Fuck you, Ranke

Portrait
zuerst erschienen 2007 in Broschüre des Philip-Morris-Forschungspreises
Fassung des Autors (Überschrift)
Geschichtswissenschaften waren mal deutscher Exportschlager. Waren.

Vergangenheit ist fast überall auf der Welt annähernd 200 Jahre lang europäisch formatiert worden. Geschichtswissenschaft war ein europäischer Exportschlager. Vor allem der von Leopold von Ranke und seinen Schülern geprägte Historismus besaß weltweiten Einfluß. Der von dem offiziellen Historiographen des preußischen Staates entwickelte systematische, quellenkritische Ansatz, die Professionalisierung des Geschichtsstudiums, das Streben nach objektiver Geschichtsschreibung, die Abkehr vom philosophischen Geschichtsbild wirkte überall, machte ihn zum Begründer der modernen Geschichtswissenschaft. Nur ein Beispiel: Ein Ranke-Schüler war es, der vor 120 Jahren nach Japan geholt wurde, um die dortige Geschichtsschreibung zu modernisieren. Wo auch immer auf der Welt Geschichte geschrieben wurde, bezog man sich auf Rankes Methoden. Eine der Folgen: Weltgeschichte fing, vereinfacht ausgedrückt, eigentlich immer im alten Griechenland an, ging über Rom nach Europa, kam irgendwann nach Amerika und in die Kolonien, die dann endlich der Fortschritt, so die Idee, erreichte, der sich in den westlichen Ländern entwickelt hatte. Geschichtsschreibung, auch außerhalb Europas, war immer vom Eurozentrismus geprägt.

Die Zeiten haben sich geändert.

Wir kommen heute nicht darum herum, die Vergangenheit anders zu betrachten, damit wir uns im Hier und Jetzt, im Zeitalter der Globalisierung, besser zurechtfinden. Unser Handeln und Denken muss sich den Gegebenheiten anpassen, um Zukunft zu bewältigen. Oder, mit den Worten des Historikers Sebastian Conrad formuliert: Die gängigen Modernisierungskonzepte sind unterkomplex und ermöglichen keine Orientierung in einer global verflochtenen Welt. Klingt ganz logisch, drängt sich geradezu auf als Weg in die Zukunft der Geschichtswissenschaft. Ist aber neu und vor allem in Deutschland auch noch stark umstritten. Conrads Arbeit, für die er nun mit dem Forschungspreis der Philip-Morris-Stiftung ausgezeichnet wird, hat Widerspruch hervorgerufen. Was wohl an der Geschichte der Geschichtswissenschaft liegt. Die Deutschen müssen sich, weil die Welt eine andere wird und schon ist, umgewöhnen. „Geschichte kann man nicht mehr in den Grenzen analysieren, die der Reisepass vorgibt“, so Conrad. Und während die Historiker kaum über den Tellerrand schauen, vermeiden die Sozialwissenschaften den Blick zurück. Im Westen, besonders in Deutschland kranke der Globalisierungsdiskurs daran, dass er präsentistisch ist, kaum zurückblickt. „Aber ohne Kenntnis der historischen Strukturen, die heute noch fortwirken, können wir im 21. Jahrhundert die Welt nicht mehr verstehen.“

Sebastian Conrad, Jahrgang 1966, sieht jünger aus, als er ist, wirkt auch jünger, schnell, frisch, wach. Aber nie unruhig: er weiß, was er sagen will, formuliert jedoch immer neu, wiederholt sich nicht, ruft keine Floskeln ab, reagiert genauestens auf Fragen und die Nuancen. In seinem Büro am Historischen Institut der Freien Universität Berlin sitzt er an seinem, als wäre es ein Klischee, mit Büchern überfülltem Schreibtisch und erzählt von einer Promotion, die er betreut. Er verbreitet dabei kontrollierte Begeisterung. Jeder Satz ist ein gutes Zitat, er kann formulieren und für Laien so reduzieren, dass sie zwar gefordert werden, Komplexes aber plötzlich verstehen. Und neugierig werden. Es geht um die Vielfalt der Welt, um die bisher hegemoniale Deutung der Geschichte der modernen Welt, darum, dass es üblich war zu denken, europäische Entwicklung sei lange abgekoppelt vom Rest der Welt verlaufen und hätte diese dann beglückt. Conrad sagt: „Es ist eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts, die Rolle nicht-westlicher Akteure und Perspektiven ernst zu nehmen und einzubeziehen.“ Das bedeutet unter anderem auch: andere Sprachen lernen, andere Länder besser kennen. Und zu erkennen, dass Globalisierung nicht Gleichmacherei bedeutet. Viele Konzerne wissen bereits, wie wichtig Wissen über kulturelle Unterschiede beim Entwickeln von Konsumgütern oder bei der Rekrutierung von Personal ist.

Dass sich was tut in der Geschichtwissenschaft, sich etwas ändert, ist leicht zu erkennen. Unser heutiges Lebens mit seiner weltweiten Vernetzung können wir nicht mehr erklären, wenn wir uns auf die alte Methodik allein verlassen. Die Veränderungen lassen sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Viele heutige Bedingungen lassen sich nur aus der Geschichte der Globalisierung heraus erklären. Die interessanten neuen Ansätze, das andere Herangehen, diese in Zeiten des Umbruchs wichtigen neuen Blicke kommen zur Zeit häufig von Historikern mit einem Hintergrund in Ländern Asiens, die an westlichen Universitäten forschen und lehren. Die Protagonisten der neuen Schule lehren im angelsächsischen Raum, sind meist Leute mit Migrationshintergrund, Wurzeln in Indien, China, anderen Ländern. Conrad schaut kurz auf eine Themenliste eines Kongresses, den er gerade plant: ein armenischer Name, ein türkischer, mehrere indische und chinesische. Sie stellen, wie Sebastian Conrad auch, andere Fragen, haben einen anderen Blick auf die Globalisierung. Er hat diese neue Perspektive verbreitet. Es geht ihm darum, „den Tunnelblick auf das Abendland“ zu ändern. Alles sieht anders aus, wenn man von vornherein Geschichte als etwas Verflochtenes ansieht, nicht auf den Standard „The Rise of the West“ zurückgreift.

Sein eigener Blick aus einem anderen Winkel, wie kam er zustande? Conrads Vater war Jurist an der Uni Heidelberg, Völkerrechtler, Verfassungsrechtler am Südasien-Institut. Conrad ging in Neu Delhi zur Schule, später ein Jahr in den USA, bemerkte sein „Interesse für andere Kontexte“, nahm die als Denkanstöße. Später studierte er in Japan, beschäftigte sich mit japanischer Geschichtsschreibung, lernte dort die Sprache, stürzte sich auf die Originalquellen. „Das, was ich mache, kann man sonst nicht richtig und seriös machen“, sagt er. „Ich habe jahrelang diese Texte gelesen, mache es noch immer.“ Was heute noch, die japanische Schrift ist komplex, regelmäßig Vokabel- oder besser Schriftzeichentraining bedeutet. Seine Besonderheit war: Er hat gelernt, mit der japanischen Brille auf die Geschichte zu schauen. Und aus der japanischen ist mit der Zeit eine ethnografische Brille geworden. Der andere Blickwinkel ist sein „Modus geblieben“. So kam er gerade recht in eine Zeit, in der sich die Geschichtswissenschaft auch hierzulande änderte.

Eine Welle hat ihn getragen. „Als ich hier anfing, war die Nachfrage sehr groß nach postcolonial studies oder globalgeschichtlichen Perspektiven“. Zufall? „Es liegt nicht nur an mir, hat mit der Zeit zu tun, der Nachfrage aus der Gesellschaft.“ Er sagt das mit Bescheidenheit, gibt aber zu, dass man „diese Nachfrage auch schaffen muss“. Als Lehrender merkt er, dass da etwas wächst. „Es kommen Leute von überall her, um ihre Projekte mit mir zu besprechen“, ein deutliches Zeichen. Er sieht auch in seinen Vorlesungen: da kommen Studenten, die in der Schule Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, vielleicht noch Wirtschaftswunder gelernt haben mit einem neuen großen Hunger auf Wissen über die sich ändernde Welt, wollen anders an die Fragen herangehen. Auch in den USA ist eine ähnliche Entwicklung im Gange, da geht die Wissenschaft jetzt weg vom: in Griechenland fing es an. „Global History“, Conrads Arbeitsgebiet, „ist ein Phänomen der letzten fünf Jahre“.

Im Fach gab es Widerstand, die Sicht, so Conrad: „Der macht es anders.“ In Deutschland wird „Allgemeine Geschichte“ eben immer noch weitgehend mit deutscher Geschichte gleichgesetzt – und wer nicht ausschließlich damit beschäftigt ist, den eigenen deutschen Vorgarten zu bewässern, wird bisweilen mit Argwohn beobachtet. Bei einigen, „es gibt Leute, die es nicht schätzen“, ein Beharren auf „dem eurozentristischen Standardnarrativ“. Renommierte Historiker vertreten noch immer die These, dass der Kolonialismus eine Notwendigkeit war, um den anderen auf die Sprünge zu helfen. Conrad sieht das als „Generationsphänomen“. Unter den Studierenden „glaubt das heute kaum mehr jemand“. Inzwischen sei ja allen klar, „wir müssen umdenken, sonst können wir im 21. Jahrhundert die Welt nicht mehr verstehen. Die Globalisierung ist unbestritten. Jeder sieht, dass die Welt sich radikal verändert. Also wäre es nun die zentrale Aufgabe des Faches, in dieser Situation Wissen zur Verfügung zu stellen, das hilft, diese Veränderungen zu verstehen.“

Es geht ihm nicht um einen radikalen Paradigmenwechsel, „sondern um eine Co-Präsenz, sich ergänzende Präsenz von Ansätzen und Paradigmen“. Es gehe nicht darum, alles vom Tisch zu fegen, nur darum, anders einzuordnen. Geschichtsschreibung nationaler Prägung wird es weiter geben, Globalisierung, das ist ihm wichtig, bedeutet nicht Gleichmacherei. Im Gegenteil, Globalisierung produziert Differenz – und sorgt zugleich für das Wahrnehmen von Unterschieden, für das Ausprägen von Eigenheiten. Die sollten aber nicht mehr, wie früher üblich, als Exotik, gar als Defekt à la „Die sind halt noch nicht so weit“ wahrgenommen werden. „Die nationale Perspektive ist nicht überflüssig. Im Gegenteil. Aber es geht um ein anderes Verstehen, nicht zuletzt darum, die nationalen Unterschiede selbst als Produkt einer Verflechtungsgeschichte zu begreifen.“

Leopold von Rankes Geschichtsschreibung war politische Staatengeschichte, passend für das Zeitalter der Nationalstaaten. Sie half, sich in der damaligen Welt zurecht zu finden. Die Zeiten haben sich geändert, die Globalisierung sorgt für neue, dichteste wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen. Sebastian Conrad sagt: Unser Handeln und Denken muss sich den Gegebenheiten anpassen, um Zukunft zu bewältigen. Die Welt hat sich schon verändert – aber unser Wissen von ihr ist noch von Paradigmen strukturiert, die aus dem 19. Jahrhundert stammen.