Moderne Nomaden

Reportage
zuerst erschienen in Zenith 2/2004
Ursprüngliche Quelle
Für die meisten ihrer Schüler ist die internationale Schule von Ulan Bator nur Zwischenstation. Doch das stört hier keinen

[27] Plattenbauten, fünf-, sechsstöckig, umgeben die Internationale Schule von Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei. Diese Klötze sind grau, nur einer ist himmelblau und wirkt wie ein Farbklecks. Auf eine graue Wand hat einer mit schwarzer Farbe in kyrillischer Schrift die Worte „Sony“ und „Sega“ geschrieben. Die Schule liegt versteckt an einem Hang westlich der breiten Peace Avenue, die die Stadt halbiert. Man muss von der großen Straße in die winkelige Gasse abbiegen. Stünde die Schule nicht am Hang, würde ihr Hof wenig Sonne abbekommen. Die Plattenbauten würden sie schlucken. Der Weg ist eine staubige Piste mit Steinen und Löchern, die die Stoßdämpfer quälen. In Deutschland wäre die Schule nie für den Unterricht zugelassen, dürfte höchstens in einem Gewerbegebiet als Lager herumstehen.

Direkt vor den großen Fenstern der Bibliothek probt die Mittelstufe die Aufführung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ morgen Nachmittag. Mittelstufe klingt falsch, in ihr sind die ältesten Schüler dieser Schule, zwischen 12 und 16 Jahre alt, 35 insgesamt. Ältere gibt es noch nicht, die Schule muss mit den Schülern wachsen. Insgesamt besuchen die Internationale Schule 160 Schüler aus 24 Nationen, beginnend mit vier Jahren. In der Hausordnung steht: „We prepare our students to be responsible, productive global citizens“.

Im Theaterstück spielen mit: zwei deutsche Jungs, ein deutsches Mädchen, drei Mongolen, eine Koreanerin, zwei Koreaner, eine Kanadierin, eine Amerikanerin, ein Ire, zwei Engländerinnen, ein Engländer, eine Tschechin, eine Ghanaerin, eine Polin. Und noch ein paar, die nicht genau zuzuordnen sind. Muss auch nicht sein. Nationalität spielt keine Rolle. Null. Die Unterrichtssprache ist Englisch, ab und zu sind Koreanisch, Mongolisch, Deutsch zu hören. Deutsch, Französisch und Mongolisch werden als Fremdsprachen gelehrt. Koreanisch ist verbreitet, weil viele Familien aus Südkorea in die Mongolei kommen und eine Mittelschicht bilden. Sie besitzen Restaurants, Hotels, Wäschereien, Friseursalons, Autowerkstätten und  Ähnliches. Die Theaterprobe läuft. Chaos. Das wird nichts. Ganz sicher nichts.

Es gibt diese Menschen, die in einen Raum kommen, „Hallo“ sagen und sofort dabei sind, die locker auf Leute zugehen können, die gerne von sich erzählen, auch fragen, aber trotzdem einen gesunden Abstand halten. Solche Fähigkeiten bekommt man in internationalen Schulen mit. Da lernt man, wie man sich leicht ken-[28]nen lernt und kennen lernen lässt. Man wird tolerant. „Sie sind ja dazu gezwungen“, sagt Anne Fowles, die Rektorin, eine Neuseeländerin. Michael Urquhart, der Englischlehrer, hat Erfahrungen gesammelt an Schulen in Kuwait und Kambodscha und sagt: „Das ist jetzt überhaupt nicht negativ gemeint, sie lernen, sich schnell und problemlos anzupassen, sonst würden sie nicht überleben. Sie lernen, sozial aktiv zu sein. Diese Kinder wissen, wie wichtig Freunde sind und wie man Freunde gewinnt. Sind aber keine Opportunisten, eher Pragmatiker.“ Global nomads, die über die Erde ziehen, ein paar Jahre hier, ein paar da, und wieder weiter.

Marius, 16, deutsch, war fünf Jahre in Kathmandu, dann für drei, wie er findet, „seltsame Jahre“ in Reichenbach im Vogtland. Seltsam? „Große Klassen, andere Lehrer, andere Stimmung.“ Abends erzählt sein Vater: „Der Junge geht morgens mit einem Lächeln in die Schule. Wenn ich daran denke, was ich in dem Alter von der Schule gehalten habe.“ Und: die Schüler hier seien naiver als in Deutschland, gleichzeitig aber erwachsener. „Drogen gibt es nicht, Konsummöglichkeiten nicht, sie haben einen anderen Umgang mit Erwachsenen.“ Stimmt, sie reden anders als Gleichaltrige in Deutschland mit Erwachsenen, wirken älter, selbstbewusster. Mit Gleichaltrigen und Jüngeren aber sind sie viel kindlicher. Seit zwei Jahren ist Marius hier. Er spielt in dem Theaterstück den Lysander. Wenzel, 14, den Dimitrius. Marius wirkt nachdenklich. Wenzel wie ein Sunnyboy, ähnelt optisch ein bißchen Bart Simpson und versucht sich als Komiker.

SEXUALKUNDE? „NA JA.“

Marius und Wenzel sind die besten Freunde der Welt. Sie haben fast drei Jahre Altersunterschied. Davon ist nichts zu spüren. Wenzels Mutter sagt: „Es mangelt an Freizeitmöglichkeiten, das bedeutet, die Gruppen sind eng, vor allem im Winter ist der Zusammenhalt riesig.“ Eine after school acitivity wie Wandern, „wir gehen 45 Minuten einen Berg hoch und 45 Minuten wieder runter, fertig“, erklärt Wenzel, gilt als Knaller. Gibt nichts Besseres. Die elfjährige Tracy und die 16-jährige Rebekah stehen nebeneinander und unterhalten sich. Sie sind fast gleich groß. Den Altersunterschied bekommt man anfangs nicht mit. Michael, der Englischlehrer aus Australien, sagt: „In größeren Schulen isolieren sich die Altersgruppen, hier nicht, es ginge gar nicht.“ Tracy und Rebekah verstehen Fragen in diese Richtung nicht. Rebekah antwortet:„Wir kennen uns doch seit zwei Jahren.“ Und Tracy: „Rebekah ist nett.“

Die Jungs könnten sich auf Deutsch unterhalten, obwohl Marius besser Englisch als Deutsch spricht. Sie reden Englisch, weil das die Sprache der Schule ist. Allerdings kommt gerade Bat dazu, der deutsche Mongole. Nach 13 Jahren in Berlin lebt er seit einem halben Jahr wieder hier und, naja, er spricht die beiden deutschen Jungs auf Deutsch an. Mit den mongolischen Jungs, die im Stück die Leibwache der Königin spielen, redet er Englisch, weil er Mongolisch nicht so gut kann. Wenzel dagegen kann. Er ruft den Mongolen was in deren Sprache zu. Das Shakespeare-Stück haben die Schüler umgeschrieben. Alles, was für ihr Leben in Ulan Bator von Bedeutung ist, taucht auf: Bowling Alley, weil sie sich oft zum Bowling treffen. Pizza della Casa, weil das ihr Restaurant ist. Britney Spears und Backstreet Boys, weil für sie Popmusik ein bestimmender Faktor ist, der klar macht, wer sie sind, wo sie herkommen, wie sie sich abgrenzen. Und msn messenger, weil sie viel chatten.

Die Schule geht bis 15 Uhr, zweimal die Woche ist dann noch after school activity: girl scouts, Fußball, Basketball, Bowling, Zusatzsprachkurse und eben Wandern. Die Schule besteht aus Vorschule, Grundschule, Middle School. Nach zwölf Jahren kann man das International Baccalaureat (IB) machen, einen überall anerkannten Abschluss. Die Schule ist ein Verein, muss sich selbst finanzieren, mit Spenden und Gebühren. Ein Schuljahr kostet 7000 Dollar. Das ist in der Mongolei Geld für ein Leben. Meist übernehmen die Arbeitgeber der Eltern einen großen Teil. Die deutsche [29] Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) beispielsweise zahlt sieben Achtel des Schulgeldes von Mitarbeiterkindern. Es gibt ein Netz der IB-Schulen auf der Welt. Die Idee ist: global nomad-Kinder ziehen um die Welt, deshalb müssen die Schulen alle den exakt gleichen Lehrplan haben. Macht Wechsel leichter.

Die Schule in Ulan Bator beschäftigt 15 Vollzeitlehrer, 15 Halbtagslehrer, dazu mongolische Assistenten und Mitarbeiter. Die Klassen sind klein. Die Schulglocke klingt tief und scheppernd, uralt, wie in einem SchwarzWeiß- Film, der gerade anfängt und ein Horrorfilm sein könnte. Die Gänge in der Schule sind lang und schmal und flach. Im Turnraum ist gerade Sexualkundeunterricht, drei Jungs liegen mit ihren Büchern auf den Matten, der Lehrer sitzt auf einem Stuhl. Sie lesen sich gegenseitig Passagen aus dem Biobuch vor und reden darüber. Sexualkunde? „Naja“, sagt Wenzel auf Englisch, „klingt besser, als es ist“. Der Lehrer ist Amerikaner, also redet Wenzel jetzt mit einem amerikanischen Akzent: Nebenan ist Englischstunde. Sieben Schülerinnen und Schüler, dazu der Lehrer Michael und eine mongolische Assistentin, die nach der Hälfte der Stunde mit einer koreanischen Schülerin rausgeht, Vokabeln üben. Die anderen redden weiter über ein Buch von Arthur Miller. Morgen schreiben sie eine Arbeit. Michael stellt Fragen: Wie würdest Du antworten, wenn Du gefragt wirst… ? Es klingt, als wolle er eine idiotensichere Anleitung geben. Der Unterricht sei individuell, sagt die Rektorin Anne Fowles. Sie sitzt ein Stockwerk weiter unten in einem kleinen Büro und gibt ein Beispiel: Jonas, ein siebenjähriger Deutscher, der vor zwei Jahren hier ankam, bekam erst mal vier Monate lang intensiv Englischunterricht, allein mit einem Lehrer, damit er mithalten konnte. Jetzt spricht er perfekt, das war vorhin deutlich und sehr laut zu hören. Was gelernt wird, ist anders als in Deutschland. Vokabeln werden eigentlich nicht geübt. Sie reden die Sprache ja. Grammatik auch nicht. Alles sei sehr am Leben orientiert, erzählen deutsche Eltern und betonen zufrieden den Unterschied zu Deutschland.

KAUFRAUSCH IN PEKING

Die Horrorschulglocke. Große Pause. Auf dem Schulhof spielen sie Basketball. Marius, 16, entwickelt Ehrgeiz, rennt, springt und ruft Kommandos an die Mitspieler, einige auf Mongolisch. Rebekah und Bat, die zuschauen, finden das witzig. Rebekah ist 16, wird bald 17, Bat gerade erst 15. Bat heißt eigentlich Batbileg. Die Silbe Bat, die in jedem zweiten mongolischen männlichen Namen auftaucht, heißt „Held“. Bat, eigentlich ein Berliner, ist noch fremd und lebt sich mit Hilfe von Marius und Wenzel ein. Und dank Rebekah. Die beiden bubeln herum, raufen, ringen, lachen dabei, es geht darum, sich zu berühren. Michael, der Englischlehrer, sieht es: „Die Jungs und Mädchen sind, finde ich, alle ziemlich naiv. Irgendwie ist es so was wie eine heile Welt. Das kann eine Chance sein. Vielleicht aber auch ein Risiko. “ Wenn die Jugendlichen wieder in ihre Heimatländer gehen beispielsweise, oder wie Tracy bald nach New York.

Rebekah kann nicht sagen, ob sie Schottin oder Kanadierin ist „oder sonst was“. Rebekahs Eltern sind Schotten, aber geboren wurde sie in Kanada, seit zwei Jahren lebt sie in der Mongolei, davor war sie in ein paar afrikanischen Staaten. Tracy ist aus Ghana, ist seit drei Jahren hier, war davor vier Jahre in China, wird jetzt bald in die USA gehen. Auf was sie sich freut? „TV“, sagt sie begeistert. Im Fernsehen hier gibt es russische Sender und mongolische, die russische Filme mit mongolischen Untertiteln zeigen. Chinesische Sender, die fünfmal die Woche denselben Hollywoodfilm mit chinesischen Untertiteln bringen. In der nächsten Woche fünfmal einen deutschen Problemfilm mit Heino Ferch und Martina Gedeck über eine harte Jugend mit Chemotherapie und Alkoholikereltern im Hessischen. Der Film läuft auf Deutsch, dazu gibt es chinesische Untertitel. Fernsehen ist hier nicht so spannend, sagt Elizabetha, 16, eine Tschechin. Hier ist einiges anders: Klamotten sind unwichtig, ein Paar [30] Timberlands, eine Adidas-Sporthose sind zu sehen, aber die Kleidung ist lässig, nicht modisch, ohne Aussage. Allerdings war die Mittelstufe gerade eine Woche lang im, wie soll man sagen, im Landschulheim. Das heißt: die 35 Schüler stiegen in die Transsibirische Eisenbahn, fuhren nach Peking und ergaben sich dem Konsumrausch. CDs, DVDs für einen Dollar, Computerspiele für kaum mehr, Klamotten bei Bennetton, Sportschuhe, alles Sachen, die es hier nicht gibt. Es war ein Rausch, sagt Marius. Im Ischtelgur, so heißt das größte Kaufhaus Ulan Bators, bekomme man den garantiert nicht.

Wichtig sind sleep over. Das heißt, man übernachtet bei Schulkameraden. „Ältere laden auch Jüngere ein, das ist normal, niemand denkt, ihm bricht ein Zacken aus der Krone“, sagt die Mutter von Wenzel. Die Jugendlichen und Kinder müssen einfach „socializen“ . Keine andere Chance. Viele der Kinder haben schon Routine, sind abgehärtet, haben sich oft schnell einleben müssen, viele Freundinnen und Freunde verloren. Mach das zweimal mit, und du wirst keine Schwierigkeiten mit neuen Umgebungen haben, mit Fremde. Beispiel Seong-A Cho, 14 Jahre: Saudi-Arabien, Ägypten, Israel, Mongolei, geboren in SüdKorea. Oder: Martha, 16 Jahre: Libyen, Ungarn, Mongolei, geboren in Polen.

Im Sommer - der Winter ist bitter kalt und unfreundlich, minus 30 Grad sind normal- im 30 Sommer also sind fast 160 Deutsche in Ulan Bator, der Stadt mit 600000 Einwohnern. Da spielt es keine Rolle, ob einer hier ist, um die Welt im Kleinen ein bisschen besser zu machen und den Nomaden beibringt, wie sie Ziegenmilch oder Schafswolle genossenschaftlich vermarkten können. Oder ob er den Mongolen teure Elektrogeräte andrehen will. Man hat keine Alternative und viel mit den anderen der internationalen Gemeinde zu tun, gehört zusammen, weil man in der Mongolei ist. Gibt sich mit Leuten ab, die in der Heimat Fremde wären und bleiben würden.

ULAN BATOR IST OKAY

In der Idylle Probleme zu finden, ist schwer. Nur mit Hilfe der Erwachsenen geht es. Die Jugendlichen sagen drei Tage lang, es sei okay hier, langweilig, Peking sei besser, aber sie fühlten sich wohl. Vielleicht verliere man den Kontakt zur Heimat? Schulterzucken. Heimat hat hier eine andere Bedeutung. Die Mutter von Wenzel erzählt: Vor kurzem war die Familie in Deutschland. Kinder von Freunden kamen ins Gymnasium. „Ich habe einen Schreck bekommen, das deutsche Schulsystem hat ja noch einen guten Ruf, aber“, sie holt Luft,„die hatten genau die Schulbücher, die ich vor fast 30 Jahren hatte. Trotz Rechtschreibreform. In der Klasse waren 35 Schüler. In Deutschland geht es nur um Fakten, Auswendiglernen. Hier ist es besser.“ Sie erschrickt, überwindet sich noch mal: Es habe eine „ungesunde Sparsamkeit, die nicht funktionieren kann auf lange Sicht“ geherrscht. Wenzels Mutter versucht nicht, die Internationale Schule schön zu reden, reitet nicht auf der Pisa-Studie rum, obwohl sie die samt Details kennt. Sie sagt: Die Klassen sind kleiner, die Betreuung individuell, die Stimmung besser. Sie schwärmt von der Lehrerfortbildung: die Lehrer, viele Engländer, Australier, Neuseeländer, aber auch Deutsche, Inder und Mongolen, sind einmal im Jahr zur Weiterbildung, in den USA und England vor allem, ab und zu auch in der Schweiz. Schule sei hier nicht Familienersatz, aber wichtige Familienergänzung, keine Sparmaßnahme wie in Deutschland.

Premiere: Das Theaterstück ist überraschenderweise gut. Sie machen jedes Jahr eines, haben Routine. Danach reden sie über den Trip nach Peking. „Geil“ - „Gigantisch“ - „Kein Vergleich zu hier“. Gefällt es euch hier nicht? Pause, es macht wieder klick, es ist zu spüren, wie sie kollektiv umschalten. Mehrere sagen gleichzeitig: Doch, ist gut hier, ist okay. Die Frage wurde wohl einmal zu oft gestellt. Sie klingen trotzig. Stehen an der Wand, eng aneinander, gehören zusammen. Nicht langweilig hier? Nein, sagen sie. Stehen wie eine Mauer, sind eine Gang in Ulan Bator.