energieintensiv. „Wir allein verbrauchen zurzeit ein Drittel aller Energie, die auf der Insel genutzt wird.“ Hauptsächlich Wasserkraft, nur sehr selten mit Erdwärme erzeugter Strom. Alcan stellt 180 000 Tonnen Aluminium im Jahr her. Eine zweite, früher isländische, inzwischen von Amerikanern gekaufte Schmelze liefert etwa 90 000 Tonnen. Deren Ausstoß und damit ihr Energieverbrauch soll bald verdoppelt werden. Gerade wird an- und umgebaut.

Alcan hat auch gerade erweitert. Dazu kommt die riesige Alcoa-Baustelle im Osten der Insel. Der Konzern will dort eine der größten Aluschmelzen der Welt errichten. Zahlen zwischen 240 000 und 360 000 Tonnen Jahresproduktion sind zu hören. Hrannar Pétursson sagt: „Meines Wissens werden die doppelt so groß wie wir.“ Er erzählt, dass die Regierung Islands seit den sechziger Jahren überlegte und überlegen ließ, wie denn der Energieüberfluss sinnvoll zu nutzen sei. Da kamen die Schweizer. So wurde entschieden: Aluschmelzen eben.

Auch das Image stimmt. Die Insel mit dem Öko-Touch zieht Touristen magisch an Es ist elf Uhr am Morgen und dunkel. Die Sonne geht im Winter nahe dem Polarkreis erst ab elf Uhr auf. Thorkell Helgason, der Generaldirektor von Orkustofnun, der nationalen isländischen Energiebehörde, sitzt in seinem Büro in Reykjavík und erzählt von Krafla, dem geothermalen Kraftwerk. Helgason redet ganz anders als der Politiker Árnason oder die Alu-Leute. Er wirkt unaufgeregt, ist einer, der sich von größter Euphorie nicht mitreißen lässt. Inzwischen ist Island eine Insel der Fachleute für Geothermie, Wärme aus der Erde. Nach gängiger Argumentation eine billige, erneuerbare, saubere, grüne, schöne Energie.

„Na ja“, sagt Helgason, „das ist ein großer Streit hier auf Island. Ist das erneuerbare Energie? Geothermale Quellen sind endliche Quellen, nach einiger Zeit kommt nichts mehr, man muss sie dann verschieben, also neu bohren.“ Er liest viele Zeitungen, deutsche, französische, englische, dänische, norwegische. In einer Ablage sind Kopien von aktuellen Artikeln zum Thema. Es sei schrecklich: Da sei nur über geothermale Energie zu lesen, wie billig sie sei. “ Alle tun so, als sei das kostenlose Energie. Was Quatsch ist. Da sind große Investitionen nötig. Wir sind bei weitem nicht die billigsten Energieproduzenten der Welt.“ Er lächelt und sagt: „Es ist zurzeit noch billiger, Erdgas zu verbrennen und so Wasserstoff herzustellen.“ Island habe also die sauberste Energiebilanz der Welt, hydro- und geothermale Energie in Mengen. Wirklich? „Gut fürs Image, hilft sicher dem Tourismus. Inzwischen haben wir jährlich mehr Touristen hier als Island Einwohner hat, und die kommen oft wegen diesem Öko-Touch, viele wandern.“ Bisher wurde nur ein Weg gefunden, die grüne Energie wirtschaftlich sinnvoll zu nutzen. In Aluminiumschmelzen.

Die große Hoffnung für die Zukunft sind mit Wasserstoff angetriebene Autos. Gegenwärtig ist der Wasserstoffantrieb 50- bis 100-mal teurer als der übliche mit Otto- oder Dieselmotoren. Helgason: „Die Experten streiten gerade sehr, einige sagen, in 50 Jahren spielt Wasserstoff keine Rolle mehr, andere, in 50 Jahren ist Wasserstoff der wichtigste Antrieb für Fahrzeuge.“ Aber die Isländer haben eine Vision: Sie stellen Wasserstoff mit sauberer Energie her und verschiffen ihn in die Welt. Jeder erzählt davon, meist fällt dann der Slogan „neues Kuwait“, und manchmal denkt man: Die sind im Rausch. Wie die schwärmen, in Optimismus baden. Nach zehn Tagen auf Island nutzt sich der Effekt allerdings etwas ab. Vielleicht wird’s ja was, vielleicht auch nicht. Thorkell Helgason sagt auf dem Weg aus dem Büro: „Diese Energiegeschichten sind ein tolles Image-Ding für Island.“ Einer der Berufs-Euphoriker ist Jónas Elíasson, 67, Chemiker, Professor, früher stellvertretender Energieminister, jetzt Unternehmer. Ihm gehören zwei Finnen. Er berät, lässt Konzepte schreiben, ist Fachmann und redet, als wäre er einer von denen im Rausch. Nur: Er hat manchmal einen zynischen Unterton, als wäre alles ein Spiel. Er ist schon lange dabei: „Es ist ein Boom, der viel Geld bringt, Fördermittel, aber auch richtiges Geld. Viele Leute leben davon.“ Er grinst.

Der Fachmann für erneuerbare Energien ist ein typisch isländisches Multitalent. Mit patriotischem Stolz - ist der jetzt echt oder nicht? - führt er die Tankstelle vor, wo die Busse der Verkehrsbetriebe Reykjavíks tanken, die teilweise mit Wasserstoff angetrieben werden. “ Wir haben grüne Energie im Überfluss. 90 Prozent der Heizenergie wird ohne Kohle und Öl gewonnen. 70 Prozent der Energie, die wir verbrauchen, ist erneuerbar. Unser Ziel ist die kohlendioxidfreie Gesellschaft. Wir sind näher dran als alle anderen.“ Wasserkraft und geothermale Energie, also heißer Wasserdampf aus dem Erdinneren, reichen, um Island voll zu versorgen und andere mit. „Irgendwann mal werden Kabel durch die Meere Energie transportieren. In Skandinavien gibt es das schon.“ Nun träumen sie von der Wasserstoffwirtschaft. Ein kühner Traum. Aber das irritiert sie nicht Aber nur Turbinen anzutreiben reiche nicht. Der nächste Schritt, wie gesagt, ist der Antrieb von Motoren mit Wasserstofftechnik. Elíassons Universitäts-Kollege Bragi Árnason hat sich den Ruf des Übervaters der Wasserstofftechnik erarbeitet. Er betont erst einmal, dass Öl, wie jeder weiß, endlich ist. Dann käme wohl Wasserstoff, um Autos anzutreiben, so der Professor. Und das werde so funktionieren: „Du nimmst elektrische Energie und spaltest damit Wasser, produzierst so Wasserstoff. Wasserstoff kann transportiert werden. Wenn man ihn mit Sauerstoff zusammenbringt, entsteht Strom und Trinkwasser.“ Árnason rast in seinem mit Büchern zugestapelten Büro an der Universität Reykjavík durch eine Powerpoint-Präsentation mit den Details, 69 Jahre alt, voll arbeitend, nuschelnd, aber mit jugendlichem Eifer. Wie lange werden Sie noch arbeiten, Herr Professor? So lange, wie sie mich lassen, sagt er und redet weiter, voller Optimismus, Eifer und Patriotismus. Ein echter Isländer. Wie der Politiker, wie der Alu-Pressesprecher, wie der Architekt, wie die Agentin, wie die Schauspielerin, wie der Unternehmer.

Einen Isländer erkennt man daran, dass er seinem Zuhörer nach spätestens einer halben Stunde versucht, mit aller Macht eine Idee zu vermitteln: die Idee, dass da ein Boom ist, wenn man ihn nur haben will.