El Alemán

Portrait
zuerst erschienen am 5. Juli 2007 in Capital, 15, S. 132 -137
Fassung des Autors
Vom Emigrantensohn zum Handelskönig Lateinamerikas

Es ist 8:30 Uhr am Samstag. Bis 7:30 Uhr habe er geschlafen. Es sei fit, sagt Host Paulmann, 72 Jahre alt. Er hat graue dünne Haare, eine hohe Stirn, markante Ohren und trägt eine randlose Brille. Der Pullunder über dem hellen Hemd lässt ihn wie einen altmodischen Rentner erscheinen. Um 5 Uhr ist er auf dem Flughafen Santiago de Chiles gelandet, aus Bogotá kommend, wo er nach Mitternach Verträge unterschrieben hat „Fünf Stunden Schlaf reichen.“ Er klingt frisch. Ricardo Lagos, damals noch Präsident Chiles, sagte ihm: Wenn er ein Problem habe, solle er ihn direkt anrufen, wenn er Hilfe brauche, jederzeit. Paulmann antwortete: Herr Präsident, keine Angst, ich werde sie nie anrufen. Es gibt Zeugen für das Gespräch, und Lagos hat davon erzählt. So ist Paulmann. Probleme löst er selbst. „Lagos habe ich nie angerufen, natürlich nicht.“

Es war bereits der zweite oder dritte Versuch, endlich in Kolumbien Fuß zu fassen. Es war nervenaufreibend. In den vergangenen Wochen sind er und seine Mitarbeiter ständig hin und her geflogen. Manchmal sah es so aus, als würde es nichts werden und Horst Paulmann keine Supermarktkette in Kolumbien aufbauen. Aber nun sind die Verträge unterschrieben. Ihm gehören 70 Prozent der neuen Firma, er oder besser seine Censcosud leiten das Management. Der Teilhaber, eine französische Supermarktkette, die seit Jahren versucht hatte, in Kolumbien Fuss zu fassen und scheiterte, wird sich Horst Paulmann anvertrauen. Nächstes Jahr öffnet der erste Homecenter. Der sitzt nun, am Morgen nach dem Deal, auf einer altertümlich eleganten Couch, hinter sich ein Ölgemälde mit röhrendem Hirsch. Der Raum ist übergroß, zwei Couchs, acht tiefe Sessel, viele Kissen, ein Plasmabildschirm und noch sehr viel Platz. Sein Wohnzimmer wirkt museal, unbenutzt, leblos. In Südamerika gibt es diese Paulmann-Mythen: Er habe gar kein Haus, lebe nur in Hotels und Flugzeugen. Oder: Er lebe in Argentinien. Er habe ein Bett im Büro. Er sei seltsam. Er sei verrückt. „Ja, verrückt, das sagen die Leute oft über mich.“ Zu seinem Ruf hat Unwissenheit beigetragen. „Ich arbeite, ich habe wenig Zeit für Presse.“ Jeder, der ihn kennt, nennt ihn Workoholic, „voller Einsatz, Tag und Nacht“, sagt wer. „Unbändig“, wer anders.

Er könnte Witwer sein oder er ist geschieden. Man weiß es nicht. Beides wird erzählt. Über Privates werde er nicht sprechen. Niemand weiß es sicher. Er gilt als Diktator. „Lesen Sie mal vor, was sie da aufgeschrieben haben!“ Na gut. Er hört zu. „Lesen Sie es noch einmal vor.“ Pause. „Gut, das kann man so lassen.“ Mehrmals sagt er: „Schreiben Sie: Paulmann sagt, Komma.“ Wie wär’s mit einem Doppelpunkt? „Nein, Komma.“ Er ist nervös, die Situation ist neu für ihn. Er will die Kontrolle haben. Ein paar Fragen ignoriert er einfach.

Er sei, bei allem Kontrollieren und Aufpassen, nett, ein Patriarch alten Schlages, der sich um seine Leute kümmert, wird erzählt. Ja, die Legende stimme, er sei jeden Tag in den Supermärkten und unterhalte sich mit den Angestellten. „Das ist mein Hobby. Ich mag Leute.“ Er erzählt von einer Verkäuferin in Bogotá. Die habe sich von ihm mit: Möge die Jungfrau Maria sie schützen, verabschiedet. Und sie habe es ernst gemeint. Er, der Instinktmensch, entscheidet aus dem Bauch. Ab und zu hält er einen Vortrag an Unis oder in Handelskammern, dann ist wieder zu lesen: Acht Milliarden Dollar Börsenwert hat Cencosud, seine Centros Comercial de Sud, die ihm und seinen drei Kinder, Manfred, Peter und Heike gehören. „Rechnen Sie“, sagt er. Und es ist das einzige Mal, dass sowas wie Humor spürbar ist. Die drei sind im Aufsichtsrat von Cencosud, nachdem sie  Jahre im operativen Bereich waren. Bis 2004 hatte er alles aus dem Cash Flow finanziert, es war allein seine Firma. Er schimpft auf Banken, ziemlich. Dann der Börsengang, „der Kurs stieg von 1 Dollar auf 4 Doller, der Börsenwert von zwei auf acht Milliarden Dollar.“ Mit dem Geld ging er auf Einkaufstour in Argentinien und Chile. Cencosud betreibt 200 Warenhäuser und Supermärkte, Baumärkte, Warenhäuser, Shopping-Malls in Chile, 300 im viel größeren Argentinien. Die Marken: Jumbo, Disco, Vea, Santa Isabel, Easy, Paris. Dazu Erlebniscenter. Er lässt gerade das höchste Gebäude Südamerikas bauen, das größte.

Da erzählt er gerne von: Etwa 450 Millionen Dollar wird er kosten, der Costanera Center, 700000 Quadratmeter haben für zwei Hotels, Bürogebäude, Spa, Shopping Mall, Kinos und Entertainment. Vier Türme sind es, drei, 180 Meter, ähneln sich. Der vierte, der Gran Torre Costanera wird mit 300 Metern, das höchste Gebäude Südamerikas, geplant von César Pelli von Pelli-Clark-Pelli, die den Petronas-Tower in Kuala Lumpur und den World Financial Center in Hongkong entworfen haben. Seit März 2006 wird gebaut. Die Baustelle ist gigantisch. „1986 in der Krise haben wir das Grundstück, 50000 Quadratmeter am Rand der Innenstadt gekauft. Billig. Alle hielten mich für verrückt. Heute ist es mitten im Zentrum des neuen Geschäftszentrums Santiagos.“ Der Mann hat im Alter von 16 Jahren mit nichts, mit gar nichts angefangen und lange gekämpft. Erst mit 50 kam der ganz große Erfolg.

Man sieht Horst Paulmann sein Alter an, wenn er da kerzengerade sitzt und ab und zu an seinem Wasser nippt, Blick in den Park. Er redet abgehackt, in kurzen Sätzen, spricht schnell. Aber manchmal wirkt er älter als er ist. Man hört sein Alter auch nach ein paar Stunden, wenn die Pausen länger werden, wenn er mehr spanische Worte benutzt, wenn er sich wiederholt und so klingt, als würde er ein im Kopf gespeichertes Programm abrufen. In solchen Momenten nennt er als Gründe für seinen Erfolg: „Glück, aber Glück macht nur 5 Prozent aus, 95 Prozent sind harte Arbeit.“ - „Man muss immer positiv sein, innovativ.“ - „Wir wissen, dass wir nicht intelligenter als andere sind.“ Risikofreudiger eben. „Man muss mit den Füßen auf dem Boden bleiben.“ Solche gestanzten Sätze, die nichts erklären, benutzt er viele. Er lobt Disziplin, Einsatz, „sich anstrengen“. Wiederholt: „In schlechten Zeiten kaufen! Nur ein Beispiel, in Argentinien, Home Depot, die Amerikaner, waren so froh einen Verrückten gefunden zu haben. Wir handelten Zahlung auf zehn Jahre, ohne Zinsen. 2002. Alles heute schon abbezahlt, wir haben nie Verluste gemacht in Argentinien. 2003 war Argentinien ein schlechten Wort.“

Also bekam er auch von Ahold, der holländischen Kette, viele Supermärkte billig. Auch in Chile. „Ziel setzen, daran festhalten, auch in schlechten Zeiten, an sich glauben. Ökonomie ist wie ein Uhrpendel. Es geht nach unten, aber es geht auch immer wieder nach oben. Wir haben gelernt in schlechten Zeiten zu investieren. Wenn alle anderen fliehen. Wenn das Pendel nach oben geht, haben wir fertig gebaute, voll ausgestattete Läden.“ Überall. Er sagt so was schematisch. Seine Augen, die anfangs genau musterten, schnell hin und her gingen, werden langsamer. Doch dann kommen seltsame Momente, völlig überraschend. Sätze wie: „Wir mussten einfach nur durchhalten“ klingen dann echt. Plötzlich wirkt er jung, klingt ganz anders, eifrig, seine Stimme ändert sich, manchmal explodiert er geradezu. „Ich hab Zeiten erlebt, da gab es in zehn Tagen fünf verschiedene Präsidenten. Oder 300 Prozent Inflation im Monat. Da lernen wir beten.“ Und die Details sind plötzlich spannend, die Szenen leben. Er ist über die Frage völlig irritierr. „Nein, ich bin nicht religiös.“ Die Frage, warum er, im Gegensatz zu allen anderen, Erfolg gehabt hat, nach dem Geheimnis, versteht er gar nicht. Er hat einfach gemacht, für ihn gab es keine Optionen.

Er ist stolz. Als alle aus Argentinien raus gingen, ging er rein. Es war der zweite Versuch. 1986 sei er nicht erfolgreich gewesen, er habe es dann einfach wieder versucht in Argentinien. Er sagt nie „ich“, er sagt „wir“. Und als alle aus Chile weg wollten, „kauften wir“ zu. Jetzt Kolumbien. Das werde. „Die Zyklen in Südamerika sind schnell. Wer hätte denn 2002 gedacht, dass Argentinien wieder hoch kommt?“ Richtig, nur „wir“. Oder 1970. Da hatten er und sein Bruder Jürgen genau drei Supermärkte. Er zählt die Adressen auf. „Und die wurden von Allende verstaatlicht. Wir mussten aus dem Land, nach 60 Tagen waren wir wieder da. Haben geklagt, gewonnen, und wieder wurden die drei Läden verstaatlicht. Wir haben wieder geklagt, wieder gewonnen, wurden wieder enteignet, haben wieder geklagt, haben wieder gewonnen. Doch, dreimal, viermal, immer wieder.“ Erst danach, weil außer ihm keiner so lange durchhielt, weil alle anderen flohen, wurde Paulmann groß. „1980 war Chile noch ein armes Land, da hat niemand investiert.“ Nur „wir“. Es war die Zeit der Militärdiktatur, aber für ihn ist es die Zeit des Wachstums, sonst nicht. Die Zeit, in der er seinen ersten großen Shopping-Center aufmachte. In den die Leute stürmten. In dem sie einkauften wie noch nie. Politik ist da unwichtig für ihn. Es war einfach nur der Anfang des Erfolgs. Vielleicht sieht er die Diktatur noch als die Zeit, in der er sich mit seinem älteren Bruder Jürgen zerstritt. Die beiden trennten sich 1986, weil Jürgen nicht an den Erfolg des Shopping-Centers glaubte.

Es gibt viele Sachen, die er nicht erzählen will. Von seinem Vater erzählt er nichts, von seinem Bruder nichts, seine Familie hält er ganz raus. Und Politik gibt es für ihn nur als Voraussetzung für Ökonomie. Mehr sagt er nicht. Klar ist nur: geboren in Kassel. Die Familie aus Rheinhessen, war eine Zeitlang in Hannover. Nach dem Krieg wanderte die Familie, acht Kinder, nach Argentinien aus. Die Tante mit fünf Kindern ging mit. Es lief nicht in Argentinien. Perón machte Grenzen für Importe dicht, die Wirtschaft lahmte, Paulmanns zogen weiter nach Chile. Fingen dort klein an. „Wir Kinder haben immer mit zum Einkommen der Familie beigetragen, schon in Argentinien.“ Er selbst bastelte und lackierte Puppen, die unter den Betten der Kinder getrocknet wurden. „Es stank.“ Also stieg er auf Einkaufsnetze um, dann auf Hängematten. Er sei bis 16 zur Schule gegangen, habe da bereits als Laufbursche in einer Firma namens Santilan gearbeitet. Den Namen sagt er gerne. Es ist zu erkennen: Das macht ihm Spass, er rechnet ab. Mit den Ignoranten, die ihn damals feuerten. Er taut auf, ruft ab und zu „No, no, no“.

Er ist deutscher Staatsbürger. Sein Deutsch ist gut, aber ab und zu sucht er ein spezielles Wort führt. Er sagt: „Unternehmer muss man mit Spass und Lust sein.“ Lässt sich den Satz vorlesen. Denkt nach. Gibt es ein anderes Wort für Lust? Wie wär es mit Leidenschaft? „Nein, nein, ein anderes Wort.“ Nach langer Diskussion sagt er, na gut, „schreiben sie Leidenschaft“. Er erzählt Anekdoten von damals, als die Familie nach La Union im Süden Chiles kam. Der Vater starb früh, die Kinder mussten ran. Er managte in den 50ern ein Hotel in einem Skigebiet in den Anden, bekam Probleme, biss sich durch. „Der Enrique Sieveking zitierte mich zu sich und sagte, es habe Beschwerden gegeben.“ Wer? „Na, der Präsident des Skiclubs.“ Kurz darauf eröffneten er und sein älterer Bruder Jürgen ein Restaurant in Tamaco. Einige andere der Paulmann-Kinder gingen zurück nach Deutschland. Wegen der harten Zeiten in Chile. Das Restaurant lief nicht. Als ein Freund Nüsse und Erdbeeren vorbeibrachte, stellten sie die in Körben auf das Fensterbrett. „In zwei Stunden war alles verkauft, da war uns klar, was wir machen“. Aus der Kneipe wurde ein Supermarkt. Es hatte Probleme gegeben, weil „wir einen Lastwagen voll geschmuggelten Fetts aus Argentinien gekauft hatten. Sehr günstiger Preis“, er wartet. „Kommen alle Details durch? Sehr günstiger Preis. Damit konnten wir unsere Bratkartoffeln billiger machen. Eines Tages traf ich in der Stadt Oskar Menzel und fragte ihn, warum er nicht mehr bei uns esse. Er antwortete: Euer Öl ist ranzig.“ Solche Erzählungen wirken etwas wirr, aber Paulmann lenkt sie zu einem Punkt: „Heute überprüfen wir in unseren Läden die Qualität der Ware alle selbst.“ Wir ist er, er geht durch die Supermärkte, spricht mit den Verkäuferinnen, kontrolliert die Waren.

Die Villa ist riesig, in einem riesigen Park, mit Pool und leeren Stallungen. Für den Weg vom Tor zum Haus braucht man ein Auto. Er entschuldigt sich geradezu für den Protz. „Ich habe es in der Krise gekauft, als es wirklich billig war, niemand sonst wollte investieren.“ Also hat er gekauft, wie immer, wenn andere Angst hatten. Und nun lebt er in einer Pracht, die nicht zu ihm passt. Er ist bescheiden. Sein Büro, es ist noch im sechsten Stock seines ersten Shopping Malls in Santiago, ist nicht größer als das der anderen Manager. Und bei allem, was er sagt, zeigt sich Bescheidenheit. Man kann heraushören, dass er in dieser Hacienda mitten in Santiago, natürlich in der besten Gegend einer Stadt, ungern lebt. Zu pompös. Er erzählt von seiner Familie: drei Geschwiseter, älter als er. „Alle Kinder haben immer zum Einkommen der Familie beigetragen.“ Dann erzählt er mit Freude von damals, blüht auf.

Ja, er kenne die Adressen all seiner 500 Supermärkte. „Es gibt einen in Nord-Argentinien, das ist der einzige, den ich noch nicht besucht habe. In dem war ich noch nie.“ Der wurde vor zwei Wochen eröffnet, er war gerade in Bogota. Ein „Ich“. Nun erklärt er, er sage nie „ich“, nur „wir“. Er erklärt das so: „Ich rede von der Firma, es geht um die Firma, nur um die.“ Ein Loblied auf seine Leute folgt. Hobbys hat er keine. Die Frage findet er schon unverschämt. Was er denn gerne mache? „Nun, ich rede gerne mit den Leuten, mit meinen Mitarbeitern und Kunden. Das macht mir Spaß.“

Chiles Retail ist ein seltsamer Markt. Er gehört fast zur Hälfte Paulmann. Ausländische Firmen haben nie Fuß fassen können. Versuche gab es viele: Tesco aus England, Arhold aus Holland waren die letzten. Beide nahmen viel Geld in die Hand und kämpften lange, bevor sie gingen. Chiles Konsumenten sind anders, ist nach und nach Horst Paulmann zu entnehmen. Die Preise seien wichtig, aber die Chilenen seien vor allem Genießer und an Qualtität und Frische interessiert. Und: Sie wollen beraten werden, angesprochen werden, sie wollen im Supermarkt reden. Es gibt noch ein anderes: Paulmanns Jumbo hat eine eigene Kreditkarten eingeführt, die weiter verbreitet sind als die der Banken. Man müsse seinen Kunden trauen, sagt er. Sie hätten immer zurückgezahlt.

Er sagt „wir“. Aber es ist offensichtlich: Er hat aus dem Nichts ein Imperium mit 500 Supermärkten, 72.000 Arbeitsplätzen, acht Milliarden Dollar Börsenwert geschaffen, allein. Wobei er immer wieder „wir“ sagt, damit die Manager meint, die Mitarbeiter. Später, nach Stunden, kommen die Architekten, er schickt sie in einen anderen Raum. „Ein neues Projekt, noch geheim, ich kann nichts dazu sagen.“ Sie rollen die Pläne aus auf dem großen Esstisch, in einem Raum, der unbenutzt wirkt. Die Architekten sind wegen des Projekts nach dem Costanera Center hier. Er müsse jetzt aufhören. Kann aber nicht loslassen von den Details. Er kommt auf den Parkplatz, wirkt jung, frisch, wild, erklärt noch ein Detail. Geht rein, kommt wieder raus, fragt „Alles verstanden? In schlechten Zeiten investieren, gute Zeiten kommen dann immer.“ Verabschiedet sich wieder, geht, kommt zurück. „Lesen Sie den Satz nochmal vor.“ Beim nächsten Mal nennt er den Orden, den er in Argentinien bekommen hat, und die chilenische Ehrenstaatsbürgerschaft. Geht wieder rein, kommt nochmal und sagt: „Sie können Leidenschaft schreiben.“