Auf Wacht in Sasbach

Reportage
zuerst erschienen am 16. August 1996 in Die Zeit

SASBACH. - Angenommen, ein Dieb, auf der Flucht vor der Polizei, käme auf die Idee, sich auf ein bestimmtes, etwa hektargroßes Grundstück in der badischen Gemeinde Sasbach zu flüchten. Dann wäre er dort sicher, will der Volksmund wissen. Denn er befände sich dort, wo die Franzosen für ihren großen Marschall Turenne ein Denkmal errichteten, auf französischem Staatsgebiet.

Falsch! sagt Ewald Panther, Bürgermeister von Sasbach, einer 5300-Einwohner-Gemeinde in der Rheinebene. „Das Turenne-Denkmal und die Allee gehören zwar Frankreich, aber Frankreich hat keine Hoheitsrechte. Es gilt auf diesem Fleckchen das deutsche Recht.“ Die Grande Nation ist neben Familie Fischer im Grundbuch eingetragen und überweist in die Gemeindekasse jährlich 198 Mark Grundsteuer.

Wie lange noch? Zur Zeit, bestätigt Bürgermeister Panther, verhandle die Gemeinde mit dem sparsamen französischen Staat. Der will die knapp 500 Meter lange Allee loswerden. Die Gemeinde würde gerne übernehmen. „Wir reden mit dem französischen Generalkonsulat in Stuttgart wegen des Preises“, sagt Panther. Und wegen der zukünftigen Nutzung. Bei französischen Stellen äußert sich zur Zeit niemand zur Zukunft des Turenne-Denkmals. Bürgermeiser Panther sagt, er wolle ein deutsch-französisches Museum, ein Europa-Museum, aber keines, das einen französischen Feldherrn glorifiziere.

Was für ein Feldherr, sagen französische Geschichtsbücher, der größte (Napoleon vielleicht ausgenommen), den wir hatten, bis er hier von einer Kanonenkugel 1675 getötet wurde. Henri de la Tour d’Auvergne, Vicomte de Turenne, wurde 1611 geboren. Bereits mit 32 war er Marschall, er schlug die kaiserlichen Truppen innerhalb eines Jahres in Sinsheim, Entzheim und Türkheim. Er bedrängte sie wieder zwischen Sasbach und Obersasbach. Am 27. Juli 1675 ritt er dann auf die kleine Anhöhe, nur begleitet von General Saint Hilaire. Da flog die Kugel heran und ließ ihn vom Pferd plumpsen. Es war wohl ein Zufallstreffer, der General Hilaire den linken Arm abriß und Marschall Turenne in die Brust traf.

Turennes 20 000 Mann zogen sich vor Schreck über den Rhein zurück, in Paris forderten Herolde auf der Straße: „Ihr ehrbaren und frommen Leute, betet für die Seele des hohen, großherzigen und mächtigen Fürsten Henri de la Tour, des Feldmarschalls der königlichen Armee.“

Auf dem Hügel zwischen Sasbach und Obersasbach ließ Kardinal de Rohan, Bischof von Straßburg, dem hier Grund gehörte, 1760 einen dreiseitigen, 1,40 Meter hohen Gedenkstein mit der Inschrift „Hier ist Turennius vertötet worden“ und dazu zwei Pendants in Französisch und Latein errichten. Gleich daneben kam 1782 das große Denkmal hinzu. Mal zerstörte es ein Gewitter, meist aber die Deutschen.

In jedem Krieg gegen den Nachbarn wurde der Obelisk geschleift, nach jedem Krieg erneuert. Den Obelisken, der seit 1945 an Turenne erinnert, stellten französische Pioniere auf. General Charles de Gaulle kam persönlich, ihn zu inspizieren.

Monsieur Raffat, der vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hier als Denkmalwächter Dienst tat, wurde 1939 ausgewiesen und nach dem Krieg wieder der Mann Frankreichs in Sasbach. Den Veteranen der französischen Armee, die über all die Jahre das Denkmal hüteten, geschah nie etwas. Warum auch? Sie gehörten zum Dorf wie die Allee, die durch Tausch und Kauf 1828 französisches Gebiet wurde.

Französisch? Deutsch? René Chopin, der Algerien-Veteran, der jetzt seit 25 Jahren in dem kleinen, schmalen Häuschen in der Nähe des Denkmals lebt, zuckt nur die Schultern. Er wird inzwischen nicht mehr von der französischen Armee bezahlt, sondern vom Außenministerium und schaut wie eh und je nach dem Rechten. Um die blauweißroten Blumen in den Beeten am Denkmal kümmern sich Gärtnerlehrlinge aus der Berufsschule im nahen Achern. Die alten, riesigen Fichten hat der Gemeindearbeiter gefällt und durch Platanen ersetzt. Er werde wohl hierbleiben, wenn Frankreich Allee und Denkmal verkaufen und seinen Posten abschaffen sollte, sagt Chopin.

Immer am 2. November, dem Tag, an dem die Franzosen ihrer Toten gedenken, werden die französische und die deutsche Fahne am Mast neben dem Denkmal gehißt, französische Soldaten aus den nahen Garnisonen salutieren. Früher, erinnert sich Monsieur Chopin, habe es auch am 30. April, dem Tag der Fremdenlegionäre, die Zeremonie gegeben. Die vielen französischen Garnisonen der Gegend sollen nun aufgelöst werden. Aber nach Straßburg sind es nur etwa fünfzig Kilometer, man könne die Tradition also beibehalten, sagt Monsieur Chopin.

René Chopin würde in seinen kurzen Adidas-Sporthosen, seinem weißen Unterhemd und mit dem prallen Genießerbauch auf jeden Campingplatz in Südfrankreich passen. Er sagt, nach 25 Jahren fühle er sich als Sasbacher. Aber er spricht kaum Deutsch und steht so ganz in der Tradition der französischen Denkmalwächter. Einer seiner Vorgänger namens Meunier hat, so heißt es in der Orts-Chronik, von 1861 bis 1890 das Denkmal bewacht und in dieser Zeit nicht ein Wort deutsch gesprochen.

Erik Vollmer, Gemeinderat in Sasbach, wuchs ganz in der Nähe des Denkmals auf und kann sich erinnern: „Der Denkmalwärter war immer eine Respektsperson für uns Kinder.“ Und: „Die hohen Tannen der Allee warfen große Schatten, hier war es immer unheimlich dunkel.“

Monsieur Chopin erzählt, daß die Kinder sich früher nie getraut hätten, die Bälle, die über seinen Zaun geflogen waren, zu holen, inzwischen hätten sich die Nationen aber wohl einander genähert.

Er zeigt auf die faustgroße Kugel in der Vitrine in dem vierzehn Quadratmeter kleinen Zimmer, dem Turenne-Museum mit Karten, Büchern, Fahnen und Gästebüchern. Eine zweite Kugel sei in Paris im Militärmuseum, Turennes Leichnam ruht im Invalidendom. Eine zweite Kugel? Nun ja, es gebe das Gerücht, daß damals zwei Kugeln abgefeuert wurden, daß eine einen Nußbaum traf, ein schwerer Ast herunterfiel und Turenne tötete.

Welche Kugel auch immer, diese hier im Museum wurde Alexandre Dumas, als er das Turenne-Museum besuchte, vom damaligen Wächter zum Kauf angeboten. Dumas lehnte ab, weil er sich daran erinnerte, daß er in Paris im Militärmuseum bereits eine Turenne-Kugel gesehen hatte.