Kunst auf Rädern

Reportage
zuerst erschienen im August 2007 in Monopol, S. 76-85
Fassung des Autors
Chile hat die höchste Künstlerdichte der Welt. Wegen der Pinochet-Diktatur. Man konnte sich, als der Terror wütete, davonmachen und an einer Kunsthochschule studieren, so seine Würde bewahren und sich trotzdem aus allem raushalten. Also gibt es heute nicht genug Käufer für die chilenische Kunst. Weshalb sie einmal im Jahr nach Buenos Aires gefahren wird, zur Kunstmesse. Dort gibt es noch einen Markt. Mit sechs Künstlerinnen und Künstler und ihren Werken über die Anden, um endlich genug Geld für das nächste Jahr zu verdienen. Bericht von einem gescheiterten Trip.

Esteban tanzt in Eloy Guerrero kurz nach Mendoza an der Tankstelle mitten in der Pampa. Noch 850 Kilometer zum Ziel Buenos Aires. An den Zapfsäulen heißt Super nicht Super, sondern Fangio, um den großen Formel-Eins-Weltmeister der 50er Jahre zu ehren. Im Autoradio läuft „Girl from Ipanema“. Esteban Araya Arenas dreht auf. Tanzt. Alles um ihn herum wird unwichtig. Er wirkt cool. Entspannt. Entrückt. Esteban, in genau diesem Moment, ist alles egal, er tanzt einen Tanz, den er im Blut hat. Das ist echt, keine Show. Der 1,65 große, 38 Jahre alte Chilene mit Indio-Vorfahren schwebt, ist weg von allem. „Vamos“, ruft Arianne, seine Frau. Wir fahren weiter. Heute Nacht wollen wir in Buenos Aires sein.

Jaime sieht Kevin Kuranyi ähnlich. Er hat meist seine Wollmütze auf dem Kopf, immer eine Puma-Trainingshose an und spricht, je länger die Reise dauert, immer öfter mit Babystimme. Soll witzig sein. Ist es wohl, aber was am ersten Tag, drei-, viermal passiert, kommt nun zu oft. Auch sagt Jaime Cortés Garrido, 27, Sachen wie „Ich bin ein Kind in dieser Welt.“ Oder: „Ich lerne noch das System kennen.“ Der Kleine ist smart, ahnt die Explosion, die kommen wird. Jaime macht sich vorsorglich klein, sucht Deckung, ist, mit seinem Geblabbel, ein Baby, dem keiner was tun wird. Jaime registriert jede Kleinigkeit. Es ist zu sehen, wie er konzentriert beobachtet und aufsaugt. Er arbeitet bei einer Filmproduktionsfirma in Santiago, Delgado Film. Ein Brotjob, Werbefilme. Bei einem Halt in Argentinien, nimmt er eine dünne grüne Plastiktüte vom Boden. „I like the colour.“ Im Auto auf dem Beifahrersitz spielt er Gitarre, singt von Liebe. Esteban fährt.

Yael Rosenblut, 28, schwarzhaarig, huebsch, zappelig. Als der Ärger sich andeutet, taucht sie in Schlaf ab. Sitzt zwei Drittel der Fahrt im beigen Peugot Xsara hinter dem Beifahrersitz, ihr Kopf ist an die Scheibe gesunken, Augen zu. Sie hat die meisten Ausweichmöglichkeiten: in Buenos Aires lebt sie nicht mit uns im Appartment des schwulen Pärchens, sondern bei einem Freund, mit dem sie Design in Jerusalem studiert hat. Auf der Arte in Buenos Aires hat sie noch eine zweite Galerie, die sie vertritt. Sie wird oft nicht dabei sein. Wird diesen Juli in Miami ausstellen. Drehte am Tag vor der Abfahrt für eine Ausstellung im Juni in Santiago: „Doce mujeres“, zwölf Frauen. Sie bekam Geld für dieses Video von einem Fond.

Es scheint zu laufen bei ihr. Ihre Bilder fallen aus dem Schema von Ariannes Galerie.

Alexandra, 36, ist der Unruheherd. Während wir auf der größten Kunstmesse Südamerikas sind, wird sie daheim auf der andern Seite des Kontinents in Santiago de Chile geschieden werden. Das geht in Abwesenheit. Ihre Stimmung ist übel. Ihr eigentlich hübsches Gesicht sagt, die Welt ist böse und schlecht. Einmal, bei der Suche nach dem Appartment, schreit sie: Ihr alle haltet jetzt einfach die Schnauze. Keiner hatte was gesagt, es hatte verzweifelte Stille im Auto geherrscht, weil das Appartment unauffindbar schien.

Esteban verdreht die Augen, sagt nichts.

Alexandra malt nicht. Vermutlich war sie Hausfrau. Aber fragen geht nicht. Sie redet fünf Tage kein Wort mir mir, nur Blicke voll Hass. Sie ist zu allen hyperaggressiv. Aber mich hasst sie. Zieht sich viel Marihuana rein, bleibt dennoch der Unruheherd. Kurz vor der Abfahrt hat ihr Vater versucht, sie daheim zu halten.

Arianne, 38, ist die Mutter der Nation, die Frau, die „Vamos“ ruft. Sie hat alles organisiert, sie fährt den großen Wagen, den Nissan Pathfinder, in dem alle Bilder sind, mit den zerlegten Holzrahmen auf dem Skigepäckträger. Die Leinwandrollen, die Mappen mit dem Papier, Yaels riesige Videostills unter Glas. Arianne Emmerich trägt die Verwantwortung, sagt, wann es los geht morgens und wo gegessen wird. Ist Malerin und Galeristin. Will alles im Griff haben. Hat sie auch. In Buenos Aires, in der Nacht nach der Ankunft, wird Esteban nachts um vier volltrunken, als er mit Jaime, mir und einem zugelaufenen Engländer unterwegs ist, schreien: Fuck her, she is crazy. Er meint damit Alexandra, Ariannes Schwester. Nach allem, was in Chile und Argentinien passiert ist, meint er mit Alexandra stellvertretend auch Arianne. Ach ja, wenn man es nicht gesagt bekommt, von selbst merkt es keiner: Arianne und Esteban sind verheiratet, haben eine 10-jährige Tochter.

Arianne trägt schwarz, hautenge Hose, Sweatshirt. Und silberne Schuhe.

Die Reise von Santiago de Chile über die Anden nach Buenos Aires ist ein Muss. Jedes Jahr. Die ArteBA ist die wichtige Kunstmesse in Südamerika. 100000 Besucher, hohe Umsätze. Chile ist, klingt komisch, wegen den Folgen der Pinochet-Diktatur, ein Land übervoll von Künstlern.

Kunst war Flucht, weg von der Politik, ohne aber ganz abzutauchen. Höchste Architektendichte der Welt pro Einwohner und die höchste Künstlerdichte. Es gab Zensur, aber man konnte als Künstler Würde bewahren, sich distanzieren, ohne in Gefahr zu kommen. Das war die Ausgangslage, daraus hat sich was entwickelt. Die Kunstakademien waren immer voll, sind es noch. Die Chilenen machen vor allem Konzeptkunst, viel mit Videos, Fotos. Neu, modern, nicht richtig greifbar, ahnbar.

Nur: Es gibt nun zuviele Künstler in Chile. Die haben eine Chance: Argentinien. Der Großraum Buenos Aires allein hat soviel Einwohner wie ganz Chile. Argentinien hat, obwohl eigentlich ärmer, einen Kunstmarkt. Wo Armut ist, ist auch Reichtum. Nun boomt auch noch Argentiniens Wirtschaft wie noch nie in den vergangenen 100 Jahren. Klar: einmal im Jahr zieht der Treck der chilenischen Künstler über die Anden nach Buenos Aires, hoffend, genug Geld für das nächste Jahr zu verdienen. Arianne, auch Galleristin, nicht nur Malerin, nimmt viele Bilder anderer mit, will Prozent verdienen.

Einmal quer durch Südamerika, vom Pazifik zum Atlantik, in zwei vollgerammelten Autos mit geschätzt hundert Bildern. Der Anfang der Reise war in Ordnung. Doch das Ende, es war Krieg.

Es werden Tage des Hasses folgen, Streit um Geld oder besser fehlendes Geld, es geht um Drogen, Kunst, Gruppendynamik, Tragik. Dieser Trip, einer über 4000 Meter hohe Anden-Pässe, dann durch die Weiten. Pause in der Pampa: am Straßenrand, vorne sieht es so aus wie hinten, links so wie rechts. Nur: flach, kein Baum, Himmel, Gras, nichts, 750 Kilometer bis Buenos Aires. Alle sitzen im Peugot, dem kleineren Auto und rauchen Marihuana. Nur Arianne sitzt im anderen Auto und telefoniert. Sie organisiert, organisiert über. Hast Du da nicht vorhin schon angerufen und ihm das gesagt? Ja, schon, sagt sie, aber sicher ist sicher. Sie ist wie eine Mutter, die sich zuviel kümmert. Die anderen bekiffen sich, sie gehört nicht wirklich dazu. Sie sagte anfangs: Wir fahren am Samstag früh los. Am Samstag sagt sie, wir fahren am Sonntag früh los, ganz früh. Wir fahren am Sonntag nachmittags los. Sie telefoniert viel. Sie sieht sich als die Organisatorin. Aber auch als Malerin, als Galeristin, als Businesswoman, als … zu viele Rollen, um eine richtig ausfüllen zu können.

Organisieren ist ein Thema: Dies ist Suedamerika, es läuft hier anders. Vergiss, was Du aus Europa kennst, hier ist Südamerika. Sie sagen es trotzig, denn eigentlich bewundern sie Zuverlässigkeit. Aber sie sind trotzig stolz auf ihr Chaos. Arianne malt Blumen und Äpfel. Perfekte Technik, angeeignet an der Universidad Catolica. Kreischende Farben, perfekte Langeweile. Schön, nur schön, sonst nichts. Öl auf Leinwand. Perfekt, aber nichts eigenes, keine Aussage. Sie hat vor kurzem vier Bilder für je 800 Dollar an ein Krankenhaus in Santiago verkauft. Das bedeutet etwas, denn in der Galerie sind alte Bilder von ihr, völlig andere: grau-weiss, Fotos auf Leinwand verfremdet, übermalt, eigen. In den Bildern kann man einiges finden, Überraschungen. Die neuen Bilder: Blumen, Äpfel, die neuen Sachen schreien sehr laut: Es muss Geld her, wir müssen kommerzieller sein.

Nur vier von Yaels Bildern sind dabei auf dem Weg nach Buenos Aires. Stills aus einem ihrer Videos, in rot getaucht, irritierend. „Es hätte 1000 Dollar gekostet, die Bilder nach Buenos Aires zu fliegen, verrückt“, sagt sie. Also sind sie nun im Pathfinder. Yael macht eigentlich Videos. Kurze Kunstvideos. Am Samstag vor der Abfahrt dreht sie in der alten Hutfabrik das neue. Ihre Idee: Sie nimmt das 1884 von Pedro Lira entstandene Gemälde La Carta und macht daraus ein Video. Sie selbst spielt die porträtierte Frau, der Schriftsteller Antonio Gil, in Chile eine große Nummer, den Maler und das Ganze hat einen Clou. Das Bild fängt quasi an sich zu bewegen und taucht dann in eine Szene, in der das Bild entsteht, auf. Gefriert irgendwann wieder zum Bild. Sehr verwirrend. Im Studio stehen drei Wände, alles ist hell erleuchtet. Ein runder Tisch ist halbiert, steht auf drei Beinen, auf ihm ein halbierter Blumentopf, ein halbierter Kopf Rotkraut, ein halbierter Granatapfel. Zwölf, vierzehn Leute arbeiten mit, ständig kommt wer dazu, ständig geht wer. Yael ist superhippelig. Sie drehen von 10 Uhr bis tief in die Nacht.

Es gibt also zuviele Künstler in Chile. Die ArteBA ist überlebenswichtig. Dort müssen sie verkaufen. Unbedingt. Deshalb die Trecks über die Anden. Am Freitag vor der Abfahrt war wer vom Gesundheitsministerium in Ariannes Gallerie und hat die zerlegten Holzrahmen begutachtet und ein Papier abgestempelt. Sie dürfen nach Argentinien. Am Samstag kam wer vom Nationalmuseum, hat Notizen gemacht. Er hat alle Bilder, die nach Buenos Aires gehen, registriert. Bürokratie im Chaos. Ich habe den Beamten zugeschaut, es war beides Mal wie eine Komikervorstellung. Sie haben sich nicht wohlgefühlt, weil ich zuschaute.

Abfahrt. Am Nachmittag, nach den Spätzle bei den Eltern von Arianne und Alexandra. Nach der ersten Auseinandersetzung. Denn es ist klar geworden: Der Pathfinder, für den ich zahlen soll gehört dem Vater von Arianne und Alexandra, einem netten Doktor, der sich freut, mal wieder deutsch reden zu können, wie sein Pappa damals. Der Deal war: Ich, der Journalist, darf mit fahren über die Anden, dafür muss ich einen Mietwagen bezahlen. OK, das war der Deal. Ich ahne, dass wir in einem Auto der Familie fahren werden, das ich mieten soll. Ich frage den Vater. Der, so sagte er mir, natürlich nie Miete von seinen Töchter nehmen würde. Er sei froh, dass Alexandra aus ihrer persönlichen Hölle rauskäme, freue sich, dass die Kinder nach Buenos Aires kämen.

Die Straßenschilder sagen „Andes, 60 Kilometer.“ Kurze Zeit später, in 4000 Meter Höhe, dennoch in Tälern, links und rechts geht es steil hoch, kein Grün, kein Baum, nur Geröll, Sand, Felsen. Mondlandschaft mit Serpentinen. Wüstenhafte Anmutung. Nichts.

Zwei Autos und sonst nichts.

Das kann rauschhaft werden. Keine vergleichbare Erinnerung ist abrufbar. Ein Hotel am Pass, leer, Skilifte, Metallstangen im steinernen Nichts. Das Hotel sei nicht das aus dem Film Shining, sagt Esteban, aber so was ähnliches.

Weiter hoch, nur noch Geröll, die Muräne eines Gletschers. Plötzlich fängt Jaime an Ennio Moriconnes „Spiel mir das Lied vom Tod“ zu summen. Alle stimmen ein. Perfektes Timing. Gutes Gemeinschaftsgefühl.

Die Grenze ist seltsam. Jaime erklärt das chilenische Ritual, das nun gemeinschaftlich durchgeführt werden muss: alles aufessen. So wollen es die Argentinier. Was essbar ist, darf nicht ins Land, aus Angst vor Seuchen. Die Autos, vierzig, fünfzig, stehen in der Schlange und alle Menschen essen, Schokolade, Obst, Sandwiches. Auch wir: Alles, was in der störenden Pappkiste transportiert wurde, eigentlich zuviel, alles muss weg. Alle grinsen. Dicke Wangen.

Die Grenze besteht aus einem chilenischen Kontrollpunkt, dann folgen vier argentinische. Jeder muss mehrere Formulare ausfüllen. „Wir sind eine Theatergruppe, denkt daran. Nur als Theatergruppe dürfen wir rüber. Nicht als Maler.“ Wirklich? „Ja, ist verrückt, aber so geht es einfacher, dann schauen sie die Bilder nicht an.“ Sagt Arianne, Organisatorin, alles im Griff.

In Argentinien an einer Tankstelle, im Hinterland. Sie akzeptieren keine Kreditkarten, nehmen keine Dollars, keine chilenischen Pesos. Das Geldproblem deutet sich an. Nebenan steht ein Pick-up. Hinten drauf, auf den etwa vier Quadratmetern Ladefläche liegt eine Schrotflinte, doppelläufig, einige lose Patronenkartuschen, ein totes Kaninchen. Bisher habe ich alle Tankfüllungen bezahlt. Und jedesmal das Essen, wenn wir Steaks in den Raststätten gegessen haben. Mein argentinisches Bargeld reicht gerade noch für die beiden Tankfüllungen.

Durch die Pampa, kilometerlang geradeaus ohne ein Grad Abweichung nach links oder rechts. Riesige Weiden, grün, grau, leer. Wenig Kühe. Ab und an reitet wer ein Pferd auf dem Highway. Mehrmals wird der durch riesige Mähdrescher an dem vier, fünf Erntemaschinen hängen, fast blockiert. Ab und zu Felder, Mais, Soya, Weizen. Immer wieder Pick-ups mit drei, vier Leuten auf der Ladefläche, alle eingemümmelt in Schals und Decken, Wollmützen auf dem Kopf. Ganz selten Bäume, meist Espinos. Estaban sagt, dass die so heißen. Zerfallene Häuser am Rand. Meist fehlt das Dach. Die Blechdächer sind der wertvollste Teil, die sind sofort weg. Trotz solcher Kleinigkeiten: 1000 Kilometer Monotonie.

Kurz vor San Luis: Polizeisperre. Esteban hält, lässt die Scheibe runter. Ein Polizist schaut rein, fragt:  „Wohin?“ Buenos Aires. „Wieviele Leute?“ Fünf. Er trägt die Zahl in ein gelbes Formular auf seinem Clipboard ein. „Gut, weiter.“ Nach dreißig Metern Polizeisperre. Das selbe Spiel, exakt die selbe Fragen. Wieder ein Eintrag auf dem Clipboard. „Gut weiter.“ Esteban fährt los, eine Minute, zwei Minuten Ruhe, dann ein Ausbruch, alle lachen. Absurd, crazy, wired sind die einzigen Worte, die fallen.

Ein paar Stunden zuvor, in einer Gegend, die Uspaiata heist, 106 Kilometer vor Mendoza: Strassensperre der Polizei. Ein Tunnel sei eingebrochen, mehrere Tote. Die Umleitung ist eine staubige Piste. Eine, die sich langsam mit hunderten von Kurven die Anden hinunter schlängelt. Es ist Nacht, eigentlich stockdunkel. Aber am Himmel sind massenhaft Sterne, die Sternbilder sind anders als die auf der Nordhalbkugel. Dazu die Glühwürmchen. Es dauert bis klar ist, es sind die Autos, hunderte, ach was, tausende. Nach jeder Serpentine ein Blick nach unten, immer sind da die Lichter der Autos. Drei Stunden lang kommt kein Auto entgegen. Alle fahren nach Osten. Es ist rauschhaft. Drei Stunden glitzert die Nacht.

Pampa und Anden, ein Riesenkontrast. Zuerst nur Felsen und Geröll, kein Grün, Schluchten, Schneegipfel am Horizont, der höchste Berg, Aconcagua, 6000 Meter hoch. An der Straße nur Steine, „looks like Afghanistan to me“, sagt Jaime. Dann die Pampa, flach, fast 1000 Kilometer lang flach. Am Übergang, vor und nach Mendoza Weingüter, Reben auf flacher Ebene. Mendoza, die erste große Stadt hinter der Grenze: abends gehen die Chilenen in ein gutes Restaurant. Es ist eine kultische Handlung, denn man geht hier nicht einfach in ein Restaurant. Man schaut sich fünf, sechs vorher an, spricht mit den Kellnern oder dem Mann am Eingang, fragt, ob es dies oder das gibt, schaut in die Karten. Es ist ein Ritual. Das Essen wird zum Fest: die Finanznot spielt keine Rolle hier, sie müssen nicht so arg auf das Geld schauen wie sonst, es ist wirklich billig hier in Argentinien. Und ich zahle ja. Man sagt Beefe Churisso und bekommt ein 500 Gramm Steak ohne alles. Nur ein ziegelsteingroßer Fleischbrocken. Kostet vier Dollar. Sie sind glücklich, für kurze Zeit reich.

In dem Restaurant in Mendoza ist auch Nicole dabei. Nicole? Sie hat mit Yael Kunst studiert. Arianne und die anderen übernachten bei ihr in Mendoza, nehmen am nächsten Morgen Bilder von ihr mit. Nicole Tijoux malt ähnlich wie Arianne, perfekt, glatt, schön. Swimmingpoolbilder, sehr blau, sehr David Hockney. Du siehst ihre Bilder, das Blau springt dich an, und du denkst: Hab ich doch schon Mal gesehen. Wohl 20, 30 Jahre zu spät. Arianne hat große Hoffnung, Nicoles Bilder verkaufen zu können.

Nicole redet nicht mit mir. Tage später erfahre ich: Eigentlich hätte sie mit ihren Bildern hier ins Auto steigen sollen, weiter bis Buenos Aires. Aber, die Idee war, wir nehmen den Journalisten und den Fotografen und kassieren sie ab. Der Rotwein im Restaurant ist gut. Nach dem Essen ist die Stimmung locker, es könnte reichen für den Rest dieses selbst erlebten Road-Movies. Das ist der dritte Tag, vierzehn sollen noch folgen.

Irgendwann rede ich mit Yael über das mit Nicole. Meine Argumentation: Wenn ich nicht gesagt hätte, ich miete ein Auto, wären die anderen allein gefahren. Du wärst nicht dabei gewesen, Jaime nicht, Nicole nicht. Yael sagt: Sie hätte fliegen können. Jaime wäre nicht mit, er sieht das so als Abenteuer. Nicole hätte sich um was anderes gekümmert. Arianne hätte auf jeden Fall Nicoles Bilder mitgenommen. Macht sie doch jetzt auch, sag ich. Egal, sagt Yael. Du bist der Fremde. Wir schweigen lange. Sie sagt: Alexandra wäre natürlich nicht mit. Und: Ich halte mich da raus, verzeih mir.

„What a wonderful World“ von Satchmo im Radio. Alle singen mit. Die Atmosphäre gleicht der eines Gottesdienstes.

Irgendwoher taucht eine Flasche Wiskey aus Nicaragua auf, Flor de Cana. Sie trinken alle aus Kaffeeplastikbechern. Zu groß für die Cupholder im Peugot. Ständig kippt ein Becher. Der Fotograf ist von da an ständig blau, will unbedingt fahren. Wir lassen ihn nicht mehr, er hängt auf dem Beifahrersitz, sagt vierzig, fünfzig Mal mit Pausen dazwischen „Easy!“

Marihuana-Pause: Alle sitzen wegen des Windes im Peugeot. Arianne bleibt im Pathfinder, telefoniert, organisiert. Erzählt mir von ihrer Schwester, die eine schwere Zeit durchmache.

Nächste Marihuana-Pause: Jaime kichert, holt eine Leinwandrolle aus dem Pathfinder. Rollt sie auf. Eines von Natalia Babarovics Landschaftsbildern auf Leinen. „Just look“, sagt Jaime. Es dauert zehn Minuten, die Leinwand wieder aufzurollen, bei jedem Versuch gibt es Falten. Der Fotograf kippt um. Weint.

In den wenigen Orte am Highway sind immer Hunde auf der Strasse, zerrupfte, geschundene Köter, die sich ganz langsam bewegen.

Etwa eine halbe Stunde beschäftigen sich im Peugeot alle damit „Cool Man“ oder „Easy, man, easy“ zu sagen, jeder zu jedem. Klingt lustig, ist aber Krisenzeichen. Im Pathfinder sitzen Arianne und Alexandra.

Spät nachts in Buenos Aires, es dauert, bis wir das Haus finden. Viejo Palermo, eine spannende Gegend, viele kleine Geschäfte, viele Restaurants, sehr viele Cafes. Das Appartment ist drei Meter breit, viereinhalb Meter tief, hat sechs Schlafplätze auf drei Stockwerken, ein viertes Stockwerk mit einem kleinen Wohnzimmer, eine Terrasse auf dem Dach. Es ist überdesigned, Betonwände, unverputztes Gemäuer, eine Metallwendeltreppe, die Wohnung ist eine Designorgie. Die beiden Vermieter sagen nie Appartment, immer nur Loft. Sagt wer Appartment, verbessern sie: „No, no, not Appartment, it is loft.“

Alexandra und Arianne haben anfangs gesagt „Geht ihr essen, wir machen das mit der Miete“. Nach den Erfahrungen mit dem Auto bleibe ich. Alexandra sagt noch dreimal: „Wir machen das, geh Du!“ Und: „Komm, verschwinde!“

Die Vermieter sind irritiert. Mietvertrag, Geldübergabe, und wie ich befürchtet habe, sie hatten wieder geplant, mir mehr Geld abzunehmen für die Miete. Verhalten sich genauso wie die Kellner in den Restaurants. Nach der Rechnung gefragt, sagen sie 39 Pesos. Eine Rechnung bitte. „39 Pesos“. Eine Rechnung. Der Kellner schreibt 39 Pesos auf die Serviette. Das ist keine Rechnung. Er geht, holt sie, 22 Pesos. Steht da, tut, als sei nichts. Stolz. Genauso verhalten sich Arianne und Alexandra. Noch habe ich das Auto nicht bezahlt, das Pappa ihnen geliehen hat. Nur Benzin und das Essen.

Als klar war, dass sie zur Arte fahren, für Arianne ist es das sechste Mal, hat sie gemailt: „Wir brauchen, wenn Du und ein Fotograf dabei sind, einen zweiten Wagen. Du musst einen mieten. Kostet 1390 Dollar. Nur dann geht es.“ OK. In Santiago übernimmt Alexandra, „Wir haben das Auto schon gemietet, gib mir 1390 Dollar.“ Kann ich den Vertrag haben? „Nein, gibt es nicht.“ Nach einer halben Stunde stellt sich raus: Es ist ein privates Auto. Aber der Preis, das sei der, den eine Vermietung verlange. „Erkundige dich“, sagt Alexandra. Ich will was schriftliches vom Besitzer. Ich weiß, der Besitzer ist der Vater von Arianne und Alexandra, und er will keine Miete. Keine Quittung möglich für das Geld, das Arianne von mir will.

Alexandra sagte noch in Santiago, ganz am Anfang, um Stolz bemüht: „Das hier ist Südamerika. Da must du dich drauf einstellen.“ Am nächsten Morgen im Haus der Eltern vor dem Sauerbraten mit Spätzle, ist wieder Auto und Geld Thema in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock. In Alexandras Kinderzimmer. Wir streiten um Geld, finden einen Kompromiss.

Alexandra, die einzige, die als Touristin, nicht als Künstlerin mitreist, sagt auf spanisch: Arschloch.

Jetzt Buenos Aires, die ArteBA in zwei Messehallen, die so aussehen, wie man sich Messehallen vorstellt. Die Decke ist soweit weg wie der Himmel. Die Stände sind durchnumeriert. 174. Meist chilenische. Zwei, drei brasilianische. Sie schrauben die Rahmen zusammen, tackern die Leinwände fest, sind in Hektik, langen richtig hin. Jeder kennt jeden. Yael flieht. Jaime rennt manchmal, wenn er was aus dem Auto holt. Die Stimmung scheint gut. Es gibt viele Bilder im Stil Ariannes oder Nicoles, überschöne, nichtssagende, verkaufbare. Zahnarztpraxen-Bilder zu hunderten. Es gibt Videosachen. Es gibt ab und zu was Spannendes. Der Fotograf taucht nicht auf.

Morgens im Appartment, am dritten Tag in Buenos Aires: Alexandra, Arianne am Tisch. Jaime und Esteban auf der Couch. Das Gespräch wird auf deutsch geführt, die Schwester sprechen das perfekt, Jaime und Esteban kein Wort. „Wir brauchen Geld“, sagt Arianne, „Wir müssen heute den Stand auf der Arte bezahlen.“

Alexandra: „Gib uns Geld.“

Quittung, Beleg, irgendwas Schrifliches?

Alexandra: „Du wiederholst dich, wir haben dich verstanden. Gib uns das vereinbarte Geld, jetzt, sofort.“

Ich wiederhole: „Beleg?“

Arianne fängt an zu organisieren. „In Santiago, wenn wir zurück sind, bekommst du einen Beleg.“ So lange will ich nicht bleiben.

Der Fotograf ist gestern abgehauen, sagte: Pass gut auf. Du must ein Held sein, um da durchzukommen. Alexandra sagt, sie will dich tot sehen.

Im Appartment stocken die Verhandlungen. Arianne: „Nimm die Rechnung für das Appartment ganz, dann machst Du noch was gut.“ Arianne, was hättet ihr gemacht, wenn der Fotograf und ich nicht dabei gewesen wären? „Wir wären mit einem Auto gefahren und hätten in Mendoza noch Nicole mitgenommen.“ Unmöglich, die Bilder hätten nicht in den Citroen gepasst. Die Rahmen auch nicht. „Dann wär ich geflogen, Yael vielleicht auch.“

Immer wieder hat Arianne erzählt, dass es zu viele Künstler in Chile gebe, viel zu viele. Man müsse sich durchkämpfen. Die ArteBA sei wichtig, überlebenswichtig.

Alexandra sagt: „Gib uns das Geld.“ 1000 argentinische Pesos, mehr als 300 Dollar, reicht das für die Standmiete? Als Abschied, ich kann hier nicht noch zehn Tage bleiben und mit zurückfahren. 1000 Pesos scheinen zu reichen für die Arte. Ich geb sie Arianne, stelle meine Tasche bei dem Ehepaar nebenan unter, das sich wundert, weil seit drei Tagen die Milch morgens nicht mehr vor der Tür steht. Arianne hat immer das Frühstück gemacht, sie organsiert alles.

Ich ziehe los, ein Hotel suchen. Arianne sagt, „Du musst das verstehen.“ Jaime quiekt wie ein Baby: „It is about survival.“ Esteban hat in der Nacht zuvor um 4 Uhr im Suff geschrien: „She is psycho, fuck her”, damit Alexandra und indirekt wohl Arianne gemeint. Er hat mich später geweckt und gesagt: „Junge, sei ein Mann, lass Dir nichts gefallen“.

Jetzt aber sagt er: Geh! Du passt nicht nach Südamerika. Auf der Straße rennt er mir hinterher, umarmt mich, sagt, ich müsse verstehen, es gebe so verdammt viele Künstler.