Der kurze Rausch im Barrio Tanza

Reportage
zuerst erschienen im März 2002 Greenpeace Magazin 2/2002, S. 38-39
Fassung des Autors
In Cavite gilt das 5/6-Prinzip. Das heißt: Wer fünf Pesos leiht, muss nach einem Monat sechs zurückzuzahlen.

Mark hängt an der Schulter seiner Mutter und hustet. Für ein elfmonatiges Kind klingt der Husten alt, sehr tief, er kommt von ganz weit unten. Der Junge wirkt apathisch und ausgezehrt, doch seine Mutter, Victoria Estapia, 26, schüttelt den Kopf. Nein, sagt sie, Mark ist nicht krank. Der Husten sei normal, den hätten viele hier im Barrio Tanza. Der Slum liegt in der philippinischen Region Cavite, nahe der Hauptstadt Manila. Tausende von Hütten stehen eng aneinander gedrängt: Bretterbuden mit Blechen oder Bastmatten als Dächer, Fußböden aus Erde und Wandlöchern, die als Fenster dienen. Überall Müllberge, Ratten, Fliegen. Die nächste Wasserpumpe ist hunderte Meter entfernt, Bad oder Toilette gibt es nicht.

Alle, die hier leben, arbeiten in der Economic Zone von Cavite. Oder sie arbeiten nicht, wie der Vater, Lester Estapia, 31. Er hat zwar einen Vertrag bei B.S. Lee, einer Firma, die Koreanern gehört. Die kam wegen der niedrigen Löhne auf die Philippinen und produzierte bis vor kurzem für die US-Firma GAP Taschen und Mäppchen. Dann hat GAP den Vertrag auslaufen lassen und B.S. Lee die Arbeiter freigesetzt. Das heißt: Ihr Vertrag gilt noch, sie müssen sich bereit halten. Aber Lohn gibt es keinen.

Das wird offiziell Job-Rotation genannt, denn jeder Arbeiter – in den philippinischen Sonderwirtschaftszonen sind es vor allem junge Arbeiterinnen – kann drei Tage im Monat in die Fabrik kommen und so genannte Samples produzieren: Proben, mit denen sich B.S. Lee bei anderen Markenartikel-Firmen um Aufträge bemüht. Lester Estapia erhält für diese drei Tage den Mindestlohn von je 217 Pesos, knapp fünf Euro. „Ich kann mir keine andere Arbeit suchen“, sagt er. „Selbst wenn ich etwas fände, könnte ich nicht zusagen. Denn dann wäre der Job bei B.S. Lee weg.“ Wäre das schlimm? Lester Estapia nickt energisch. Sollte B.S. Lee geschlossen werden, steht ihm laut philippinischem Arbeitsrecht eine Abfindung zu: umgerechnet 220 Euro – viel Geld im Barrio Tanza.

Das ist die große Hoffnung der Estapias, gleichzeitig aber auch der Grund ihrer Finanzprobleme: Wie lange soll die Familie auf die Abfindung warten? Wäre es besser, wenn sich Lester Estapia einen neuen Job suchte und das Geld sausen ließe? Während die landesweite Arbeitslosenquote um 20 Prozent schwankt, findet sich in den exklusiven Wirtschaftszonen eigentlich immer etwas, sofern man sich richtig dahinter klemmt. Zudem sind die Gehälter, das sieht auch Lester Estapias so, recht ordentlich. Der Mindestlohn hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt, und die Inflation fraß den Zugewinn nur teilweise auf. Aber wie die meisten ihrer Nachbarn haben auch die Estapias nicht gespart, als der Peso noch rollte: Die Familie feierte, ging Fast Food essen, kaufte einen Fernseher und fünf Teddybären für die fünfjährige Tochter Kimberly. Obendrein braucht Lester Estapia täglich eine Packung Winston-Zigaretten für sein Selbstwertgefühl. Wenn er rauche, habe er das Gefühl, „dass es nicht so schlimm ist, immerhin kann ich noch Zigaretten kaufen“.

Nun stecken sie in der Klemme. Allein für Nahrungsmittel benötigt die Familie täglich 200 Pesos. Dazu kommen die Abzahlungen für das Baumaterial, aus dem ihre klapprige Hütte besteht, und die Strafe, die ihnen die Stromgesellschaft aufbrummte. Wie die meisten im Barrio hatten die Estapias illegal Elektrizität abgezapft und damit eine Glühbirne sowie den Fernseher versorgt, der wie ein Altar geschmückt in ihrer Hütte steht. Das Geld, das Lester Estapia nach Hause bringt, reicht jedenfalls hinten und vorne nicht, obwohl er zusätzlich zum Drei-Tages-Job bei B.S. Lee noch Arbeit auf dem Bau angenommen hat. In ihrer Not haben die Estapias bei einem Geldverleiher geborgt. Der Kredit basiert auf dem hier üblichen 5/6-Prinzip. Das heißt: Wer fünf Pesos leiht, muss nach einem Monat sechs zurückzahlen. Die Chancen, dass der Familie das gelingt, sind äußerst gering.

Die Philippinen haben eine der höchsten Geburtenraten der Welt. Und auch im Barrio Tanza ist die Situation nicht anders, obwohl viele Firmen aus der Economic Zone hier kostenlos Antibabypillen und Kondome verteilen. Die Manager wollen, dass möglichst wenige Arbeiterinnen schwanger werden. Das Anlernen neuer Arbeitskräfte gilt als teuer. Mit nur zwei Kindern ist Familie Estapia also eine große Ausnahme. Trotzdem sagt Victoria Estapia, die bis zu Marks Geburt wie ihr Mann bei B.S. Lee arbeitete: „Hoffentlich kriegen wir im Medical Center kostenlosen Hustensaft für den Kleinen.“ Eine Nachbarin kommt vorbei und bringt, wie häufig, Reis und Hühnchen. Solidarität gibt es im Barrio Tanza noch.