Tour de Süsse

Reportage
zuerst erschienen im Sommer 2008 in Dummy 19 (Thema: Schweiz), S. 80 bis 88.

Schlechte Zeiten. Nacht an der Grenze. Der Wagen, ein Apollo, dunkel, Baujahr 1910, stoppt, als er deutschen Boden erreicht. Das Auto hat laut Angaben des Herstellers, der Firma A. Ruppe & Sohn in Apolda, die Höchstgeschwindigkeit von 40 Stundenkilometern. Der Fahrer gibt im Leerlauf Gas. Zu der Zeit ist das noch ein seltenes, drohendes Geräusch. Er löscht die Lichter, Scheinwerfer kann man damals noch nicht sagen. Legt den Gang ein. Der Showdown beginnt. Das Auto rast über die Rheinbrücke in Konstanz am frühen Morgen des 21. November 1912. Einer ihrer Spitzel in Zürich hat die Polizei fernmündlich informiert, drei bewaffnete Schutzleute sind am nördlichen Ende der Brücke postiert. Ein vierter, er hat beim Losen verloren, schiebt den zweirädrigen Handkarren voller Bretter über die Brücke, um zu sperren. Es leuchten nur die Petroleumlampen der Polizei. Da gehen die Auto-Lichter wieder an.

Der Beifahrer und der Mann auf dem Rücksitz des Apollo feuern. Mit großkalibrigen Revolvern. Bumm, das Auto rammt den Karren. Der Schutzmann wirft sich zu Boden, hört Holz brechen und durch die Gegend fliegen, der Karren kreiselt. Der Polizist kriegt Bretter an Körper und Kopf, Splitter in Stirn und Wange. Die drei Polizisten am Ende der Brücke erwiedern das Feuer, treffen den fliehenden Wagen jedoch nicht. Der verschwindet auf der deutschen Rheinseite Richtung Radolfzell. Klarer Fall mal wieder: Saccharin-Schmuggler.

Kontrollen auf der Rheinbrücke finden seit Monaten zusätzlich zu denen am Zoll statt, weil die Schweizer Grenzer nichts gegen Saccharin-Schmuggler machen und die deutschen einfach nicht mehr können: der weiße Stoff überschwemmt das Reich. Ist ja auch ein Riesengeschäft. Was heute Kokain, damals war es Saccharin. Das Reich hat, wie alle europäischen Staaten, den künstlichen Süßstoff verboten, um die eigene Rüben verarbeitende und Steuer zahlende Zucker-Industrie zu schützen. Die, da sind sich die Historiker einig, war Schrittmacher der deutschen Industrialisierung. Der Anfang von allem. Und sie war stark. Mit den Verbänden der Rübenbauern, voran die 1841 gegründete „Erste Generalversammlung deutscher Runkelrübenfabrikanten“, hat sie klar gemacht: wir zahlen viel Steuern, damit das Reich eine Flotte bauen und stolz gegen England blicken kann, wir wollen kein Saccharin in Deutschland. Nirgendwo sonst war der Widerstand gegen die deutsche Erfindung Saccharin so hart wie eben in Deutschland. Doch überall sonst in Europa gibt es Saccharin-Gesetze, keine Regierung will die Zuckerindustrie gefährden. Ausnahme Holland, das ein schlappes Saccharingesetz hat, eines, das man hätte lassen können. Und: das Schokoladenland Schweiz.

Die Eidgenossen haben gar kein Saccharin-Gesetz, eine „liberale Süßstoffpolitik“, so die Deutsche Apothekerzeitung. Liberal ist damals eher ein Schimpfwort. In der Schweiz gibt es nichts, was Süßstoffbesitz oder Süßstoffherstellung bestraft. Der Hintergrund: Schokolade. Von draußen kommt, damit die hergestellt werden kann, viel Rüben- und Rohrzucker. Doch die Regierung in Zürich verdient nicht viel am Zuckerimport, sie kann den Zoll nicht anheben, ohne Schokoladenhersteller zu gefährden. Zucker ist also billig. Und der Staat verliert wenig, wenn die armen Leute noch billigeres Saccharin statt Zucker kaufen. Dazu kommt: die Schweiz hat eine junge, wachsende chemische Industrie, die sich auf Saccharin stürzt. Allen voran Sandoz und Ciba nutzen es, um Umsatz, Gewinn, Wachstum zu machen.

11. September 1913. Die Neue Züricher Zeitung meldet: vor kurzem, als aufgefallen war, dass so viele Schweizer in Deutschland beerdigt werden, haben die deutschen Grenzer einen Leichenzug in Basel angehalten. An den vier Tagen zuvor hatten sie sieben Züge passieren lassen. Nun öffnen sie den Sarg. Er ist voll weißen Pulvers. Alle Sargträger und neun Begleiterinnen und Begleiter haben fast nochmal soviel, wie im Sarg ist, in ihre Kleider eingenäht. Mehrere Zentner gleich mehrere tausend Reichsmark, aus denen man auf dem Schwarzmarkt zehntausende und wenn man, was meist passiert, das Zeug streckt, hunderttausende hätte machen können. Noch mehr, wenn man den Stoff nach Böhmen, Polen, Russland verschoben hätte. Es gilt die Faustregel, je ärmer ein Land, desto mehr wird für Saccharin bezahlt, das höchstens ein Sechstel von Zucker kostet. Aber 700 mal süßer ist.

Die österreichischen Zöllner brauchen Jahre zu erkennen, warum plötzlich Kerzen ins Land kommen: in Wachs kann man Saccharin eingießen und leicht herauslösen. Eine Bande lässt jahrelang Kerzen in Einsiedeln im Kanton Schwyz, wichtigster Wallfahrtsort der Schweiz, weihen. Das erhöht die Hemmschwelle der Zöllner, bevor die gekennzeichneten Kerzen via Deutschland nach Österreich, wo am meisten für Saccharin gezahlt wird, transportiert werden. Andere Wege melden deutsche Behörden den Schweizer Zöllnern: Flüssiges Saccharin sei in Champagnerflaschen. Pulver in Fahrradreifen. Lastwagen mit doppelten Böden. Die Post aus der Schweiz sei voll Saccharin. Briefe, Pakete, alles voll Pulver oder Tabletten. Das Zeug ist in kleinen Mengen wertvoll, kann en bloc, als Pulver, als Tablette leicht versteckt werden. Man kann es einfärben, also tarnen. Die deutsche Apotheker-Zeitung meldet Dezember 1907: „Kaum eine andere Art des Schmuggels dürfte einerseits so hohen Gewinn versprechen, andererseits so schwer zu verhindern sein, wie der Saccharinschmuggel.“ Der Stoff ist leicht. Perfekt zu schmuggeln. Billig in der Schweiz, überall sonst wertvoll.

Franz Weiboltshamer war der Lehrer in Bischofsreut im Bayerischen Wald. Kann sich noch erinnern, wie, gerade war er als Bürgermeister des Dorfes ins Amt gekommen, „es muss also so 1960 bis 1970 gewesen sein, wie die Kapelle für den Saccharinheiligen Johannes von Nepomuk“ gebaut und geweiht wurde. Weiboltshamer kennt die Vorgeschichte. Wie jeder im Dorf. Eltern oder Großeltern waren Schmuggler. 1873 bekam Bischofsreut eine Steinkirche. Der Bischof von Passau gab den Dörflern dafür dreizehn Heiligenfiguren als Leihgabe. Als sie zurückgegeben wurden, fehlte der Nepomuk. 1729 hatte ihn Papst Benedikt XIII. heilig gesprochen, weil der Priester sich 1393 geweigert hatte, Böhmens König Wenzel IV. preiszugeben, was dessen Gattin gebeichtet hatte. So die Legende. Könnte auch sein, dass Nepomuk während des Kirchenschismas als Vikar des Bischofs von Prag auf der Verliererseite stand. König Wenzel jedenfalls ließ ihn foltern und in der Moldau ertränken.

Die lebensgroße Figur aus Holz, in Bischofsreut untergetaucht, ähnelt der, die Johann Broksoff 1683 aus Stein schuf, die noch heute in Prag die Karlsbrücke ziert. Nepomuk ist Schutzpatron der Böhmen und Bayern, der Brücken und des Beichtgeheimnisses. Und im Bayerischen Wald der der Saccharinschmuggler. Die Bischofsreuter höhlen die Statue aus. „Da kann man schon ein paar Kilo reinstecken, das Zeug ist ja leicht“, so Weiboltshamer. Es folgt die Zeit der vielen Bittgänge zwischen Bischofsreut und Böhmisch Röhren in Österreich-Ungarn, heute Tschechien. Die Bischofsreuter tragen die mit aus der Schweiz geholten Saccharin gefüllte Statue vierzehntägig nach Böhmen. Im Wechsel kommen die Böhmer, ohne Statue, nach Bischofsreut.

Als die Saccharinschmuggelzeit 1916 vorbei ist, lagert der Nepomuk bei einem Bauern auf dem Scheunenboden. Bis in den sechziger Jahren die Kapelle errichtet wird, und der Bauer die Statue stiftet. Der 16. Mai ist Nepomuk-Tag, der, an dem in Bischofsreut eine Messe für ihn gehalten wird. Er oder besser seine lebensgroße Holzfigur hat ja geholfen, das Dorf fast reich durch eigentlich schlechte Zeiten zu bringen. „Pfürr di Gott“, verabschiedet sich Weiboltshamer, nachdem er erzählt hat: Es habe kein Unrechtsbewusstsein gegeben bei den alten Bischofreutern. Überhaupt fehlt das damals: an der deutsch-schweizer Grenze gelten Saccharin-Schmuggler als Wiedergänger Robin Hoods, als kleine Leute, die sich gegen die Süßstoffpolitik wehren. Die ja das arme Volk schädigt. Die da oben, wir da unten, das schwingt beim Thema Saccharin immer mit. Wer erwischt wird, gilt als Märtyrer. Die Pharmaceutische Zeitung zu Berlin meldet 1914, dass selbst Rübenbauern Kunstzucker nutzen. In „Der Saccharinschmuggler“, Eduard Redelsperger-Gerigs Erfolgs-Kolportageroman von 1913, ist der Held, trotz seiner Verbrechen, ein Guter.

Weil Süßstoff verboten ist, kann die Zuckerindustrie die Preise hochtreiben. Als das Süßstoff-Verbot, das sich die Industrie und die Rübenbauern erlobbyten, 1903 gilt, steigt der Zuckerpreis letztmals in Deutschland an, um 28 Prozent. Der Zuckerpreis gilt in der Zivilisationstheorie der empirischen Geschichtswissenschaft als Indikator für den Fortschritt einer Gesellschaft. Je billiger, desto entwickelter. In Folge der Industrialisierung war im deutschen Reich der Zuckerpreis jahrzehntelang gefallen. Zucker ist nicht mehr nur für die Ober-, nein, jetzt auch für die Mittelschicht Normalität. Nur die ganz Armen können sich keinen leisten. Es kommt das Saccharinverbot, der Zuckerpreis steigt wieder. Nein, die Kleinen Leute haben kein schlechtes Gewissen, mag Saccharin noch so illegal sein.

Was in der Nacht auf der Rheinbrücke in Konstanz passiert, ist ein Höhepunkt. Erstmals ist geschossen worden. Die Polizisten melden den Durchbruch ins Präsidium, von dort geht die Nachricht telegrafisch weiter nach Freiburg im Breisgau, wo das Deutsche Reich seit Mai 1911 ein „Zentralamt für die Verfolgung des Verkehrs mit künstlichen Süßstoffen“ eingerichtet hat. Dazu gibt es in Freiburg eine der „Amtlichen Nachrichtenstellen für den illegalen Süßstoffverkehr“, die dem Reichschatzamt unterstehen, also sowas wie das FBI sind. Die deutschen Teilstaaten Preußen, Bayern, Sachsen und Baden wollen mit der kaiserlich-königlichen Monarchie Österreich-Ungarn noch eine „Internationale Konferenz zur Verhinderung des Saccharinschmuggels“ gründen, eine Art, weil die K.u.K-Monarchie dabei ist, Spezial-Interpol. Daraus wird nichts, die Österreicher kneifen.

Nur Russland geht ähnlich hart wie das Reich gegen Saccharin vor. Dr. Raschkowitz aus Sankt Petersburg bittet den Schweizer Wirtschaftsminister Lardy 1909 zum Geheim-Treffen nach Brüssel. Teilt mit, der russische Staat würde Saccharin-Fabriken viel zahlen, falls sie die Produktion einstellen. Lardy lässt den russischen Geheimen abblitzen. Bei den Saccharin-Konferenzen in Paris 1909 und 1913 steht die offizielle Schweiz vor ihrer Saccharin-Industrie. Völlig isoliert. Verteidigt mit Zähnen und Klauen. Lardy hat bei den Gesprächen Werner Stauffacher, Direktor von Sandoz, neben sich.

Die Konferenzen bringen Regelungen, Absprachen, Vereinbarungen. Für Historiker gelten sie als erste supranationalen Vereinbarungen, die das Wettbewerbsrecht betreffen, also sowas wie ein Saatkorn der Europäischen Union. Doch der Süßstoff-Krieg tobt weiter. Der Saccharin-Nachrichtendienst und das Sonderdezernat in Freiburg im Breisgau liefert der Schweizer Polizei ständig Akten, Namenslisten: mehr als 1000 Menschen allein in Zürich leben vom Saccharin-Schmuggel nur nach Deutschland. Sind nichts anderes als Dealer. Dazu kommen viele Nebenberufler. Zürich ist sowas wie ein Vorläufer von Medellin. Die Schweizer Polizei kontrolliert manchmal diese Leute. Aber sie macht nichts, wenn wer mit Koffern voll Pulver in Züge steigt, die Schweiz ist ja ein Rechtstaat. Das Reservoir ist groß: in den ärmeren Gegenden Zürichs stehen zwielichte Gestalten auf der Straße, sprechen Frauen an. Meist solche mit kleinen Kindern, die werden weniger kontrolliert an der Grenze.

So wie die Schweizer Regierung mit ihren geringen Zuckerzöllen die Schokoladenindustrie fördert, hilft sie den Chemiefirmen. Sandoz und Ciba, das steht für Gesellschaft für Chemische Industrie Basel, die gerade entstehenden und rasch wachsenden Chemiefirmen. Die produzieren zuallererst mal Saccharin. Neben den beiden noch die Basler Chemische Fabrik, die wird später von der Ciba geschluckt und die Brugg AG. Dazu kommen die Heuschrecken, Firmen aus England, Frankreich und Deutschland, die, als dort die Saccharin-Herstellung kriminalisiert wird, in der Schweiz Fabriken eröffnen, Know-How ins Land bringen. Die englische Chemicals & Saccharin Ltd. produziert in Vernier bei Genf. Die Société Chimique des Usines du Rhône verlegt ihre Herstellung von Lyon nach La Plainer bei Genf. Die Chemische Fabrik von Heyden zieht von Dresden nach Nidau, Kanton Bern. Die Schweiz produziert für die Welt Uhren, Schokolade, nun auch Saccharin. 34 Prozent des Exports der chemischen Industrie der Schweiz ist Saccharin, der größte Brocken.

Saccharin ist nicht nur Zuckerersatz. Es wird galvanischen Bädern beigegeben, macht die vor Rost schützende Nickelschicht glänzend und elastisch. Leim, Ethanol, Polyester wird Saccharin beigemischt. Später ist es für die Herstellung von Penicillin wichtig. Die Tabakindustrie braucht es, um Zigarettenpapier eine besondere Note zu geben. Die Mäuse- und Rattengiftindustrie will Süßstoff, weil Tiere Süßes mögen und Saccharin nunmal billiger ist. Im Reich gibt es noch eine Fabrik, die es herstellen darf: die Saccharinfabrik AG, vormals Fahlberg, List und Co., groß, nicht ausgelastet, in Magdeburg. Sie hat dem Entdecker des Saccharins gehört, Dr. Constantin Fahlberg.

Als Inspizient auf Zuckerrohrplantagen in Westindien war Fahlberg vom amerikanischen Zuckerimporteur Perot in Baltimore angeheuert worden, vor New Yorker Gerichten für sie Gutachten vorzulegen. Um die zu unterfüttern, forschte der Zuckerchemiker, ausgebildet am Institut der deutschen Zuckerindustrie in Berlin, also beim späteren Feind, an der John-Hopkins-Universität im Labor. Zufällig entdeckt er 1878 Benzoesäuresulfamid. Saccharin. Anfangs sieht er den Schatz im Röhrchen nicht, erst 1884 meldet er ein Patent an. Mit seinem Onkel Adolph List, einem Fabrikanten in Leipzig, bis dahin Lieferant der Zuckerindustrie, gründet er Fahlberg, List und Co.

1887 kommt Saccharin auf den Markt. Die Zuckerindustrie belächelt die Konkurrenz. Ein Siegeszug. Zu spät lassen die Rübenleute an allen Bahnhöfen das Plakat „Zucker giebt Kraft“ aufhängen, an Volksschulen Broschüren pro Zucker anti Saccharin verteilen. Der Süßstoff wird Zucker der Armen und Quell von Reichtum: Fahlberg hat Landhäuser, Villen mit großen Gewächshäusern, Araberschimmel, eine 3000-Hektar-Jagd, alle Insignien des Luxus, die das Ego des auf Gruppenfotos immer mit Abstand kleinstem Chemikers stärken. Erste Großkunden sind norddeutsche Brauereien. Im Gegensatz zu süddeutschen gilt für sie kein Reinheitgebot, sie mischen Saccharin anstelle des bisher genutzten, teureren Rübenzuckers obergärigem Bier bei. 900 von ihnen fordern vor Inkrafttreten des Saccharinverbots eine Ausnahmeregel. Die Politik verweigert die, und ab 1906 gilt das Reinheitsgebot für Bier in ganz Deutschland. Den Konkurrenten, der größte ist die Firma von Heyden, die später in die Schweiz geht, aber auch dem Dutzend anderen bleibt Fahlberg voraus. Als 1903 das Saccharin-Verbot kommt, hat die Saccharinfabrik AG die einzige Ausnahmegenehmigung, beliefert Rattengift-Hersteller und Apotheken, die Diabetiker versorgen, produziert für die wenigen Auslandsmärkte ohne Verbote.

Doch das einst große Saccharin-Business im Reich ist tot. Nur die Badische Anilin- und Sodafabrik und Hoechst verdienen, sie liefern das Vorprodukt, Toluol, einen Abfallstoff der Teerherstellung, in die Schweiz. „Theersüß“ hat die Zuckerindustrie Saccharin beschimpfen lassen von bezahlten Schreibern. Als klar wird, was die Schweizer verdienen, baut die BASF eine eigene Saccharin-Fabrik in Meppel, nördlich von Zwolle in Holland. Lässt aber eine leere Halle stehen, weil sich die in der Schweiz ansässigen Hersteller zu einem Kartell zusammentun, ankündigen, kein Toluol mehr von der BASF zu kaufen, sollte die selbst Saccharin verkaufen. Eine zweite, von deutschen Investoren im holländischen Naarden gebaute Fabrik kauft das Kartell auf. Lässt sie verrotten.

Saccharin als Big Business gibt es nur in der Schweiz. Dahin liefern die BASF und Hoechst viel Toluol. Das wird zu immer mehr Saccharin. Die Hälfte des Zeugs verlässt das Land der Eidgenossen legal, es gibt Länder, da kann man noch verkaufen, nur nicht produzieren. Die USA braucht viel, hat aber noch nicht das Know-How zum produzieren. Japan ebenso, da ist Saccharin ein Luxusgut, ein Riesengeschäft. Die andere Hälfte des weißen Golds wird geschmuggelt. 17 Handelsfirmen für Saccharin sind in Zürich allein gemeldet.

Doch die Schweizer Zöllner werden schließlich bissiger, weil die deutschen anfangen, jeden Zug fast zu zerlegen, jeden penibel zu durchsuchen, sie bringen den Fahrplan durcheinander. So hat Christoph Maria Merki bei den Recherchen für sein Buch „Zucker gegen Saccharin“ schriftliche Niederschriften einer sogenannten „Verbalnote des Deutschen Reiches“ in den Archiven entdeckt, die mit allgemeinen Verschärfungen der Grenzkontrollen droht, worunter „auch die anderen Schweizer Industrien zu leiden“ hätten. Die Schweizer stehen da wie ein Volk der Verbrecher. Also fangen sie an zu kooperieren. Der Saccharinpreis auf dem schwarzen Markt steigt. Wie die Zuckerindustrie es will.

Ein Teufelskreis: je teurer Saccharin, desto rentabler der Schmuggel. Korruption greift um sich, vor allem in Österreich-Ungarn: dessen Zuckerrübenverbände bieten Zöllnern Prämien, damit die sich nicht von Saccharin-Schmugglern bestechen lassen. Merki belegt mit Protokollen, dass der Zentralverein der österreichisch-ungarischen Zuckerindustrie im September 1909 „dem Oberkommissär J. Kozler in Nachod und den Organen der dortigen Finanzwache für ihre ebenso nutzvolle als erfolgreiche Wirksamkeit … eine größere Geldprämie“ überwies. Auch, dass die deutsche Zuckerindustrie ab 1912 wiederholt vierstellige Beträge, 1000 Reichmark sind viel Geld, bereit stellt für „Beamte und Privatpersonen, die sich um die Aufdeckung von Saccharinschmuggel verdient gemacht haben“. Das Problem, damals neu, scheint unlösbar: wird Saccharin knapp, wird es teurer, also besser als Schmuggelware. Wird es billiger, kommt auch mehr.

Der Erste Weltkrieg ändert alles: plötzlich wird Zucker selten. Die für die Raffinierung nötige Kohle braucht die Kriegsindustrie. Auf Rübenfeldern wird Getreide und Kartoffeln angebaut, die Zuckergewinnung des Reiches sinkt in einem Jahr um 40 Prozent. Doch deutsche Soldaten sollen Zucker im Marschgepäck haben. Schon 1899 geruhten ihre Majestät, der Kaiser mitteilen zu lassen, „dass die Erfahrungen mit dem Zuckerverzehr bisher sehr gute seien, falls er sich weiter bewähre, würden Allerhöchst ihn für die ganze Armee befehlen.“ Zucker liefert Energie. Süßstoff nicht.

Saccharin, ganz plötzlich, ist erlaubt, wird in Deutschland wieder hergestellt, die Firma von Heyden zieht wieder heim. Dennoch bleibt Saccharin rar, denn für die Produktion wird Schwefelsäure und Amoniak benötigt. Beides wird zuallererst mal der Kriegsindustrie zugeteilt. Genauso Toluol, das ist unerlässlich für die TNT-Herstellung. Sprengstoff statt Saccharin. Nun kommt, auf Empfehlung der Kriegschemikalien GmbH, gegründet, um kriegswichtige Güter zu verteilen, Dulcin zu Erfolg. Ein Derivat des Kohlenwasserstoffs Phenol, 1884 vom deutschen Chemiker Josef Berlinblau entdeckt. Hat Saccharin nie Konkurrenz machen können, weil Katzen, Hunde, Affen tödliche Lähmungen bekommen, wenn sie drei Gramm in fünf Liter Wasser zu sich nehmen, so das Kaiserliche Gesundheitsamt. In fünf Gefangenenlagern wird Ducol an russischen Soldaten getestet. Keiner stirbt.

Also wird Dulcin der neue Süßstoff des Reiches. Auf dem Etikett steht, man soll höchstens 0,3 Gramm pro Tag zu sich nehmen. Im Frühjahr 1918 sterben zwei sechsjährige Jungs, die in eine Limonadenfabrik in Berlin einsteigen und viel süßes Dulcin löffeln. Auf den Packungen steht in der Folge: „Der Süßstoff darf nur in der erforderlichen Menge gebraucht werden. In größeren Mengen, für sich genossen, kann er schädlich wirken“. Saccharin ist zwar legal, aber selten in Deutschland. Dennoch finden sich kaum noch Hinweise auf Schmuggel aus der Schweiz. Gründe sind wohl: in den USA steigen im Ersten Weltkrieg die Saccharin-Preise von 1,5 Dollar auf 40 Dollar pro englischem Pfund. Klar, wohin die Schweizer exportieren. In Italien bleibt Saccharin länger illegal und teurer als in Deutschland. Die Schmuggler arbeiten nun in der Südschweiz.

Nach dem Krieg wird Zucker billig und nie mehr teuer. Süßstoffe dümpeln, zu Saccharin kommen neue wie Aspartam, Cyclamat, Acesulfam-K. Dulcin wird verboten. Kaum noch Gewinnmargen. Auch als die Abspeckwelle den Konsum der Wohlstandsgesellschaften ändert, Zucker verpönt ist, bleibt Kunstzucker billig. Die Schweizer Chemie- und Pharmaindustrie, inzwischen groß, kann alles. Süßstoff, ihr Grundbaustein, ist nun nur noch Kleinkram.

Die Geschichte der Stadt Konstanz berichtet, dass die Schmuggler, die am Morgen des 21. November 1912 die Sperre auf der Rheinbrücke durchbrachen, noch an dem Tag mit Saccharin und Revolvern gestellt wurden. Sie haben zwischen Allensbach und Kaltbrunn einen Platten. Leisten keinen Widerstand.