Die nächste Stufe der Evolution

Reportage
zuerst erschienen im Oktober 2001 im jetzt-Magazin
Ihre Eltern wollten eine bessere Welt schaffen und gründeten in Indien ein Aussteiger-Dorf. Nun werden die Kinder von Auroville langsam erwachsen. Und fragen sich, ob sie wirklich die neuen Menschen sind, die sie werden sollten

Auf der Schiefertafel stand mit Kreide geschrieben „Techno-Party“, aber es läuft stundenlang Reggae. Am ganz frühen Morgen, die Sonne geht auf über dem Golf von Bengalen, noch Pearl Jam und Soundgarden. Techno ist hier nicht wirklich angekommen. House kennt keiner. Sehr schräg: Eine Discokugel aus den Siebzigern, einige ihrer kleinen quadratischen Reflektoren sind rausgebrochen, hängt an einer Schnur an einem großen Banyan Tree und kann im Dschungel nicht glitzern wie in Saturday Night Fever. Zu wenig Strahler leuchten sie an, weil Strom hier wertvoll ist, das Licht der kleinen Kerzen am Boden erreicht sie nicht, also hat die Glitzerkugel kaum was zu verteilen. Sie wird auch nicht, wie das üblich wäre, elektrisch angetrieben, um das Licht der Strahler mit möglichst viel Glamour zu reflektieren. Die Tänzer unter dem Baum müssen sie ständig anschubsen.

Gekommen sind viele: die Solar Kitchen Gang, die New Creation Corner Gang, die Hibiscus Tree Gang. Und gerade eben kamen sogar Leute von der Music Gang. Mit denen hätte ich wirklich nicht gerechnet, hatte sie als die hiesigen Rebellen, die nicht überall dabei sein wollen, eingestuft. Die Music Gang, nur Jungs, hat ihren Treffpunkt in Kalabhumi. Dort gibt es einen Übungskeller. Zweimal war ich drin, jedesmal waren Leute für mindestens drei oder vier Bands da, probten. Ihre Musik klang alt, à la Rolling Stones oder Who. Schlagzeug, Bass, Gitarren, rauh und antik. Jetzt, unter dem Banyan Tree, drängen sich an der Anlage viele Jungs, debattieren über die Musik, die laufen müsse, um die Nacht zu retten, was jetzt bitter nötig sei, was alles ändern, es rausreißen würde. Das ist nur Mache, sie sind schüchtern, haben nicht den Mumm, mit den Mädchen zu tanzen, obwohl die offensichtlich darauf warten. Die Jungs jedoch machen sich an der Anlage wichtig.

Die Mädchen lachen nur, wenn ich sie, was ja nahe liegt, nach dem Neuen-Menschen-Zeug frage. Sagen: Vergiss den Quatsch, wir sind ganz normal. Sie wollen sein wie 15-Jährige in New York oder Berlin oder London, haben Angst, für provinziell gehalten zu werden. Nur: Auroville liegt nördlich von Pondicherry, südlich von Madras, am Golf von Bengalen, in der indischen Provinz Tamil Nadu. Es leben inzwischen 1500 Menschen aus 50 verschiedenen Nationen in Auroville, die Geburtenrate ist hoch, drei, vier Kinder pro Patchwork-Familie sind normal. Die Alten kamen, weil sie ein Paradies schaffen wollten, an sich arbeiten, Spirit erschaffen, sich nach Nirwana meditieren. Sri Aurobindo, so was wie der Guru hier, obwohl er sich gegen das Wort wehrte, hat - stark verkürzt - geschrieben: Der Mensch ist nicht das Endprodukt der Evolution, die Menschheit ist nicht gerade toll, ihr Zustand nur ein Zwischenstand auf der Evolutionsskala. Aber die Menschen können besser werden: Keine Nationen, keine Geldgier, kein Krieg, viel Yoga und Meditation, Musik, Friede, Harmonie, Spirit! Auroville sollte die Entwicklung der Menschheit beschleunigen. Aurobindo starb in den Fünfzigern, seine Helferin, von allen Mother genannt, ließ Auroville gründen und leitete es bis zu ihrem Tod in den frühen Siebzigern.

Sie kamen von überall, in den letzten Jahren vor allem aus Korea und Russland. Immer war klar: Die nächste Generation, die, die in Auroville geboren wird, ist die nächsthöhere Stufe, weiter voran in Sachen Evolution. Neue Menschen eben. Alle sind Freiwillige und sollen - oder, na ja, wollen - beim Bau des Matrimandir helfen, des großen Meditationsgebäudes, einer 22 Meter hohen Kugel, an der seit mehr als 30 Jahren gebaut wird. Anfangs von den Aurovillianern, als organisiertes Gemeinschaftserlebnis, inzwischen von bezahlten Indern. Matrimandir sieht aus wie ein riesiger Golfball, soll aber ein aufgehendes Samenkorn symbolisieren. Das einzige Licht im Marmor-Meditationsraum ist Sonnenlicht, reingeleitet über einen computergesteuerten Spiegel. Der Computer ist solarbetrieben. Zurzeit arbeitet eine Firma am Vergolden der großen Kugel. Ein Inder hat Goldstaub gespendet, der wird auf große Schilder geklebt, die an die Kugel montiert. Das wird garantiert ganz protzig aussehen, viele, vor allem Junge, mögen das Ding nicht. Aber es ist heilig, also sagen sie nur heimlich, dass die Alten da wohl einen Sparren abhaben.

Man muss nicht wirklich arbeiten in Auroville. Jeder bekommt, wenn er wenigstens ein bisschen für die Gemeinschaft aktiv ist und vier, fünf Stunden irgendwas macht - dazu gehört auch Meditieren oder Kurse in der Schule geben -, eine Grundsumme, von der man gerade so leben kann. Schule? Doch. Obwohl die ursprüngliche Idee war: keine Schule, das Leben selbst ist die Schule, wir brauchen also keine. Nur: Nach ein paar Jahren war klar, die Jungs und Mädchen wollen eine, sie wollen mit 15 oder 16 weg, auf Highschools in die USA oder nach Europa, sie wollen vorbereitet werden, wollen klassische Bildung. Also haben sie die Eltern genervt. Swathiá, heute 26, war dabei: „Ich habe daheim rumgenölt, da war ich neun oder zehn. Alle Kinder haben das gemacht, also wurde eine Schule eingerichtet.“ Kurz vor ihrem elften Geburtstag kam sie rein, war eifrig und erfolgreich. In Paris hat sie Betriebswirtschaft studiert, einen guten Abschluss gemacht, dann ist sie zurückgekommen. Die Jugendlichen wollen mehr können als Hirse ernten, Brunnen bohren, Sonnenkollektoren basteln. Deshalb gibt es zwar noch immer keine Schulpflicht, aber schon sechs Schulen in Auroville. Man kann einen indischen Abschluss machen, ein französisches Baccalaureat, einen amerikanischen Highschool-Abschluss. Allerdings hat sich gezeigt, dass die meisten die Auroville-Schulen nur als Vorbereitung für weiterführende Schulen nutzen, als Startrampe sozusagen. Sie gehen mit 15 oder 16 weg, kommen nach der Highschool, meistens aber nach der Uni, zurück.

Jung sein in Auroville dürfte leichter sein als in Europa. Hier ist Freiheit, kaum Druck, Schule nur, wenn du willst. Aber vielleicht wird so auch alles schwerer. Eigentlich ist Auroville ein Dorf, ohne Ausweichmöglichkeiten, mit extremer Sozialkontrolle und mit Eltern, die es gut meinen, die wenig Widerstände setzen, die gerne diskutieren, die in ihren wilden Zeiten wahrscheinlich mehr Dope genommen haben, als du es je tun wirst, Eltern mit zu viel Verständnis, die wohl für eine kompliziertere Pubertät sorgen als anderswo, wo die Rollen exakt verteilt sind. In Auroville bei den neuen Menschen nicht. Auf dem einzigen Verkehrsschild steht: „Drive friendly“. Es herrscht Spirit - das ist das meistbenutzte Wort am Ort -, und der indische Staat hat Auroville zugestanden, dass keine Polizei da ist, sie sollen alles selber regeln können.

Die Mädchen unter dem Banyan-Tree sind barfuß auf dem Sand der Tanzfläche, die schubsen immer wieder die Kugel an. Der New Creation Corner Gang geht es, dem Gekreische nach zu schließen, am besten: Jitta, 17, Marianne, 21, Ladina, 16, Ofa, 16 und Ira, 18, die beiden sind Schwestern. Hinter ihre Namen könnte man jetzt so Sachen schreiben wie französisch-spanisch oder holländisch-italienisch oder englisch-deutsch oder sowas. In Auroville hat jeder der neuen Generation Eltern aus zwei verschiedenen Ländern, die alten Nationen sollen hier keine Rolle spielen, alle reden englisch, manchmal französisch. Es gibt keine Nachnamen, viele sind irgendwie verwandt. Es ist so: Es gibt anscheinend nur eine einzige Beziehung hier im Ort, die gehalten hat. Vier Tage lang habe ich die gesucht, ich habe nur ein älteres Paar gefunden, das fünf Jahre getrennt, mit anderen Partnern lebte, jetzt aber ab und zu wieder gemeinsam zum Essen kommt in die große Gemeinschaftskantine und sich an den Händen hält. Sonst nur Patchwork-Familien. Wenn eine Frau und ein Mann gemeinsam ankommen, erreichen sie bald den Punkt, an dem sie auseinander ziehen, weil sie sich hier, in der neuen Umgebung, verschieden entwickeln. Es gebe keinen wirtschaftlichen Druck zusammenzubleiben, die Gemeinschaft sorge für jeden. Sagt ein älterer Mann, dessen Frau vor Jahren ausgezogen ist.

Die Eltern der Mädchen aus der New Creation Corner Gang meinen es noch ernst, Luxus ist böse für sie. Für die Mädchen nicht. Die stehen auf Konsum, fahren Mofa. Zwei Mädchen der Gang haben Discmen, das sind die ultimativen Dinger hier. Sie hören alles, was nicht indisch ist. Manchmal sind sie gar in der Disco nahe der Universität, trotz der umgerechnet acht Mark Eintritt. Tanzen sich alles aus dem Leib. Sagen: „Los, jetzt erzähl, was ist Techno? Beschreib es.“ Oder: „House? Wie hört sich das an, ist das wirklich was Neues?“ Ladina will von mir wissen, ob Jungs in Deutschland die Hemden in der Hose stecken haben oder sie raushängen lassen. Sie fragt, ob ich mal ein Video von Britney Spears gesehen hätte. Habe die ein Piercing am Bauchnabel? Hier sei ja kein Fernsehen. Als ich sage, dass ich zu Hause 36 Fernsehprogramme habe, denkt sie, ich verkohle sie und fragt dreimal nach.

Die Party unter dem Banyan-Tree ist eine BYOB-Party, das steht für „Bring your own beer“. Auroville ist eigentlich Trockenzone, kein Alkohol, aber wenn die Jungs und Mädchen was mitbringen, okay, da meckert keiner. Es ist ja auch schwer mit den Regeln in Auroville. Es gibt so viele, nur wenige in schriftlicher Form, man kann über jede diskutieren, sie widersprechen sich, und die eine Regel, die am wenigsten in Frage gestellt wird, ist die garantierte Individualität der Aurovillianer. Also, wenn sie trinken wollen, dürfen sie das zwar nicht, aber sie dürfen es doch. Kompliziert? So ist es nun mal hier. All life is yoga, das bekannteste Zitat von Sri Aurobindo, kann man schon mit „alles geht“ übersetzen. Noch ein paar Zitate von Mother, um die Grundideen zu beschreiben: „Auroville gehört niemandem. Auroville gehört der Menschheit als Ganzes. Aber wer in Auroville lebt, muss willens sein, dem göttlichen Bewusstsein zu dienen.“ Aurobindo wollte eine „göttliche Anarchie“ für die Menschen, keine Regierung, keine Herrschaft, friedliches Miteinander. Mother sagte: „Auroville wird der Ort unendlicher Weiterbildung sein, ein Ort ständigen Fortschritts und einer Jugend, die niemals älter wird.“

Na ja, vielleicht lag sie falsch. Sie hatte auch gesagt: In Auroville solle es kein Geld geben. Gibt es natürlich, obwohl einige Leute nur mit Tauschen zurechtkommen, andere Geld nur so selten wie möglich anfassen, wenn sie beispielsweise nach Europa in Urlaub fliegen. Wieder andere essen nur, was sie ernten, tragen nur, was in Auroville hergestellt wurde und so weiter. Aber der Pragmatismus hat sich durchgesetzt gegen einige große, wohl unrealistische Ideen. Die Aurovillianer fassen das so zusammen: „Mother hat Sachen vorgegeben, die sie heute vielleicht nicht mehr so sagen würde.“ Inzwischen gibt es, obwohl so nahe am Äquator Wasser eigentlich knapp ist in einigen Monaten des Jahres, kleine Swimming Pools. Aber jeder sagt dazu entschuldigend und mit eindeutig schlechtem Gewissen: „Das ist nur eine Art Wassertank für die Hitzeperiode.“ Es gebe, erzählt Dakshina, viel „hidden social life“, also Alkohol im Verborgenen, Partys ohne Ankündigungen, Trips nach Pondi, Fahrten in die Disco, von denen kein Erwachsener weiß. Oder eben da hinten Schnaps, „frag den Jungen mit dem weißen T-Shirt. Sag ihm, ich hätte dich geschickt.“ Der Junge hat so eine Mischung, die nach Tritop schmeckt, auch Rum enthält und grün ist. Vor kurzem hat ein Junge ein Mofa geklaut, das ist zum ersten Mal passiert, sorgte natürlich für Aufregung, einige Alte hätten gerne dem Alkohol die Schuld gegeben. Nur: Der Junge war nüchtern.

Die ersten hier geborenen Kinder hatten immer ein „Auro“ im Namen. Auroson, Aurada, Auroswadiá und so weiter. Das hat sich dann gelegt, die Auros sind inzwischen um die 30, die meisten lassen die zwei Silben weg, so sagt inzwischen jeder Swadiá statt Auroswadiá. Und Lila, 22, sagt lächelnd: „Ich bin froh, dass meine Eltern mich nicht Aurolila genannt haben. Man kann es übertreiben.“ Nur Auroson, inzwischen 34, das erste hier zur Welt gekommene Kind, und Aurada, beide inzwischen selbst Eltern, bekommen das Auro-Aura nicht los. Sunaura hat es geschafft, jeder kennt die 27-Jährige, die vor einem Jahr wieder aus Amerika zurückkam, nur als Sunny. Die noch jüngere Generation hat andere, normale Namen. Und ist, verglichen mit den Eltern, nicht so verbissen. Die Eltern geben mir das Gefühl: „Wir führen, im Gegensatz zu dir, das richtige Leben. Wir tun was für die Menschheit. Du aber bist ein westlicher Egozentriker, und es ist unverschämt, was für Fragen du stellst.“ Die Jungen sind nicht so verbissen gut, sondern lässig und neugierig. Es ist ihnen nicht wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie auf dem wahren Weg sind.

Die Solar Kitchen Gang: Mukta, Aurore, Divya, Emma, Chris, Dakshina, Ananda, alle 13, 14 oder 15. Deutsch, italienisch, französisch, brasilianisch, amerikanisch, englisch. Ich traf sie jeden Tag in der Solar Kitchen, der großen Gemeinschaftskantine, auf dem Dach, das ist ihr Treffpunkt, ab eins, zwei hängen sie da rum. Emma ist die Älteste, sie geht auf eine Missionarsschule außerhalb, ein Internat, ist nur für die Ferien hier und muss erzählen. Die anderen sind neugierig auf die Welt draußen, auch wenn es nur draußen in Indien ist. Die Erwachsenen, zum Beispiel Ambré, sagen dagegen voller Überzeugung: „Wir sind auf dem richtigen Weg, alles Schlechte kommt von außen zu uns.“ Die anderen hören Emma gespannt zu. „Immerhin Fernsehen“, sagt Divya. „MTV-India“, raunt Chris. Sie sind alle neidisch auf Emma, ihre Jeans, die unten weit ist. Alle wollen sie mal weg, die Welt via Internet ist nicht genug. Zumal ja oft der Strom ausfällt und der Server abschmiert. Divya: „Das ist ja nicht die Wirklichkeit, nur ein elektrischer Ersatz.“

„Viele gehen und sagen, sie kommen nicht mehr wieder. Aber am Ende sind fast alle wieder da, es ist schon was Besonderes an Auroville, wahrscheinlich muss man das aber erst draußen lernen“, sagt Mukta.

Auroville finanziert sich mit Spenden von Privatleuten, mit Geld der EU, der UNO, des indischen Staates und durch die Produktion von Räucherstäbchen, die weltweit unter dem Namen Maroma verkauft werden. Wobei bei Maroma nur Inder aus den umliegenden Dörfern arbeiten unter der Anleitung von zwei Aurovillianern. Mit gespendetem Geld wird nahe der großen Hibiscus-Bäume, einem Treffpunkt, ein Haus gebaut mit zehn Apartments. Wie jede Wohnung in Auroville mietfrei. Nur junge Menschen sollen einziehen. Alle sind scharf drauf.

Unter dem Banyan-Tree läuft nun Soundgarden, und zwei Jungs kommen auf die Tanzfläche. Endlich. Mag ja sein, dass das hier neue Menschen sind, in einem fortgeschrittenen Stadium. Aber das, was bei der Techno Party unter dem großen Banyan-Tree passiert, das ist ganz alt, sowas passiert auch woanders ständig und zwar genau so. Die Jungs tanzen mit, wirken ein bisschen verloren, brauchen Zeit, um aufzutauen. Und hey, es ist jetzt egal, ob Grunge, Reggae oder Techno läuft, es ist das alte Spiel, auch wenn es von neuen Menschen gespielt wird.