Taxifahrers Traum

Reportage
zuerst erschienen im Februar 2002 in brand eins
Grüne Welle, Tempo 70 in der City, Fahrgäste ohne Ende – zwei Berliner Chauffeure plaudern über gute alte Zeiten und ihren heutigen Überlebenskampf im Großstadt-Dschungel

Zwei Berliner Taxifahrer, Experten für Mobilität im Urbanen, weil schon länger als 20 Jahre am Steuer. Beide mit lokaler Schnauze ausgestattet. Beide sind ihr eigener Herr, nicht Lohnfahrer. Alleinfahrer auch, das heißt, niemand anders fährt ihren Wagen. Aber ein Unterschied: Frank Drescher, 43, fing in der ehemaligen DDR an, Olaf Gollnow, 46, in Westberlin. Die beiden nehmen die Lage völlig unterschiedlich wahr. Stark verkürzt sagt der Westberliner Olaf Gollnow: „Na ja, halb so wild, geht schon irgendwie.“ Und Frank Drescher: “ Früher war es viel besser.“ Drescher hat Recht: In der Millionenstadt Ostberlin gab es 600 Taxis, im kleineren West-Teil 5000. Im Osten waren Taxis Mangelware, die Fahrer hatten einen Traumjob. „Ich habe früher viel mehr verdient“, sagt der Mann am Steuer nostalgisch, schaut großäugig in den Rückspiegel und wartet auf den erstaunt fragenden Blick. „950 bis 1000 Mark und noch mal so viel Trinkgeld.“ In der DDR seien die Leute, was Trinkgeld angeht, viel großzügiger gewesen. Dazu kommt: „Trinkgeld wurde nicht versteuert.“ Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Drescher wünscht sich die alten Zeiten nicht zurück. Aber - der Osten war ein Taxifahrerparadies. Ein paar markante Belege: Dort gab es viel weniger Autos als jenseits der Mauer und deshalb kaum Staus. „Kaum? Keine“, sagt er und gibt Gas, erfreut, dass das gerade mal möglich ist in Berlin-Mitte. Auf den Ausfallstraßen durfte man 70 fahren. Er zählt sie freudig auf: Landsberger Allee, Karl-Marx-Allee und die Fortsetzung Frankfurter Allee, Prenzlauer Allee, Schönhauser Allee, breit, leer, gut. An Ampeln wurde nicht geblitzt. „Und ich konnte mir die Fahrgäste aussuchen. Wenn einer nicht ordentlich gegrüßt hat, habe ich ihn stehen lassen.“ Gebe es heute kaum noch, dass jemand am Straßenrand winke, heute müsse man sich erst mal in die Schlange stellen und lange warten. Auf den Fahrgast. Das, was Taxifahrer lieben - irgendwohin fahren, den Fahrgast absetzen und gleich einen neuen bekommen -, das werde seltener in Berlin. „Es ist das Lukrativste, wenn einer winkt. Und das ist rückläufig.“ Nach der Wende, auf dem Ku’damm, wurde gewunken, heute nicht mehr.

Heute fährt Frank Drescher einen Mercedes E 250, Diesel, damals einen Wolga. „Der war gar nicht mal so schlecht, der Fahrgast hatte viel Platz“. Außerdem kamen Taxifahrer leicht an Westgeld, sie stellten sich an den Bahnhof Friedrichstraße, dort kamen die Westler an. Oder vor die Devisen-Hotels, das Metropol, das Palast. Viele Westler zahlten eins zu eins mit Westmark. Andere tauschten im Taxi, gaben 100 D-Mark für 200 Ostmark. „Die habe ich dann für 800 Ostmark verkauft. Wenn es schlecht ging.“ Ein nicht ganz ungefährliches Zusatzgeschäft. Man musste immer aufpassen, wer tauschen wollte. „Ich habe auf die Schuhe geschaut.“ Westler hat er immer an den guten Schuhen erkannt. Wer mit schlechten Schuhen tauschen wollte, gehörte garantiert zur Stasi.

Taxis waren Mangelware, also lukrativ für die Fahrer. Heute ist das anders: Es gibt zu viele, was auch daran liegt, dass Berlin die einzige Großstadt in der Bundesrepublik ist, in der es keine Obergrenze für Taxis gibt. Und dann eben die Staus. Unangenehm. Es gibt noch drei Routen raus aus Mitte, neben der Leipziger die Invalidenstraße und natürlich durch das Brandenburger Tor. „Der Rest ist zugestaut.“ Der Ostberliner Chauffeur schwärmt von der guten alten Zeit: freie Fahrt für unfreie Bürger Die Ampel ist rot, es ist bei dieser Fahrt nicht die erste, aber besonders häufig standen wir noch nicht. Doch Frank Drescher wird jetzt das los, was ihn am meisten drängt, mehr als das mit dem Geld. Er ist ein Profi, die freie Fahrt scheint zu seinem Ehrenkodex zu gehören. „In Ostberlin gab es auf den großen Hauptstraßen immer eine grüne Welle, immer. Nicht so wie jetzt.“ Seine Theorie, das wiederholt nachher auch sein Westkollege, ist: „Absicht. Verkehrsberuhigung. Politik.“ Er erinnert sich an die Maueröffnung, als Verkehrschaos war und die Verwandtschaft aus dem Westen ihm großkotzig erzählte: Pass mal auf, wie der Verkehr bald flutscht, die Leute von Siemens machen das, Verkehrsleitsystem. „Wenn ich heute Siemens-Leute im Auto habe und frage, sagen die nur: An uns liegt es nicht. Das ist gewollt.“ Wieder eine rote Ampel. Er dreht sich um, „und gleich wieder“, ganz sarkastisch, „das ist eine tolle Ampelanlage, Klosterstraße, Stralauer Straße, da haben Sie immer Rot“. Wir fahren fünfmal dort vorbei. Der Mann hat Recht.

Und noch ein Problem, die Wirtschaftslage. „Das Saufen ist zurückgegangen. Bier ist teurer geworden, die Leute haben nicht mehr so viel, sie steigen danach nicht mehr ins Taxi. Heute geht man in seinem Kiez saufen.“ Und, zum gleichen Thema, auch wenn der Vergleich wegen des Währungsgefälles zwischen der einstigen Ost- und Westmark eigentlich absurd ist: „Früher ist man für 30 Mark durch die ganze Stadt gefahren, heute kann sich das niemand mehr leisten.“ Als Teil des öffentlichen Personennahverkehrs sind die Taxis an Tarife gebunden. Es wird über Mittagstarife nachgedacht. „Zwischen 12 und 14 Uhr zum halben Preis, da wird es sich zeigen, ob es nur an den Preisen liegt“. Lieber wäre ihm eine permanente grüne Welle, ein Schweben durch die Stadt. Ist das nicht unlogisch, Herr Drescher? Ist es nicht klasse, wenn der Autoverkehr schikaniert wird? Steigen dann nicht mehr Leute in Taxis? Seine Antworten sind seltsam, sie zeigen: Der Taxifahrer ist eigentlich ein Autofahrer. Er poliert gern seine Karre, und er fährt gern. Es geht ihm nicht nur ums Geld, ihm macht das Fahren einfach Spaß, „obwohl das in letzter Zeit erheblich abgenommen hat. Man hat jetzt endlos viel Zeit. Das Rumsitzen nervt.“ Von dem Geld, das er einfährt, gehen rund 60 Prozent Kosten ab. Er wolle nicht klagen, es gehe ihm nicht schlecht, aber: Um die nötigen 150 Euro am Tag umzusetzen, brauche er heute zwölf Stunden. Vor sechs, sieben Jahren waren es noch neun. Früher reichte manchmal ein halber Arbeitstag. Früher war besser. „Ich würde keinem empfehlen, Taxifahrer zu werden. Das bringt nichts mehr.“ Der Westberliner philosophiert beim Fahren und findet Staus nach eigenem Bekunden okay Jetzt Olaf Gollnow, die West-Seite. Drescher, Ost, war Automechaniker und Lieferwagenfahrer, bevor er ms Taxi stieg. Gollnow war Germanistikstudent. „In der Taxi-Branche sind viele gescheiterte Existenzen“, sagt er. „Anfang der Siebziger hat man sich an der Uni akkreditiert und gleichzeitig den Anmeldeschein für die Taxiprüfung bekommen.“ Damals war Taxifahren richtig lukrativ. „Man übt diesen Beruf mit einer Art Hassliebe aus.“ Gollnow wirkt wie ein Intellektueller, philosophiert beim Fahren. In der Kantstraße, „wo die Polizei darauf achtet, dass niemand parkt“, sagt er genüsslich: „Das tangiert mich nur periphär.“ Das ist so etwas wie sein Motto. „Es wird einiges getan, um die Situation zu entflechten und dem Autofahrer zu ermöglichen, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.“ Und meint das als Witz.

Gollnow spielt Querflöte und liest gern, im Taxi nur Krimis. Zwischen Fahrer- und Beifahrersitz des VW Sharan klemmt James Pattersons „Wer sich umdreht oder lacht“. Und er hört viel Musik beim Warten, Klassik und Rock. „Musik ist ausgesprochen wichtig für meine Arbeit.“ Er wirkt entspannt. Anfangs fuhr er gem Taxi, erst für den Bruder, dann mit dem eigenen Wagen. „Seit 15 Jahren selbstständig.“ Er, grauer Bart, graue lange Haare zum Zopf gebunden, schwarze Jeans, schwarze Schuhe, schwarzes Sweatshirt, schwarze Windjacke, schnodderschnauzt auch, wirkt aber kein bisschen wütend, eher resigniert. Es ist für ihn eine Art Angebot zur Unterhaltung, wenn er sagt: “ Ich bin verkehrspolitisch absoluter Befürworter der Parkraumbewirtschaftung. Da bin ich egoistisch, absolut Geschäftsmann, man sollte nicht kostenfrei parken dürfen. Wenn es Möglichkeiten gibt, die Innenstadt für den Individualverkehr zu sperren, bin ich dafür.“ Staus seien okay. „Zeit spielt für mich keine Rolle. Ich bin kein Typ, der sich leicht aufregt“, behauptet er. Gibt aber zu, dass er elektrische Fensterheber nicht gern hat. „Das dauert zu lange, bis die unten sind, ich muss deshalb die Tür aufreißen, wenn ich schreie.“ Er habe sich ein dickes Fell zugelegt, „in den ersten Wochen bin ich gefahren wie privat, jugendlich, draufgängerisch, nach acht, zehn Stunden ist man fertig, nicht mehr fähig zum normalen Gespräch, aggressiv. Also habe ich umgeschaltet.“ Dann ist er wieder zynisch: „Ja, die Wende. Das Jahr des Mauerfalls war umsatzmäßig nicht schlecht.“ Allerdings sei die Taxizahl wegen des Booms schnell gestiegen, „von 5000 auf 8000, zum Glück hat sich das wieder zurückentwickelt“. Allerdings nicht weit genug. Er erzählt eine Story, die viele Berliner Taxifahrer gem erzählen; Eine Zeit lang gab es zwei Verwaltungen in Berlin. Die im Osten ließ an einem Tag 1000 neue Taxen zu, alles Wagen, die sonst auf den Stasi-Parkplätzen gestanden hätten. „Raten Sie mal, wer die fuhr? Na, Stasi-Mitarbeiter. Quereinsteiger.“ Ja, die Wende. „Bis dahin hatte Westberlin ein gutes Verkehrskonzept. Alles war darauf angelegt, den Autofahrern Probleme zu bereiten, damit sie so wenig wie möglich Auto fahren.“ Gut für das Taxigewerbe. Dann der Mauerfall. „Die Ostberliner haben wegen der langen Zeit der Entbehrung ein anderes Verhältnis zum Auto.“ Und: „Das Einzige, womit ich zu kämpfen hatte in der Nachwendezeit war das Verkehrsverhalten, der normale DDR-Bürger war ein asoziales Wesen, völlig egozentrisches Verkehrsverhalten.“ Er meint auch, dass Staus die nicht schrecken. Was ihn genauso wie den Ostkollegen stört, sind die Taxenmassen. „Es gibt keine zweite Stadt in Deutschland, in der die Konzessionsvergabe so frei ist.“ In anderen Städten können Taxifahrer ihre Konzession für bis zu 20 000 Euro verkaufen. In Berlin gibt es diesen Markt nicht, weil jeder, der fahren will, auch darf.

In einem Punkt sind sich die beiden einig: Ihr Job ist nicht toll, aber sie mögen ihn trotzdem Gollnow erzählt sorgenvoll von fremdenfeindlichen Tendenzen deutscher Taxifahrer in den Sechzigein, bevor sich die Studenten hinters Lenkrad klemmten. Heute fahren alle Nationen: Afghanen, Türken, Iraner, Portugiesen, Bosnier, Vietnamesen, Russen. Er arbeitet sieben Tage die Woche, jeden Tag zehn bis 14 Stunden. Mehr als zehn Fahrten täglich gibt es selten. Sonntags beschränkt er sich auf vier, fünf Stunden, nachts fährt er nicht mehr.

Die Finanzen: Keine Bank gibt Kredite für Taxiunternehmen in Berlin, er hat seinen Sharan also geleast, etwa 600 Euro im Monat plus 250 Euro Versicherung. „Taxen zu versichern ist ein großes Problem, früher gab es 20 Versicherungen, jetzt nur noch neun.“ Die Krankenversicherung kostet ihn 433 Euro, für die Krankentagegeldversicherung zahlt er 75. „Und Benzin ist teuer geworden.“ Aber: „Selbst wenn ich zwei Stunden am Halteplatz stehe, mich langsam vorgekämpft habe, und dann steigt jemand ein und will für vier Euro um die Ecke fahren, fahre ich den. Er hat ein Recht darauf.“ Die Berliner Taxifahrer, berichtet er, hätten mal die Kampagne gehabt: Nehmen Sie für kürzere Wege die hinterste Taxe in der Schlange. Vergeblich.

Noch mal zur Wende, was hat sich seitdem geändert? „Manche Strecken dauern jetzt länger, vom Alexanderplatz zum Bahnhof Lichtenberg, früher ging das im Berufsverkehr in zehn Minuten, heute braucht man 25.“ Von der Idee, die Taxipreise zu senken, um mehr Leute zu locken, hält er nichts: „Taxifahren ist Luxus.“ Die Preise seien okay, es gebe nur ein paar Taxis zu viel. Er lobt noch die Stadtautobahn und auch insgesamt, wie Drescher, die Großzügigkeit der Stadt. Am Schluss sagt er: „Ich liebe diese Stadt, ich bin Lokalpatriot.“ Dreschers Fazit war, bei allem Gemeckere: „Den Beruf mag ich, ich quatsche gem. Aber Millionär wirst du auf ‚ner Taxe nicht.“