Alltag im Paradies
Der Zyklon schlägt hart zu, der schlimmste, der Indien in den letzten 50 Jahren traf. Bäume knicken, Häuser brechen, Dächer fliegen, Motorräder wirbeln, Wasser kommt von oben, von der Seite, von unten. Ein Mungo, eine Marderart, sonst immer nur am Boden, fliegt in etwa einem Meter Höhe über die Straße und dreht sich dabei um sich selbst. Ein unglaublicher Anblick. Aber: Ein fliegender Mungo ist nichts gegen Fred im Zyklon. Sitzt in der großen Küche der Gemeinschaft Aspiration und schält Kartoffeln. Fred ist Würde. 60 Jahre, Senatoren-Ausstrahlung, sein Haare sind grau und dick, die Falten um seinen Mund perfekt, seine Haltung kerzengerade. Fred kann selbst beim Kartoffelnschälen den Edelmann geben. Er erzählt von früher. Die Küche ist auf einer Seite offen, nur ein paar Pfosten, keine Wand. Bäume krachen, die Geräusche sind laut und schrecklich, das schöne Mädchen links von ihm, in Auroville geboren, schneidet Tomaten und kreischt ängstlich. In Aspiration wird mehrmals die Woche gemeinsam gegessen. Viele der Communities machen das, obwohl es die Großküche gibt, die alle versorgen kann. Das Essen in den Communities ist eine soziale Veranstaltung. In Aspiration haben alle irgendwann Küchendienst. Heute Fred und das Mädchen. Der Tisch in der Mitte des Raumes ist nass. Strom gibt es schon lange nicht mehr. Werden morgen noch alle leben? Fred war dabei, als Auroville gegründet wurde, 1968. Er kannte Mutter noch persönlich.
Wie es begann und was es wurde: vom Traum eines Yogi zu einer internationalen Gemeinschaft, in der alles allen gehört
Mutter? Ja, Mutter. Ein Rückblick: Sri Aurobindo, in England aufgewachsener Inder, kommt 1893 zurück nach Indien, wandelt sich vom Revolutionär zum friedlichen Philosophen und Yogi. Er sagt: Alles Leben ist Yoga. Und: Der Mensch ist nur eine Zwischenstufe der Evolution. Sri lernt Mutter kennen, eine Französin, die früher in Japan gelebt hatte. Die beiden ergänzen sich, so, wie sich in Indien Mann und Frau oft ergänzen. Er ist für die abgehobeneren Belange des Lebens, also Philosophie, Politik und Ähnliches zuständig, sie für das Praktische, Organisation, Finanzen. Er schwebt, sie regelt den Alltag. In Pondicherry, südlich von Madras am Golf von Bengalen, entsteht ein Ashram, ein religiöses Zentrum. Und die Leute kommen. Sris Regeln sind massentauglich, denn er ist nicht zu fordernd. Askese muss nicht sein. Man macht auch Yoga, wenn man auf dem Markt ein Huhn kauft oder verkauft. Er ist als Guru ein angenehmer Typ. Gut, das ist jetzt alles arg vereinfacht, er hat einige Bücher geschrieben, viel erklärt. Nur ein Zitat: „Der Mensch ist ein Übergangswesen; er ist nicht endgültig. Denn im Menschen und hoch über ihm steigen strahlende Stufen zu einer göttlichen Übermenschlichkeit empor.“ Und so weiter. In Auroville ist Sri, was für gläubige Katholiken der Papst ist.
Sri stirbt Anfang der fünfziger Jahre, Mutter übernimmt. Sie ist in Auroville fast so heilig wie Sri. Sie sagte: „Auroville gehört niemandem im Besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit.“ Und: „Es ist der ideale Ort für jene, die wissen wollen, welche Freude und Befreiung das Aufgeben von persönlichem Besitz mit sich bringt. Alles gehört der Gemeinschaft. Niemand ist berechtigt, über etwas als privates Eigentum zu verfügen.“ Und: „Geld wird innerhalb Aurovilles nicht benutzt werden. Auroville wird nur mit der Außenwelt Geldbeziehungen eingehen. Aurovillianer erhalten keine Gehälter.“ Da irrte Mutter, es gibt Geld in Auroville, Konten, so genannte Maintenances, statt Gehälter. Es gibt ein paar Gruppen, die versuchen, ohne Geld auszukommen, es gibt welche, die untereinander kein Geld tauschen, es gibt welche, die Geld wie Heu machen und es an die Gemeinschaft geben, es gibt auch reiche Aurovillianer. Die Ökonomie Aurovilles ist schwer zu verstehen, viele verschiedene Systeme existieren parallel nebeneinander, kaum jemand blickt durch. Worte, die immer wieder fallen, wenn die Leute versuchen, ihre Wirtschaft zu beschreiben, sind Flickenteppich und Mosaik.
Bigi, etwa 60, aber jugendlich, aus Deutschland, arbeitete lange an der Cote d’Azur als Immobilienmaklerin, ist in Auroville Rüden Landkauf zuständig. Sie sammelt Spenden, in Europa, Indien, den USA. Die Landpreise steigen hier für indische Verhältnisse ins Unermessliche, Spekulanten machen eine schnelle Rupie. Sie erklärt stundenlang die wirtschaftlichen Verhältnisse und endet so: „Okay, das ist schwer nachvollziehbar, aber irgendwie funktioniert es. Auroville ist ein Erfolg.“ 1500 Menschen leben in Auroville, Mutter wollte 50 000. Nur wenn man die Einheimischen in den umliegenden Dörfern, die stark von Auroville profitieren, dazurechnet, kommt man nahe an die 50 000. 1200 Hektar Land gehören zur Gemeinschaft, gar nicht mal so viel. Auroville ist eine Ansammlung schöner Dörfer inmitten des in wenigen Jahren gepflanzten Dschungels. Alles ist grün, dicht, ab und zu Wiesen und Felder, Pfauen tapsen herum, alles wirkt friedlich, angenehm ruhig, eine schöne Umgebung. Viele tolle Gebäude, geplant und gebaut von Leuten, die ihrer Phantasie freien Lauf ließen, die keine Bauvorschriften zu achten hatten. Die meisten wohnen in Einfamilienhäusern, oft mit Solartechnik und Brunnen. Einige Villen wirken futuristisch, extravagant. Es gibt ein paar Apartmenthäuser, dazu Unterkünfte für junge Leute. Die Häuser gehören niemandem: Einer baut eins, lebt darin, überlässt es einem anderen, er bekommt nichts dafür, alles gehört der Gemeinschaft, ständig wird umgezogen. Dann gibt es noch viele Gästehäuser: Dezember, Januar, Februar ist Touristensaison, Auroville verdient in der Zeit einen wichtigen Teil seines benötigten Geldes, es wird Kurtaxe verlangt.
1200 Hektar Land mit etwa 80 Communities, die so schöne Namen haben wie: Adventure, Acceptance, Arc en Ciel, Certitude, Eternity, Fraternity, Hope, Grace, Quiet, Reve, Simplicity und Verite. Discipline nicht vergessen, in Discipline leben lustigerweise vor allem Deutsche, Siegfrieds und Karins. Nachnamen hat niemand.
Aus 50 Nationen kamen sie hierher. Laut Statistik sind 32 Prozent der Bevölkerung Inder, 18 Prozent Franzosen, 15 Prozent Deutsche, fünf Prozent Italiener, je vier Prozent Holländer und Amerikaner, drei Prozent Schweizer, dann folgt eine lange Liste mit allen möglichen Ländern. Jährlich kommen etwa 60 bis 80 neue Bewohner dazu. Die Zuzugsrate wird kontrolliert klein gehalten, die Geburtenrate ist sehr hoch. Intern, wenn über Faulpelze geschimpft wird, wird Auroville oft mit Kolonial-Allüren verbunden. Viele tamilische Frauen und Männer arbeiten für die Westler, natürlich bezahlt, putzen ihre Häuser, arbeiten auf den Feldern. Die Arbeit und die Bezahlung seien für die Tamilen attraktiv, die Frauen bekämen durch sie Freiheit von ihren Familien. Viele tamilische Kinder und Jugendliche gehen in Auroville-Schulen, die Frauen in den Dörfern bekommen Kredite vom Outreach Project Auroville, die medizinische Versorgung der Umgebung hat Auroville übernommen. Tamilische Familien wollen Aurovillianer werden. Man kann doppelt so viel Mitgift verlangen, wenn der Sohn eine Tamilin heiratet.
Wie es gedacht ist und wie es gemacht wird: der sanfte Selbstversorger Johnny und der harte Otto, zuständig für Finanzen
Mutter starb 1973, in Auroville sagen sie: Sie verließ ihren Körper. Johnny ist 58, er kam Ende der sechziger Jahre aus Australien hierher und liebte die Idee, pflanzte Bäume, baute Häuser. Er erzählt von früher. „Wir hatten damals das beste Material, Pumpen, Werkzeug, wenn du was gebraucht hast, gabst du dem Anwalt einen Zettel, der ging zu Mutter, die zog ein paar Scheine unter dem Kissen hervor, auf dem sie saß, und du hast damit den Generator gekauft.“ Johnny sagt: „Geld war damals nicht knapp in Auroville.“ Viele reiche Leute brachten viel mit. Spenden kamen in Mengen. Die indische Regierung gab und internationale Organisationen, zum Beispiel die WHO, die UNESCO, die EWG. Zurzeit sind vor allem Inder, die im Silicon Valley reich wurden, die großen Spender. In Auroville konnte gebaut und gepflanzt werden. Viel Geld ging in ökologische Projekte. Früher war hier Wüste, jetzt ist Dschungel. „Inzwischen ist die Geldlage eng.“ Johnny braucht kein Geld: Alles, was sie in seiner Community, Fertile, essen, bauen sie selbst an, er trägt nur Klamotten, die in Auroville gemacht wurden. Kein Strom in Fertile, die Pumpen werden von Sonnenstrahlen angetrieben. „Unser Hauptziel ist Selbstversorgung.“ Für ihn ist Fertile ein Paradies.
Der graubärtige Mann ist stolz auf einiges hier. „In Auroville machst du, was du machen willst. Wenn du hinter einem Schreibtisch sitzt und Papiere unterschreibst, dann machst du das, weil es dir gefällt, du musst es nicht wegen des Geldes machen.“ Weiter mit Begeisterung: „Wir sind hier Farmer, wir bauen an, was wir brauchen, so was gibt es doch heute kaum noch auf der Welt, es ist der reine Luxus.“ Allerdings normalisiert sich Auroville: Vor kurzem wurde ein Moped von einem Jugendlichen gestohlen, es gibt Drogen, ein Junge aus Auroville starb in Madras an einer Überdosis. Der indische Staat lässt Auroville machen: Kein indischer Polizist ist für die Gemeinschaft zuständig, die soll alles allein regeln.
Johnny ist entspannt. Er meditiere zwar, mache auch Yoga, „aber hey, das ist kein Yogaregime hier, Leben in Auroville ist frei.“ Er ackert auf den Feldern, macht Jugendarbeit. Abends liest er, auf dem Holztisch unterm Palmdach liegt ein altes Satiremagazin, daneben ein Buch über Paul Klee und eines mit dem Titel …Natural Capitalism, Creating the Next Industrial Revolution“. Viele Bibliotheken gibt es in Auroville, Bücher, CDs, viele Konzerte, viele Tanzvorführungen, Kultur ist kostenlos und im Überfluss, Vorführungen von Filmen indischer Regisseure, ein Truffaut hier, ein Faßbinder da. Plakate kündigen an: Schubert, Brahms, Messian. Und so weiter. Aufführungen von Auroville-Bewohnern.
Unter dem mit Palmblättern gedeckten Dach des offenen Gemeinschartspavillons von Fertile: Johnny, der einen Lungi, einen Wickelrock trägt, schüttet Tee nach und sagt, was alle in Auroville sagen: „Haha, du willst mit Paul sprechen. Vergiss es, er wird keine Zeit für dich haben.“ Paul und Laura leiten Maroma, das ist die Firma - in Auroville heißt das Unit - die Räucherstäbchen produziert und seit Jahren der Gemeinschaft so viel Geld zukommen lässt, dass die damit zwei Drittel ihres Etats finanziert. Ohne Maroma gäbe es Auroville nicht mehr. Ohne Paul und Laura gäbe es Maroma nicht. Maroma liefert Geld, Geld wird gebraucht, aber nicht gemocht, hat ein richtig schlechtes Image.
Noch mal zurück zu Fred in der Aspiration-Küche während des Zyklons. Zwei indische Aurovillianer kommen in die offene Küche gerannt, schreien, dass Bäume umgefallen sind, einer auf Freds Haus. Fred nickt würdig, dann versucht er, Auroville zu erklären. Ein unmögliches Unterfangen, immerhin sagt er: „Wir versuchen, ein Leben zu leben, das nicht normalen Motiven folgt.“ Draußen tobt der Zyklon. Die Frage hier sei immer: Was kannst du beitragen? Später erzählt er von sich: Jemand aus seiner Familie hatte die Zeitschrift „Quick“ gegründet. Fred machte 1959 in München Abitur, fuhr mit dem Frachter nach Indien, war hier und dort und landete im Ashram von Pondicherry, Mutter beeindruckte ihn: „Ich sah in ihre Augen und ging auf eine Reise. Ich wollte Mitglied im Ashram werden, ich saß im Garten und meditierte. Eines Tages öffnete ich die Augen, und da stand diese gut aussehende Schwedin vor mir. Ich wurde Stiervater ihrer drei Kinder und hatte zwei eigene mit ihr.“ Wie alle Beziehungen in Auroville, fast ohne Ausnahme, geht auch diese in die Brüche. Das habe damit zu tun, dass die Frauen hier selbstbewusster seien und die Gemeinschaft sich um alle kümmere. Deshalb verließen alle Frauen ihre Männer, erklärt später jemand.
Otto kam später als Fred nach Auroville. Otto ist Hardcore, so wie Johnny, nur, dass der entspannt wirkt. Otto dagegen hat, bei all seiner spürbaren Sensibilität, seiner leisen Nuschelstimme, eine Stalin-Aura. Er ist ein Überzeugungstäter, will die Menschen bessern, was viel Härte erfordert, von allen, denen, die gebessert werden sollen, aber auch von ihm. Er sitzt im ausgewaschenen blauen Hemd, mit schwarzem Schnauzer und einem traurig-müden Blick der Verzweiflung in „Roma’s Kitchen“, einem Restaurant. Die völlig unzeitgemäße Drahtbrille schief im Gesicht, redet er über Geld. Er ist dafür genau der Richtige. Der Österreicher verwaltet die klammen Finanzen der Kommune.
Otto hat eine lange Geschichte hinter sich: Arbeitete bei einer Bank in Wien, stieg aus, machte zehn Jahre die Disco „Mississippi“, stieg wieder aus. Auf nach Auroville. Zehn Jahre blieb er in der Bäckerei. Die ist für viele Neuankömmlinge der erste Anziehungspunkt. Alle Leute, die hierher kommen, haben ein großes Bedürfnis, erst mal Bäume zu pflanzen und Brot zu backen. Mehr als zwei Millionen Bäume haben die Aurovillianer bisher gepflanzt, sie haben die Erosion gestoppt, einen Landstrich gerettet. Und ihr Brot ist gut. Eine Italienerin, die es verkauft, lächelt und sagt ernsthaft: „The backery is under german leadership.“ Ab und zu lacht man in Auroville über den Begriff „Oberbrotführer“.
Wie das Grundeinkommen in die Gemeinschaft kam, wofür es nicht reicht und was man dann dringend braucht: Geld.
Nach zehn Jahren Bäckerei managte Otto „Pour Tous“, den Supermarkt in Auroville. Pour Tous, französisch: für alle. Anfangs war der Supermarkt kostenlos. Die Leute holten sich, was sie brauchten, die Gemeinschaft finanzierte es. So funktioniert noch heute der Kleiderladen, der Kinderladen und einige andere Versorgungseinrichtungen. Pour Tous aber funktionierte so nicht. Otto, der Sanierer, zog ein, als nichts mehr, wirklich nichts mehr am Lager war, Geld sowieso nicht. Seine Reform: Jeder Aurovillianer bekam ein Konto. Darauf kam das Geld, das die Gemeinschaft jedem Einzelnen für geleistete Dienste gibt, die so genannte Maintenance. Da auch künstlerische Tätigkeiten oder spirituelle Leistungen mit Maintenance honoriert werden, schließlich ist alles und jeder wichtig für die Gemeinschaft, ist Maintenance eigentlich ein Grundbetrag zum Lebensunterhalt, der jedem zur Verfügung gestellt wird, egal, was er tut. Es ist ein bescheidener Unterhalt, aber er reicht zum Leben. Es gibt einige entspannte Nichtstuer in Auroville. Otto schimpft auf sie: „Ich habe mit vielen Leuten zusammengearbeitet, die an dem Tag, an dem sie Aurovillianer wurden, nicht mehr zur Arbeit kamen.“ Die Wartezeit bis zur Aufnahme wurde deshalb von einem Jahr auf zwei erhöht, sagt Otto. Viele würden hier schnell zum Künstler. Kunst ist wichtig, klar, aber er mag das nicht so, er ist schließlich für die Finanzen zuständig. Die Idee sei: „Auroville versorgt die Leute, die geben dafür ihre Energie.“ Sein System bei Pour Tous funktionierte, Spenden wurden reingepumpt, die Leute konnten und können immer noch für einen bestimmten Betrag einkaufen. Spenden gibt es viele. Einige leben hier bescheiden, geben ihr Geld an die Gemeinschaft. Einige leihen es, es wird auf ein Konto gelegt, die Zinsen gehen an Auroville, das Geld gehört weiterhin dem Geber. Manche verdienen in Auroville viel Geld und geben viel ab. Wieder fallen zwei Namen: Paul und Laura, die Leiter der Räucherstäbchenproduktion. Otto sagt: Paul wird keine Zeit haben für ein Gespräch, der arbeitet 20 Stunden am Tag.
Pour Tous funktionierte, alles lief. Otto stieg wieder aus, managte den Foreign Exchange, eine Art Bank, sie war in der Krise. Krise ist oft in Auroville, es ist faszinierend, wie krisentauglich die Aurovillianer sind, keine Krise macht sie richtig nervös. Otto bewährte sich auch dort, und als mal wieder große Krise war, wurde Otto überredet: Er war plötzlich für die Gesamtfinanzen zuständig. Das Erste, was er machte: Der Account aus dem Lebensmittelladen wurde Account für alles. Ob Bäckerei, Cafe, Internet oder Mittagessen in den Gemeinschaftsküchen, alles geht über den Account. Bargeld ist theoretisch nicht mehr nötig in Auroville. Das funktioniert aber nur begrenzt, schließlich wollen die meisten Moped fahren, ab und zu nach Pondicherry oder gut in Roma’s Kitchen speisen. Es gibt Möglichkeiten, in Auroville Geld auszugeben. Nur Kultur ist immer kostenlos und Spirit, also Yogakurse, die Selbstfindungssachen, die psychologische Betreuung, die Schulen für die Kinder, Kleider für sie, das kostet nichts. Aber Luxus schon. Auch ein bisschen Luxus. Es gibt Gründe, Bargeld zu haben. Otto managt nun die Finanzen, er arbeitet mehr als die fünf Stunden täglich, die die Gemeinschaft von jedem erwartet. Jetzt sitzt er in Roma’s Ritchen am Rande der Siedlung, auf der Terrasse. Mittagszeit, damit Otto keine Arbeitszeit verliert, das war eine Bedingung. Die andere: Du musst zahlen. Okay.
Otto erklärt warum: Er ist ein Asket, lebt allein von der Maintenance. Deshalb auch die antike Drahtbrille. „Man muss bescheiden sein, ich habe ein Fahrrad, kein Motorrad, ein Motorrad ist teuer.“ Seine Frau, deren zwei Rinder und er leben von 13 000 Rupien im Monat, etwa 500 Mark. Viele Aurovillianer gehen im Sommer für zwei, drei Monate nach Europa, jobben. „Ich finde das abartig, die kommen zurück, kaufen sich ein Motorrad oder so was, müssen sich noch zwei Monate erholen, fehlen hier im ökonomischen Prozess. Und sie haben einen zu hohen Lebensstandard für das, was wir hier produzieren.“ Was nicht funktioniert hat; von der gescheiterten Computer-Industrie und den Menschen, die gern Geschäfte machen wollten.
Es folgt Theo, einer der Computer-Jungs. Lange brachten die Computer-Units Geld nach Auroville, viel Geld. Es gab aber ein Image-Problem. Theo, deutsch, Computerfreak, seit 1986 in Auroville, erklärt die Organisation: „Mehrere Units sind zusammengefasst zu einem Trust, ich bin, Moment, wie heißt das“, er schaut nach, „ja, hier. Managing Trustee, das heißt, ich bin verantwortlich für alle Vermögenswerte, bewegliche und unbewegliche. Meine Unit ist Penta.“ Er klagt: „Business war in Auroville immer ein Schimpfwort. Bei unserem Unternehmen Aurelec aber hieß es: Business ist nötig, wir haben uns stark gemacht für Business. Paul bei Maroma war cleverer. Der hat einfach Geld gemacht, gegeben und den Mund gehalten. Wir haben das Maul aufgerissen und gesagt, Geld verdienen ist in Ordnung. Meine Güte, wir waren unbeliebt.“ Aber erfolgreich.
Angefangen haben sie mit Scannern für die Lederherstellung in indischen Betrieben. Das Ding tastete das Leder ab und sagte, wie groß es ist, wie viele Schuhe daraus zu machen wären. Danach bauten sie Computer. Kauften Teile in Taiwan, setzten in Auroville alles zusammen, als in Bangalore noch kein Computer stand. „1988 wurden wir IBM-kompatibel.“ Damals waren die indischen Einfuhrzölle mörderisch. Es war lukrativ, in Indien Computer zusammenzubauen. „Wir haben die Gehäuse aus Fiberglas in Auroville gemacht, die Einzelteile teilweise selbst gebaut, den Rest geholt. Wir hatten ein Korrosionsproblem, also haben wir eine Pulverbeschichtung entwickelt.“ Danach haben sie sich auf Netzwerke konzentriert, mit Novell kooperiert, waren da indischer Marktführer. „Wir hatten eine imposante Kundenliste.“ Die indische Bahn zum Beispiel benutzte Hardware aus Auroville.
Was prima funktioniert: von der Firma Maroma, die zwei Drittel der Finanzen reinholt, und ihrem Chef Paul, der den Luxus liebt.
Der Niedergang begann mit der Foundation, sie wurde 1992 gegründet. Ganz oben ist die Foundation, eine Art e.V., geleitet von Otto. Darunter die Trusts, unterteilt in Units. „Wir haben gesagt, um Geschäfte zu machen, ist die Foundation Scheiße.“ Weil sie gemeinnützig ist, keine Aktien haben darf, weil ihr der Boden gehört, bekommen die Units und die Trusts keine Kredite von Banken, sie haben keine Sicherheiten, ihnen gehört nichts. „Venture Capital kannst du vergessen, die spucken nicht mal auf dich. Die Restriktionen kamen alle von Auroville, nicht vom indischen Staat, wir haben uns selber gelähmt.“ Nach und nach machten sich die Computerleute selbstständig, Aurelec spaltete sich in Privatfirmen, die gingen nach Pondi und Madras. Theo: „Paul hat ein heiliges Produkt gemacht. Räucherstäbchen, das war in Ordnung, aber Computerbusiness wurde hier gehasst.“ Es gibt zurzeit etwa 100 Units, nur wenige machen Gewinn. Sie produzieren Stoffe, Kleidung, Schuhe, übersetzen via Internet in viele Sprachen der Welt, betreiben Läden, reparieren Fahrräder, stellen Sonnenkollektoren und Biogas-Tanks her, restaurieren Möbel, betreiben ein Reisebüro. 100 Units, wenige Geldbringer. Die große Ausnahme: Maroma. Maroma sieht aus wie eine Festung, hohe Mauern drumherum, Wächter in Uniformen am Tor, alles völlig untypisch für das Leben hier. Beim Chef, Paul, muss man einen Termin beantragen. Aber er nimmt sich zwei Stunden Zeit. Es werden zwei Tage, weil Paul sehr kommunikativ ist. Paul ist 50 Jahre alt, kam mit 24 hier an und fühlt sich seitdem wie 24. Er hat graue kurze Haare, trägt ein weißes Seidenhemd, gekauft in Kyoto, steht auf Luxus, sagt er später. Laura, seine Partnerin, und er haben einen Swimmingpool in ihrem Garten. Sein Lächeln ist dezent, wissend, ehrlich. Paul liebt Auroville und mag Mauern, sie machen frei. „Mauern schaffen Grenzen, dein Hirn kann sie dann überfliegen.“ Maroma ist die Auroville-Erfolgsgeschichte. „Man kann das Wachstum nicht auf Papier erklären, Mathematik arbeitet hier nicht. Je mehr wir ausgeben, desto mehr kriegen wir zurück. Wir investieren gern, wir mögen Schönheit, und dafür muss man nun mal bezahlen.“ Wie die meisten Aurovillianer sieht Paul jünger aus als er ist.
Paul ist Algerier, kam nach Frankreich, arbeitete als Apotheker, kam nach Auroville. Maroma, zusammengesetzt aus Mutter und Aroma, begann 1976 als erste Unit. Er war, nach einer Zeit in der Bäckerei und in der Bibliothek, kurz dabei, wurde dann aber erst mal Landwirt. Auroville erklärt er so: „Es ist ein Menschheitsexperiment. Geld ist hier nicht Gesetz, nichts gehört einem. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, bist du falsch in Auroville. Hier brauchst du einen anderen Motor.“ Nein, Geld sei nicht sein Motor, ja, er arbeite viel. „Es gibt hier fleißige Leute und Leute, die ihren Vorteil suchen.“ Einfach hinschmeißen ginge aber nicht, trotz der Vorteilssucher, weil darunter auch die wahren Aurovillianer zu leiden hätten. „Wir müssen eine andere Art Leben entdecken. Die Erde braucht das, sie ist in keinem guten Zustand, es muss sich etwas ändern.“ Was Paul braucht, sei Shopping, in Bombay, Tokio, New York oder Paris. Maroma, drei Millionen Dollar Umsatz im Jahr, macht viele Geschäftsreisen nötig. In aller Welt werden die Räucherstäbchen verkauft, sie seien besser als die meisten der Konkurrenten. „Qualität ist wichtig, weil es ein Produkt ist, das auch Mutter würdigen soll.“ Deshalb bekommen die Arbeiterinnen viel mehr als den indischen Durchschnittslohn. Es gibt Sozialleistungen, die der DGB gern für seine Mitglieder hätte. Als Gegenleistung wird erwartet, dass bei den acht Stunden Arbeit kein Wort fällt. Hier arbeiten keine Aurovillianer, nur Tamilen. „Ein paar haben es versucht, aber das klappte nicht.“ Zu verwöhnt? Er nickt.
Die Arbeit sei hart: „Du bist hier in einem Land, in dem du jeden Tag deine Firma neu aufbauen musst.“ Noch immer könne man nicht ruhigen Gewissens delegieren. Kontrolle sei wichtig. Und man müsse die Leute jeden Tag neu motivieren. „Klingt wie im Managerbuch gelesen, ich weiß, aber in Indien gilt das.“ Er sieht sich nicht als Märtyrer, obwohl er sagt: „Was ich für Auroville leiste, wird nicht geschätzt, aber das ist mir egal. Laura, Mutter, Sri, das reicht mir. Ich habe oft Arger, weil ich sage, was ich denke.“ Als er durch die Firma führt, sagt er: „Arbeit zeigt dir den hässlichen Teil deines Selbsts.“ Er hat bei seiner Arbeit viel mit Geld zu tun. „Ich bin kein Geschäftsmann, aber ich fasse Geld an, meine Wahrnehmung von Geld ändert sich. Du musst darüber die ganze Zeit nachdenken. Das ist wichtig.“ Paul macht den Eindruck, als würde er viel nachdenken: über sich, über die Welt und vor allem über Auroville. Aber erklären kann er Auroville auch nicht. Ihm sei nur aufgefallen: „Hier ist eins und eins nicht zwei. Hier ist es etwas anderes.“