Versicherung

Reportage
unveröffentlicht

Die Situation, in der dieses Gespräch über Sicherheit, Altersversorgung, Lebensversicherungen stattfindet, ist wichtig für das Verständnis. Craig, ein Amerikaner, der in Jakarta, einem Moloch voller Armut, lebt, erklärt auf dem Weg durch ein übles Slum, warum er, ein ehemaliger fundamentalistischer Prediger einer presbyterianischen Kirche in Houston, Texas, zum Islam konvertiert ist. Das Slum, nahe dem Fluss und dem Fischmarkt, sieht so aus, wie man sich ein Slum vorstellt. Kleine, wackelige Hütten, dicht aneinander, wenig Möglichkeiten für die Sonne, durchzudringen und Menschen zu erreichen. Dreck. Überall hängen dicke Stromleitungen weit herunter. Viele Kinder, überall Kinder. Das Leben findet auf der Straße, naja, die Straße ist keine zwei Meter breit und weil es vor kurzem geregnet hat, matschig, statt. Ab und an steht hier sowieso alles unter Wasser. „Der Islam“, sagt Craig, der hier Familien mit seinem Geld hilft, „ist eine Religion für arme Menschen. Schau, hier herrscht bitteres Elend, aber das Leben ist nicht elendig.“ Mhhh, Craig, das sehe ich ganz anders. „Klar, du bist Europäer. Ihr Europäer mit euren Sozialversicherungen, ihr seid uns Amerikanern suspekt. Wir haben immer diese nackte Existenzangst, die uns antreibt. Die kriegen Amerikaner von klein auf eingeimpft.“ So empfinde er Deutsche oft als Sissies. Sagt wirklich Sissies. Nein, die Geschichte der Kaiserin kenne er nicht. Romy Schneider? Nie gehört. Der Ausdruck komme woanders her. Stehe für Leute, die zuviel über Altersvorsorge nachdenken, die zuviel Existenzangst haben, unbedingt Sicherheiten brauchen, nicht risikofreudig sind. Graig, die Leute hier sind das doch auch nicht, die sind null veränderungswillig, null. Ja, sagt er: „Sie wissen, der Islam verlangt, dass Du, wenn Du Geld hast, Armen hilfst. Das sorgt leider dafür, dass sie sich nicht wirklich anstrengen, ihr Elend ist nicht elendig. Immer wieder hilft ja wer.“ Nicht in Ordnung, finde ich.

Craig versucht, ein seltsames Glück zu beschreiben. Den Menschen hier gehe es gut, weil die Familien funktionieren, funktionieren müssen, weil die Nachbarschaft hilft, weil man gemeinsam in der gleichen elenden, aber nicht elendigen Lage sei. Craig, das ist naiv, elend, elendig, den Unterschied erkenne ich nicht. Wir kommen an den Rand eines Streits, und irgendwann bin ich so blöd und erzähle ihm, ich weiß nicht mehr warum, ich erzähle, dass ich, bevor ich losgeflogen bin, gerade noch einen Brief von meiner Lebensversicherung bekommen habe, in dem steht: die garantierte Verzinsung werde um ein halbes Prozent zurückgefahren. Craig stutzt und sagt: „Deutsche. Ihr Deutschen seid verrückt. Schau mich an, ich baue hier eine Firma auf, die mich im Alter ernähren wird und noch viele weitere Menschen. Eine Lebensversicherung ist dazu da, Deiner Familie zu helfen, falls Du stirbst. Was ihr in Deutschland draus macht, ist was anderes.“ Craig hat, nachdem er Prediger in Houston war und bevor er sich hier selbstständig machte, für eine Telekomfirma gearbeitet und ist ständig um die Welt geflogen. Er zählt auf: Singapur, Manila, Kuala Lumpur, Pnom Penh, Jakarta eben, Hongkong, Shanghai, HoChiMinh Stadt, Beirut, Amman und immer wieder New York. „Meistens via Frankfurt, ich habe gerne dort Zwischenstopps gemacht, so oft ich konnte und Weißwürste gegessen.“ Er sagt, er liebe Frankfurt. Es stellt sich raus, er kennt nur den Flughafen von etwa hundert Mal umsteigen dort. Er findet, dass das ein gut organisierter Flughafen sei, einer der funktioniere. Darüber streiten wir uns dann auch länger. Und ich erkläre ihm, dass Weißwürste und Frankfurt nichts miteinander zu tun haben, höchstens für blöde Touristen. Er erzählt: „Einmal lernte ich in dem Restaurant einen Mann kennen, nach fünf Minuten erzählte er mir von seiner Versicherung. Die muss ihn nervös gemacht haben. Er jammerte auch sehr, weil die staatliche Altersversorgung …“ Rente? „Ja, weil die wohl am schrumpfen sei. Er fühlte sich betrogen und schien wie gelähmt, geistig, meine ich. Diese Sicherheit, die keine ist, hat den Mann fertig gemacht. Und ehrlich, wann immer ich mit Deutschen ins Gespräch kam, genau das wurde das Thema.“ Hey, sag ich, Du hast angefangen. „Ihr seid paranoid, schreit nach dem Staat, kriegt euren Hintern nicht hoch. Macht einen wirklich schlechten Eindruck.“

Kinder zupfen an unseren Hosen und betteln. Craig gibt und ich schließlich auch. Dabei überlege ich und abends gehe ich ins Internet. Was nicht so einfach ist in Jakarta, selbst in der edlen Gegend Kemang, wo der Reichtum sitzt, ist das eine Sisyphosarbeit. Ich lande bei Kentucky Fried Chicken, denn die haben im zweiten Stock Computer stehen und schaffen manchmal sogar eine Verbindung zum Netz. Die Atmosphäre ist schrecklich, der Laden ist übervoll, Schulkinder in Uniformen, weißes Hemd, dunkelblaue Hosen oder Röcke, schwarze Krawatten spielen Counterstrike und schreien. Gibt es bei uns noch Counterstrike? Ist doch uralt. Ich lasse Google arbeiten, stehe drei Abstürze durch und finde folgende Neuigkeiten: die Rente ist nicht sicher, die Deutschen haben zuwenig Geld zurückgelegt für ihre Altersversorgung, Lebensversicherungen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Deutsche sind die Versicherungsweltmeister. Craig will sicher Details, also schreibe ich auf: in den USA wird pro Nase etwa dreimal soviel Geld zurückgelegt für das Alter wie in Deutschland. Wir sind ganz hinten in allen Tabellen, die sich mit Rücklagen für später befassen. Je mehr der Staat tut, desto weniger tun die Bürger, lese ich wo. Ich studiere drei Websites. Eine vom Bundesaufsichtsamt für Versicherungswesen, eine vom Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft und eine vom Deutschen Institut für Altersvorsorge. Ich denke: Wow, Bundesaufsichtsamt, Gesamtverband, Institut, das glaubt Dir keiner.

Am nächsten Tag sagt Craig: „Klar glaube ich das, klingt typisch deutsch für mich. Und was hast Du da für Informationen gesammelt?“ Naja, ich fasse für ihn zusammen: Deutschen lieben Lebensversicherungen, sie stecken viel Geld rein. Im Gegensatz zu allen anderen ist es die Hauptversorgung im Alter neben der staatlichen Rente. In den USA investieren alle in Aktienfonds, in England auch. Ich wittere meine Chance, es Craig für diese Tage des Zweifelns, des Verzweifelns, diese Stunden voller Minderwertigkeitsgefühle, die mir durch den Kopf schwappen, zu strafen. Wobei, das muss ich zugeben, dieses miese Gefühl heute nicht nur von Craig geweckt wurde. Schuld hat auch der Mann an der Rezeption des Hotels. Er hat gestern abend zu mir gesagt: „Sie lachen ja. Ich dachte, Sie sind Deutscher.“ Ich frage Craig: Du hast doch sicher, als ordentlicher Ami, Geld in Aktienfonds investiert. Wieviel hast Du verloren in den vergangenen Jahren? Craig rechnet vor, es klingt etwas besser als meine Lebensversicherungsbilanz mit meinem verschollenen halben Prozent. Ich sage: denk mal fünf Jahre zurück oder vier. Kannst Du Dich erinnern? „Ok, Du hast recht, da hatte ich Panik.“ Risikovermeidung ist nicht sissy, sag ich. Er lacht und macht sich für Aktien, Risiko, Unbequemlichkeit stark, dreht es immer machohaft hin und hat immer diesen übertriebenen Ami-Optimismus. Fühl mich angegriffen.

Am Ende sagt Craig: „Außerdem, die Firma, die ich hier gegründet habe, ist ein Erfolg, in ein paar Monaten trägt sie sich, ich expandiere, das kann durchaus eine Altersversorgung werden.“ Ich finde, er ist zu optimistisch. Seine Firma, El Quran Selular, soll Koranwissen in Indonesien verbreiten. Es ist das Land, in dem die meisten Muslime leben, insgesamt 180 Millionen. Es ist ein armes Land. Craigs Hoffnung ist, wenn die Menschen den wahren Islam kennenlernen, nicht den durch Jahrhunderte verwässerten, dann wird hier alles besser. Klar, sage ich, dann spenden alle, jeder hilft jedem und keiner muss sich um die Altersversorgung kümmern. „Du sagst das so herablassend“, meint Craig, „sei mal ganz ehrlich, ist es nicht die Aufgabe der Familie, sich um die Alten zu kümmern? Die ziehen die Kinder auf und wenn sie alt sind, kümmern die sich um sie. So sollte es sein.“ Klingt gut, geht aber in Deutschland nicht mehr. Zu weit weg für uns. Zu wenig Kinder. „Hier gibt es genug Kinder“, sagt Craig. Ich komme zu folgendem Schluß: ich mag es sicher. Und: Craigs Risiko ist groß, auch wenn es jetzt gut läuft, aber seine Firmen in Jakarta, mh, naja, da möchte ich nicht drauf bauen. Man kann mit ihr ein Abo abschließen, für 36 Dollar im Monat, dafür bekommt man täglich eine SMS mit einer Freischaltung, der Erlaubnis, eine Telefonnummer anzurufen. Da hört man vom Band eine Koransure und danach einen populären Prediger, der sie erklärt. Am Fluss beobachten wir kleine Jungs, die Fische aus trübem Wasser fangen, um ihre Familien mitzuernähren. Ölkanister schwimmen im Wasser, Kondome, Plastiktüten, Holz. Wir einigen uns darauf, dass mein Problem, vier Prozent statt viereinhalb Prozent Verzinsung oder so für meine Lebensvesicherung, ein minimales Problem ist, verglichen mit dem Leben hier. Und ich sag: Ich bin hier draußen, Du musst noch ein paar Jahrzehnte Risiko spielen. Er schaut mich nachdenklich an. Wir gehen zu Craigs Wagen, einem hellbraunen Jeep, den Craigs Fahrer, Untur, am Rand des Slums bewacht.

Ok, Craig, wenn Deine Firma nichts wird, was machst Du dann? „Ich habe ja noch das Geld an der Börse.“ Wir lachen beide, weil wir uns der Lächerlichkeit und der Dekadenz der Situation bewußt sind. Aber Craig sagt sofort und ernst, „ich bin optimistisch, ich denke, ich habe besser vorgesorgt als Du mit Deiner Lebensversicherung.“ Später erklärt mir Untur, der Fahrer, als Craig draußen mal wieder eine raucht: Craig gebe 40 Prozent seines Monatseinkommens an Arme, und das ist hoch. Er schickt 24 Kinder auf die Schule, bezahlt die Schulgebühren, die Bücher, finanziert ihnen ein Haus, gibt ihren Eltern jeweils 30 Dollar monatlich, damit die Kinder als Arbeitskräfte nicht eingeplant werden. Keine Altersversorgung durch Kinderarbeit. Er zahlt den Arzt, die Klamotten, vier Familien hat er im Slum Häuser gebaut. Warum hat er mir das nicht erzählt? Untur sagt: „Er ist ein guter Mann, er gibt nicht an. Wenn es Craig mal schlecht gehen sollte, er hat hunderte Freunde in Jakarta.“ Na gut, hab ich nicht, aber immerhin ‘ne Lebensversicherung.