Das Domino-Prinzip
Dies ist eine Erfolgsgeschichte, und sie beginnt 1982 im Kiez, in einer Kreuzberger Kneipe: Vier Männer - ein Soziologe, zwei Psychologen, ein Ingenieur - sitzen erst am Tresen und später dann an einem Holztisch in der Ecke hinten links. Ein Bier kostet 1,70 D-Mark.
Sie überlegen, wie sie sich selbst aus ihrer beruflichen Misere befreien können.
„Ich war der erste arbeitslose Psychologe in Berlin“, erinnert sich Lutz Karnauchow, heute Vorstand von Domino-World e. V., „Studium fertig, und plötzlich gab es keine Jobs mehr.“ Der Arbeitsmarkt ist Anfang der 80er schwierig, selbst für Akademiker, alte Selbstverständlichkeiten gelten nicht mehr. Auch die drei anderen haben nichts. „Also starteten wir eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.
Eine private, denn so was gab es damals ja noch nicht vom Arbeitsamt.“ Die vier gehen zum Jugendamt Spandau, bieten sich als Familienhelfer an. Und werden, nachdem sich das erste Staunen der Beamten gelegt hat, Honorarkräfte. „Für 16 D-Mark die Stunde brutto, keinerlei Sozialversicherung.“ Das Amt schickt sie in die Hochhausblöcke der Siemensstadt, ein kritisches Viertel. „Dort machten wir Jugendarbeit.“ Karnauchow bringt harten Jungs Blockflöte bei. Und ist sich heute sicher, dass sie ein paar von den Jugendlichen seinerzeit vor dem Heim bewahrten. Die vier haben sich zwar ihre eigenen Jobs geschaffen, doch lukrativ sind sie nicht. Also gründen sie einen gemeinnützigen Verein: Domino-World e. V. Gemeinnützige Vereine bekommen Fördermittel.
27 Jahre später betreibt Domino-World in Berlin und Brandenburg sieben Sozialstationen, zwei Altenpflegeheime, ein Rehazentrum und zwei Day-Care-Center für Ältere. Allerdings ist Karnauchow der Einzige der Gründer, der noch aktiv ist als hauptamtlicher Vereinsvorstand.
Er spricht nicht gern von Zahlen, lieber von Ideen und Zielen. „Wir haben mit Jugendarbeit angefangen“, sagt er und lächelt. „Wir gingen in die Altenarbeit, weil uns klar geworden war, für Jugendarbeit gibt es nur Geld der öffentlichen Hand.“ Und das ist bekanntlich wenig. Altenarbeit aber bezahlen die Krankenkassen.
Um das Tagesgeschäft kümmert sich Petra Thees. Die promovierte Linguistin ist seit 17 Jahren dabei und kennt als Geschäftsführerin die Zahlen genau: Heute betreuen knapp 500 Mitarbeiter täglich 1200 Personen und erwirtschaften Gewinne, von denen viele in der Pflegebranche träumen: Bilanzsumme 29 Millionen Euro, Jahresumsatz 19 Millionen, Umsatzrendite seit mehr als zehn Jahren immer über zehn Prozent. Eine Eigenkapitalquote von über 60 Prozent, wobei sie im vergangenen Jahrzehnt meist bei 80 Prozent lag.
Als die Autoindustrie noch glänzte Psychologe Karnauchow ist auch nach knapp drei Jahrzehnten im Geschäft kein Betriebswirt. Lieber als von Umsätzen redet er von Ansätzen. Der Ansatz von Domino-World sei gerade in der Altenpflege ungewöhnlich. „Wir haben damals überlegt, dass wir, wenn wir erfolgreich sein wollen, nicht in der eigenen Branche Vorbilder suchen dürfen.“ Die Altenpflegebranche gelte ja nicht gerade als effektiv. „Wir wollten von den Besten lernen, also haben wir uns die Autoindustrie angeschaut. Die galt zu der Zeit als die effektivste.“ Domino-World setzte auf „ganzheitliche Kundenmanagementsysteme“ und übernahm Modelle wie die Balanced Scorecard. So wie die Autoindustrie die Herstellung eines Fahrzeugs in 1327 Einzelschritte aufteilte und an jedem Schritt tüftelte, zerlegten die Domino-Gründer die Altentherapie: 120 Prozesse gibt es, zum Beispiel Bewegung, Waschen oder Frühstücken, dazu kommen noch viele Unterprozesse. „Alles haben wir mit Kennzahlen unterlegt, einmal im Jahr werden die Abläufe verbessert.“ Die Grundidee hatte die Autoindustrie aus Japan übernommen. Dort heißt sie Kai-Sen, was etwa „das Gute verbessern“ bedeutet. „Wir haben diesen Prozess der kontinuierlichen Verbesserung gewählt, um immer wieder Qualitätsoptimierungen oder Kosteneinsparungen zu haben. Oder am besten beides gleichzeitig“, erklärt Karnauchow. Sein gemeinnütziger Verein ist nicht gewinnorientiert, das erwirtschaftete Geld wird für Investitionen oder zur Verbesserung von Abläufen genutzt. Und, so betont Petra Thees, für die Mitarbeiter: „Jeder hat sechs Tage interne Schulung im Jahr, dazu kommen externe Seminare. Wir legen großen Wert auf Weiterbildung.“ 2600 Euro pro Jahr und Mitarbeiter gibt der Verein dafür aus.
Die richtige Ansprache zu finden und stets den engen Kontakt zu Kunden und Mitarbeitern zu halten hat den Gründern von Domino-World auch bei der Expansion vor 20 Jahren geholfen. „Als die Mauer fiel, sind wir sofort rüber“, sagt Karnauchow. „Schon im Sommer 89 waren wir sicher, das wird ein gigantischer Markt für uns. Also waren wir die Allerersten, die in den Osten gegangen sind.“ 1990, die DDR war noch ein Staat, hätten sie sich „quasi undercover“ dort umgesehen, erinnert sich der 56-Jährige.
„Wir klingelten bei allen Stellen und sagten:,Guten Tag, wir würden gern das Sozialsystem kennenlernen.‘ Die haben vielleicht aeauckt.“ Süäter. als der Boom im Osten begann. hatte der Verein einen satten Vorsprung - und machte etwa bei der Übernahme des Pflegeheims Oranienburg das Rennen: „Die Mitarbeiter durften damals wählen, wer es übernehmen sollte. Es gab drei, vier Konkurrenten.
Die Belegschaft stimmte geradezu sozialistisch für uns. Wir bekamen ungefähr 97 Prozent der Stimmen.“ Eben weil er und seine Kollegen vorher oft vor Ort gewesen waren, viel mit dem Personal gesprochen und auch zugehört hatten. Die Wertechemie muss stimmen. Wenn Karnauchow über seinen Verein redet, fällt immer wieder der Satz: „Mitarbeiterführung kommt an allererster Stelle.“ Er sagt ihn im Ton tiefster Überzeugung, mit der Begeisterung eines Teenagers. Und fügt Sätze hinzu wie „Wir müssen die Mitarbeiter heiß machen“ oder „Sie sind das Herz des Unternehmens“. Deswegen investiere man viel Geld, Zeit und Kraft in sie. „Wir definieren uns als Wertegemeinschaft.“ 150 Prozent Leistung verlangen, aber nur Durchschnittsgehälter zahlen - ist es da nicht schwer, gute Mitarbeiter zu finden? „Nein, nein“, antwortet er ganz ruhig. „Junge Leute sind hochgradig werteorientiert.“ Die Wertechemie muss stimmen, Charakter und Einstellung. Die Techniken kann man sich aneignen.“ Seine Altenpfleger sollen aus Überzeugung handeln.
Der Verein, der strikt nach dem Qualitätsmanagement- System der European Foundation for Quality Management (EFQM) arbeitet, bekam vergangenes Jahr den Ludwig-Erhard-Preis für Unternehmensqualität von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und dem Bundeswirtschaftsministerium. Und das Fraunhofer-Institut prüfte die Einrichtungen des Vereins. Ergebnis: „Bei zwölf von 14 angewandten statistischen Messinstrumenten wurde belegt, dass es Patienten, die nach dem Domino-Coaching betreut wurden - unabhängig von Alter und Erkrankung -, signifikant besser ging als Patienten, die nach herkömmlichen Pflegestandards betreut wurden.“ Geschäftsführerin Thees: „Pflege in Deutschland ist eine Katastrophe. Dieses Land leistet sich ein hervorragendes Medizinsystem, aber in der Altenpflege wird nicht therapiert.“ Da ginge es oft nur um „satt und sauber“. Domino-World aber verlange von seinen Mitarbeitern, den Patienten Wertschätzung entgegenzubringen.
Um das zu gewährleisten, hat der Verein Domino-Coaching entwickelt und das Verfahren als Trademark schützen lassen.
Domino-Coaching bedeutet unter anderem: mit den Patienten reden, reden, reden. Sie motivieren. Mit ihnen Zielvereinbarungen treffen - und dann loslegen.
Fähigkeiten, die den alten Menschen verloren gegangen sind, sollen mit Ergotherapie, Bewegungsund Gedächtnistraining zurückgewonnen werden. Die Absicht dahinter ist, sie so selbstständig wie möglich zu machen. Für das tägliche Handeln im Unternehmen gibt es darum zehn Regeln wie „Glaube daran, dass jeder Mensch fähig ist, sich weiterzuentwickeln“ oder „Betrachte jeden Menschen prinzipiell als okay“. Patientenbefragungen haben hohe Rücklaufquoten:
93 Prozent der Befragten würden den Verein weiterempfehlen.
Stolz, Begeisterung, aber auch eine Prise Ironie sind zu hören, wenn Psychologe Karnauchow über den Erfolg des Kundenchampions Domino-World spricht: „Heute haben wir mit unserem Altenpflegemodell die Autoindustrie weit abgehängt.“ Und ein klein wenig klingt er dabei doch wie ein Betriebswirt.