Im weißen Nichts

Reportage
zuerst erschienen Dezember 2011 in Impulse, S. 156-162.
Der Unternehmer Frank Runge trainiert in Norwegen für den Marsch durch die Antarktis. Am 18. Januar will er am Südpol ankommen

[158] In der hellen Einsamkeit ragen Bäume als Gerippe aus dem Eis. Graue Wolken hängen im blauen Himmel.

Drei Punkte im weißen Tal. Drei Mann. Aufgeblasen in blauen Anoraks leuchten sie wie Comicfiguren. Jeder zieht an einem Seil um die Hüfte einen flachen Schlitten über das Eis. Sie gleiten auf Langlaufskiern über den Kvitdalsvatnet-See mitten in Norwegen. Er ist meist zu- gefroren. Keine Tierspuren sind im Schnee. Hier sollte auch kein Mensch sein, droht das knirschende Eis.

Die drei Schlitten bilden eine Linie. Die Männer arbeiten sich voran, als wären sie Maschinen. Tapp, tapp, tapp, tapp. Wie zu einem unhörbaren Metronom. Ein Schlitten bleibt an einem Eisbrocken hängen, wackelt. Kurz dar- auf wieder: Er schert aus, zerrt an der Leine wie ein Hund, aber die Maschinenmänner schreiten weiter, ignorieren die unruhigen Schlitten, zwingen sie in die Reihe.

Von Weitem haben sie Erhabenheit. Von Na- hem nicht: Die Männer bewegen sich krumm, als wären sie alt. Ihre Stöcke sind kürzer als Langlaufstöcke, damit die Hände unten bleiben und das Blut leichter fließt.

[159] Wind bläst Schnee zu einer Wand. In dem Moment, in dem sie nur noch weiß ohne Zwischentöne wird, bläst er für Sekunden den Blick frei auf den Berg Hjerkinnhoa. Frank Runge er- kennt in diesem Moment, er hat das Team in die falsche Richtung geführt. Er ändert die Richtung. Die beiden anderen folgen.

Runge – der Deutsche im Team – lebt seit 16 Jahren in London. Er ist ein Unternehmer, ein Macher. Stammt aus Rellingen bei Hamburg, hat bei Stinnes Ölhandel gelernt. Dort hat er sein Talent erkannt, Deals zu finden, lang genug zu warten, im richtigen Moment zu kaufen oder zu verkaufen, seine Kaltblütigkeit. Er ging nach London, sich den großen Job suchen, landete bei Trafigura, heute ein großer Rohstoffhändler. Runge fing als Angestellter Nummer 13 an. Trafigura hat jetzt 4000 Mitarbeiter. Zuletzt leitete Runge den Ölhandel, den dicksten Trafigura-Brocken, bekam bei jedem Geschäft Prozente.

Geld war einfach da und vermehrte sich. In Ghana, wo er oft wegen Ölgeschäften war, kaufte Runge eine Orangensaftfabrik mit seinem Kollegen Gavin Moran, so nebenbei. Sie beliefern halb Europa mit Konzentrat. „Pinora läuft von allein“, sagt Runge. Im Dezember kündigten die beiden bei Trafigura. Sie haben jeder drei Kinder, wol-[160] len mehr Zeit mit ihnen verbringen – und sich neue Investments suchen als Unternehmer.

Und sie wollen zum Südpol. Noch mal ein großes Abenteuer erleben. „Was anderes machen, nenn es Midlife-Crisis“, sagt Runge. Er ist 46 Jahre alt. Moran 41. Sie haben sich einen Dritten gesucht, James Raaff, 45, britischer Physiotherapeut und Bekannter. Sie denken von ihm, er sei fit genug.

Nun geht es darum, ein Team zu werden. Eine Mannschaft, die funktioniert in Extremsituationen, die automatisch läuft. Die Rücksicht auf den Einzelnen nimmt, aber nicht zu viel. „Wir arbeiten daran, dass endlich mal einer sagt, es reicht jetzt“, sagt Runge.

14 Tage vor Weihnachten werden sie in die Antarktis fliegen. Am letzten Tag des Jahres los- laufen. Exakt am 18. Januar wollen sie am Süd- pol stehen. Der Tag, an dem vor 100 Jahren Robert Scott und seine Männer dort ankamen. Zu spät. Um fast einen Monat geschlagen von Roald Amundsen und seinen Männern.

Runge, der Deutsche, denkt britisch. Spannende Helden sind jene, die scheitern. Scott und sein Team erfroren auf dem Rückweg. Amundsen, der Überlebende und Sieger im Wettlauf, gilt Angelsachsen als Langweiler. Des- halb das Ankunftsdatum. Die drei werden ge- gen andere Teams um die Wette laufen.

Sollten sie verlieren, sind sie trotzdem Sieger. Denn Runge und Moran richten das Rennen aus. Sie haben sich mit je einem Viertel bei Extreme World Races eingekauft. Einem Reiseveranstalter, den es schon acht Jahre gibt. Das Unternehmen ist nie wirklich profitabel geworden, trotz seiner außergewöhnlichen Angebote wie Wettrennen zum Südpol, zum Nordpol, um den Baikalsee.

Runge sagt über dieses Investment: „Geld ist relevant, steht aber nicht mehr im Vordergrund.“ Er kann es dennoch nicht lassen, die Firma gemeinsam mit seinem Freund umzukrempeln. „Das ist ein Geschäftsmodell, aus dem man mehr machen kann, wir müssen das besser promoten.“ Die Kunden zahlen, um gut betreut Extremes zu erleben. Sie bekommen Flüge, Equipment und im Notfall ein Rettungsteam gestellt. Die Trainer geben Tipps. Die wichtigsten: Schneller laufen! Mehr essen, wenn es kalt ist! Es ist lebenswichtig, so viel wie möglich zu essen in der Kälte.

Und die Fernsehkameras surren dazu

Noch mehr als an einzelnen Abenteurern verdient die Firma an Wettrennen, die zu Fernsehserien aufbereitet werden. Die BBC hat eine solche Serie ausgestrahlt. Vergangenen Winter ließ das ZDF Markus Lanz und andere in Promiteams zum Südpol laufen. Für diesen Winter suchen die Marketingleute von Extreme World Races Firmen, die Teams der Caritas und der Krebshilfe sponsern. Bei diesem Wettstreit tritt auch Runge mit seinem Team an.

Dafür trainieren sie nun in Norwegen. Sie schwitzen. Bei bis zu 60 Grad minus im Wind der Antarktis sind Pausen gefährlich. Schweiß gefriert und könnte töten. Die drei haben einen Takt. Sie sind in der zweiten Trainingswoche, wissen, was sie tun müssen, wenn sie am Süd- pol überleben wollen. Sie üben, wer wann, so- bald sie stoppen, die winddichte Folie aus dem Schlitten zieht, wer wann in der Mitte kauern darf und somit die Plane nicht halten muss. Sie wissen, wer morgens vor 4 Uhr aufstehen wird, um Eis zu schmelzen, was am Südpol Stunden dauert. Sie können in sechs Minuten ihr Zelt [162] aufbauen. Sie haben erste überlebenswichtige Automatismen entwickelt.

Am Abend im Zelt sagt Frank Runge: „Es muss sich noch einiges einschleifen.“ Sie müssen schneller werden. „Wir sind noch fünf Kilometer von dem entfernt, was wir jeden Tag, 30 Tage am Stück, laufen werden.“ Auf dem ewigen Eis wollen sie insgesamt 750 Kilometer zurücklegen, 15 Stunden am Tag, Schritt für Schritt, immer im gleichen Tempo, wie Kamele im Eis.

Die Sonne geht hier hoch im Norden früh unter, es wird noch kälter. In der Nacht rutscht die Temperatursäule weiter runter, 40 Grad minus. Frank Runge sitzt im Zelt. Er ist ruhig, groß, sportlich. Sein Gesicht wirkt im Halbdunkel wie das eines Teenagers.

Treibstoff für die Fantasie

Beim Erzählen untertreibt und übertreibt Runge. Untertreiben hat er beim Verhandeln der Öldeals gelernt: Lass bei Zuhörern die Fantasie toben, quatsch nicht zu viel! Deute nur an, warte, was es bei den anderen auslöst. So bleibt er oft einsilbig.

Er übertreibt mit Selbstzweifeln, nennt sein Abenteuer „dekadent“. Offenheit und Naivität wirken ein bisschen gespielt. Er wirkt offen und bleibt undurchsichtig, weil er eine Mischung bietet: Businessprofi, frisch und erfolgreich aus dem Londoner Haifischbecken und eifriger Junge, der Kaulquappen fangen will und seit Stunden hektisch davon erzählt. Worte wie „minus 50 Grad“ oder „drei Tote!“ unterstreicht er mit dem Das-ist-doch-atemraubend-Blick. „Eigentlich geht’s mir um den Kitzel“, sagt Runge, „rentiert sich die Firma nicht, ist das kein Drama.“

Moran und er hatten nach der Kündigung erst einmal runtergeschaltet, fielen ihren Frau- en auf die Nerven. Sie bekamen Angst so ohne Arbeit, ohne Kitzel, die Langeweile kroch hoch an ihnen. So begann ihr Südpolabenteuer.

Ihr Leben heute: „Ich habe mein Adressbuch um 99 Prozent verringert. Habe die Überstimulation der Sinne, dieses zu viel Input, zu viel Neuigkeiten, hinter mir gelassen“, sagt Runge. Ja, er ist ausgestiegen. Er hat sein Blackberry abgeschafft. „Ich hab jetzt Zeit für Stille.“

Andererseits: Heute, beim vierten Mal den See abschreiten, hat er Gedanken gehabt, die er kennt. Gedanken wie „Alles reine Willenssache“ und „Die entscheidenden Dinge passieren im Kopf, trotz der körperlichen Anstrengung“. Alles ist neu – er ist doch der Alte geblieben.

In der Kälte des Zeltes sagt er: „So ähnlich, wirklich nicht viel anders, war es bei der Arbeit.“ Als er mit seinen Kollegen 20 Stunden am Stück konzentriert für einen Deal arbeitete. Als nichts anderes zählte als das gemeinsame Ziel. „Dieses: die Umstände akzeptieren. Augen zu, durch! Das ist auf dem Marsch dasselbe.“ Er fühlt sich wohl damit.

Abendessen: Alutütensuppen, Carbonara und Chili con Carne. Sie werden mit 400 Milliliter heißem Wasser aufgegossen, verschlossen, nach fünf Minuten geöffnet. Alles schmeckt gleich. Sie wälzen sich in ihrem Mikrokosmos, drei Mann in der Kälte, im Training, im Südpolmodus. Sie sind unzufrieden: „Wir hätten mehr Strecke zurücklegen müssen.“ Sie sind zu- frieden. Das Zelt stand schnell. Sie kriechen in ihre orangeroten Schlafanoraks. Mit denen in ihre Polarschlafsäcke.

5.30 Uhr am Morgen. Es gibt Müsli. „Schmeckt genauso wie die Carbonara“, sagt Runge. Egal. Worauf es ankommt: „Es macht Spaß.“